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ОглавлениеAuf dem Flechtzaun vor dem Landhaus plusterte eine Krähe ihre Federn auf, hüpfte an das Ende des Gatters und erhob sich mit müdem Gekrächze in den Morgenhimmel. Sie vertraute sich dem Nordwind an, der sie in Richtung Stockholm davontrug. Der Schneefall hatte aufgehört, unter einem klaren Himmel schleuderte die aufgehende Sonne ihre purpurnen Lichtpfeile in den Solnaer Forst. Lilljehorn lehnte am Zaun. Hinter ihm dampften die Rösser aus schwarzen Nüstern. Knechte zwangen sie ins Geschirr. Auf den Wipfeln der Baumriesen vor ihm sammelten flaumige Matten aus Schnee das Glutfeuer des ersten Lichts und warfen es auf rissige Stämme und den schweigenden Waldgrund, unter dem die Fährten des Wildes und die Wege der wenigen Menschen nur zu erahnen waren.
Klarheit und Frische durchdrangen den Oberstleutnant Lilljehorn. Carlotta hatte ihr Spiel mit ihm getrieben. Ribbings Arm um ihre Taille, die schroffe Zurückweisung seiner Orange, das Stampfen ihrer Füße auf den Holzbrettern, als sie mit ihm durch die Reihen tanzte. Qual und Beklemmung für seinen seichten Schlaf. Wie ihn ihr süßes Lächeln verfolgte. Schloss er die Augen, verschwand der Wald, verstummten die Rufe der Rossknechte. Nur ihre grünen Augen ruhten auf ihm, rätselhaft und grausam.
Er spürte eine Hand auf seiner Schulter, den leichten Schlag eines Kameraden. »Mon cher Colonel, sind Sie nicht wohl? Natürlich sind Sie krank. Sie versinken im Leiden.« Vor ihm stand Monvel, kleiner als am Abend auf der Bühne, ohne Rouge auf den Wangen, ernster und gealtert. »Wissen Sie, die Liebe hat schon Städte zerstört und glückliche Könige. Denken Sie an Troja, an Lucretia – formidable Stoffe übrigens. Gestern beim Tanz haben Sie sich an die Unendlichkeit verloren, ich habe es wohl gesehen, heute verfinstert Verdruss Ihre Stirn – kann man das auf Schwedisch so sagen?«
»Herr Monvel, ich bitte Sie …!«
»Natürlich, pardonnez-moi ma témérité. Würden Sie mir wohl die Ehre erweisen, an meinem Frühstückstisch Platz zu nehmen?«
Monvel schob und zog Lilljehorn in den Gasthof, der kleine Schauspieler den hünenhaften Leibgardisten, und der wappnete sich gegen allzu viel Vertraulichkeit. Der Theaterprinzipal bediente selbst mit der Leichtigkeit eines Höflings aus Versailles. Der Speisesaal war noch leer, vom Obergeschoss hörte man die Dienstboten mit ihren Waschschüsseln und vorgewärmten Handtüchern. »Keine Sorge, mon Colonel, Madame de Geer wird für ihre Toilette noch recht viel Zeit brauchen. Sie sind Soldat, erlauben Sie mir also ein offenes Wort, auch wenn Sie mich dafür hassen mögen. Madame de Geer verdient Sie nicht. Bitte springen Sie nicht gleich auf! Jetzt möchten Sie tot sein, empfindungslos im hintersten Winkel eines Friedhofs begraben liegen. Aber diese Tragödien sollen sich nur auf der Bühne oder in Erzählungen deutscher Poeten ereignen. Halten wir das kurze Leben frei davon!«
Lilljehorn bemühte sich um Haltung. Konnte man das fassen? Lebensmaximen eines Komödianten? Aber die Bitterkeit in der Stimme des Fremden hielt ihn am Tisch fest. »Herr Monvel, die Situation, in der ich mich befinde, denke ich, ist nur mir allein offenbar. Was den Charakter von Madame de Geer anbelangt …«
»Über alle Zweifel erhaben, wollten Sie sagen? Wechseln wir das Thema. Wissen Sie, warum meine Kompagnie und ich Schweden verlassen? Das hat mit Ihrem König, Madame de Geer und auch mit Ihnen selbst zu tun, ohne dass es Ihnen bewusst ist. Ja, Ihr geliebter Landesherr erpresst von seinen Untertanen den letzten Taler, um Kriege zu führen und um zu spielen. Ein schwedisches Nationaltheater, so rein und vollkommen, das sich mit unserem, verzeihen Sie die kleine, wie sagt man, Schmeichelei, messen kann. Ein herrlicher, erhabener Plan, der mich von Paris hierhergelockt hat. Ach, Paris, wenn wir von Paris sprechen, dann sprechen wir von einem Traum, nicht von einer Stadt. Wenn Sie es nur jemals im Frühling erlebt hätten. Das Geflüster der Paare abends in den Lauben, die Jasmindüfte, die wir so liebten, weil wir von ihrer Vergänglichkeit wussten, das flirrende Licht aus den großen Palais. Überall eine Ahnung von Spiel und Liebe. Wir waren große Kinder damals, und unsere Perücken nahmen uns das Alter, zeitlos verlebten wir unsere Tage. Auf all das habe ich verzichtet, um in ein Land zu kommen, in dem man gerade die ersten Opern zusammenflickte, vor dessen Hauptstadt noch Wölfe streunten. Einerlei – ich habe es nicht bereut, solang der Esprit Ihres Königs dieses Eiland der Finsternis erhellt hat. Seine Stücke waren geistreich, mit Verstand ordnete er den Stoff des Lebens. Die drei Einheiten von Zeit, Ort und Handlung, wie sie unser großer Corneille forderte, gaben dem Leben Ordnung und machten aus Ordnung Kunst. Dass da jemand war, der das Chaos des Lebens durch die kristallene Schönheit der Form sah, ließ mich die elende Bühnenmaschinerie, die stotternden Schauspieler und die Misstöne eines Orchesters vergessen, dessen beste Mitglieder man aus Militärmusikkapellen rekrutiert hatte. Dieser kurze Lichtstrahl war die Mühe wert. Der König, Madame de Geer und ich gehören dieser alten Zeit an. Das Sentiment ist für uns Teil einer Szene in einem Stück, das den höheren Gesetzen der Schönheit und Vernunft dient.«
Der Schauspieler führte seine Tasse an den Mund, streckte dabei seinen kleinen Finger grazil nach oben. »Sie hingegen sind Bürger einer neuen Welt, in der Empfindsamkeit über die Form siegt. Sie werden es noch erleben, dass man die Qualität eines Stücks nach der Gunst des Pöbels misst, nach dem, was dieses Untier fühlt. In Ihrer neuen Zeit ersetzt man das Lächeln durch das Geheul, man glaubt auf einmal an hohe Begriffe. In Ihrer neuen, schönen Zeit wird man sich einbilden, Ehen aus dem Gefühl heraus schließen zu müssen. In den Baumhütten der Wilden erkennt man jetzt eher den Bauplan des göttlichen Willens als im Kosmos des Gartens von Versailles. Ja, Versailles. Dort haben wir einen Brunnen, der Göttin Latona geweiht. Sie steht in der Mitte, rings um sie recken sich ihr Mischwesen entgegen, teilweise noch Mensch, dann schon Kröte. Doch sie werden das erhabene Podest der Göttin nie erreichen können. Die Sage weiß, dass es einst Bauern gewesen waren, die aus purem Neid der Göttin und Mutter Wasser verwehrten. Sie wurden zur Strafe in niedriges Getier verwandelt. Geblieben ist ihnen ihr schmähsüchtiges Gequake – das Leben müssen sie nun im Morast verbringen. Doch der Bann der Göttin ist gebrochen. Diese Frösche steigen nun unaufhaltsam aus dem Dickicht des Schilfs ans Licht, ein unzählbares, gleichförmig kriechendes Scheusal. Einzeln schwächlich, als Masse unbezwingbar. Ich fürchte, lieber Lilljehorn, Ihr König ist ebenso wenig wie meiner imstande, diese Ausgeburten zurückzudrängen. Der Zorn von Königen ist zu schwach gegenüber dem Gezeter von Freiheit, Gleichheit und Nation.
Ich war Theaterprinzipal, König der Bühne. Jeder Seufzer, jeder Schritt, jede Verbeugung meine Creation. Aber meine Kompagnie existiert nicht mehr. Sie ist ebenso zerrissen zwischen alter und neuer Zeit wie unsere ganze Welt. Gestern habe ich einen unserer »Modernen«, im Übrigen ein unbedeutender Statist, geohrfeigt. Noch hat die Mehrheit gelacht und stand auf meiner Seite. Aber es werden sich andere erheben und seine Stelle einnehmen. Deswegen danke ich ab, führe meine Truppe aus Schweden und löse sie auf. Ab jetzt werden sich die Tragödien im Leben ereignen, unser Versuch als Künstler, sie aus dem Leben auf die Bühne zu verbannen, ist gründlich fehlgeschlagen. Sie sind ein Mann von Charakter, vielleicht gelingt es Ihnen, mit Ihren Tugenden, die ich nicht mehr verstehe, größeres Unheil unter diesen neuen Helden zu bannen. Aber vergessen Sie Madame de Geer und seien Sie ihr nicht gram!«
Monvel erhob sich unvermittelt und verbeugte sich vor Ribbing und Carlotta. Arm in Arm, er stolz, sie glockenhell lachend, standen sie vor Lilljehorn. »Lieber Oberstleutnant, können Sie mir verzeihen, dass ich mich gestern Abend nicht von Ihnen verabschiedet habe? Aber die aufregenden Szenen beim Tanz brachten mich wohl ein wenig aus dem Takt.«
Lilljehorn blickte Monvel an und hatte verstanden.