Читать книгу Unter Masken - Ludwig Fladerer - Страница 6
PROLOG
ОглавлениеNur zu gut kannte er die trügerische Wärme des Schnees. Auch diesmal überwand er die Versuchung, in der Mulde hinter der Birke liegen zu bleiben, und stemmte sich gegen die Decke aus weißem Pulver. Die Kälte drang mit derartiger Wucht in seine Glieder, dass er selbst nun nichts anderes mehr war als eben diese große, erhabene Qual. Erst der zarte Fall der Kristalle auf den schneebedeckten Boden, den er vernahm wie den Klang von etwas anderem, das nicht Schmerz war, gab ihm die Kraft, sich ganz aufzurichten. Nun trieb ihn der Hunger, einen Fuß vor den anderen zu setzen. Schritt auf Schritt, so langsam, dass er Angst hätte haben müssen, von den anderen verspottet und angegriffen zu werden, wenn er sich ihres tiefen Schlafes nicht sicher gewesen wäre. Satt und für einige Stunden noch harmlos, ruhten sie unweit des Weges – den Jägern der Fremdlinge zum Spott.
Der Hunger führte ihn, überlagerte das Stechen in Lunge und Gliedern und setzte ihn in Trab. Der Nebel über dem zugefrorenen See würde ihn den Blicken seiner Opfer entziehen, aber trug ihn die Eisdecke? Nach einem warmen Herbst hatten zwar Schnee und Kälte die Herrschaft angetreten, aber die Speichen des großen Sonnenrades warfen immer wieder Wärme auf das Eis. Milchig und verheißungsvoll lockte es ihn, in das Nichts zu gehen. Dorthin, wo er seinen geschundenen Körper nicht mehr spürte. In seiner Jugend – wie herrlich waren da die Kämpfe. Vor seinem klaren Blick hatten alle Respekt gezeigt. Sie senkten die Häupter, wenn er in ihre Mitte trat. Immer war er der schnellste, entschlossenste, wenn es galt, die Schwächen des Gegners zu erkennen, ihm den Fluchtweg abzusperren. In den Nächten der Großen Helle rief er sein Gefolge zusammen, da sangen sie, tanzten sie, ließen himmelhoch ihre Rufe ertönen, die sie eins machten mit der Bläue, an der die Große Helle mild über ihnen hing. Keiner hatte damals gedacht, geplant oder die Vorsicht der Kümmerlinge gezeigt: Alle vereint ergaben sie sich der Macht des Himmels, wenn sie ins Unbekannte liefen, über knotige Wurzeln des Sommerbodens oder das schorfige Eis langer Nächte. Sie flogen dahin, bis Himmel und Erde eins wurden.
Damals war er ihr strahlender Held – jetzt Einsamkeit, banges Spähen nach Opfern, die noch hilfloser waren als er, deren ängstliche Ausdünstung allein sie gerettet hatte, denn sie waren es nicht wert, seine Gegner zu heißen.
Das Revier, in dem er sich noch behaupten konnte, lag am Fuße einer sich weit nach Norden ziehenden Bergflanke, die zur Weite im Osten hin die Grenze bildete. Sein ehemaliges Gefolge hatte sich ohne ihn nie über diesen Bergkamm hinausgewagt. Er war es gewesen, der vor vielen Jahreskreisen einmal den Übergang erzwungen hatte – zu ihrem und seinem Verderben.
Ein hartes Knacken hinter ihm riss ihn aus seinen Träumen. Flach duckte er sich in die nächste Mulde, die noch warm war von etwas Feuchtem. Es roch nach dem Fremden, dem er immer öfter begegnete. Er spähte über den Rand der Vertiefung. Das gelbe Augenpaar eines Luchses, der sich für den Moment eines Herzschlags ihm zuwandte, ehe er in die Wälder des Berghanges eintauchte, warnte ihn: Er war nicht allein. Würde er nicht bald zu Nahrung kommen, könnte ihn sein Gefolge ausmachen – hungrig, jung und ohne Gnade.
Um den See herum war der Schnee niedergetrampelt, vom Geruch der Fremdlinge durchtränkt – sein Gefolge mied diesen Weg, wie er selbst ihn in Zeiten des Glücks gemieden hatte. Doch jetzt trugen ihn dort seine Beine leichter. Im Licht der Großen Helle, das sich nun durch den Nebel gekämpft hatte, lagen die Schatten der Bäume als Zuflucht auf dem weißen Boden. Wenn er den Saum des Waldrandes entlangpirschte, konnte er in dieser Dunkelheit Atem holen und Kraft gewinnen. Im Gehen schmerzte die Lunge mehr und mehr, wie weit konnte man das Rasseln seines Atems wohl hören? Fremde Spuren waren durch den Schnee der letzten Tage unsichtbar, nur die Schatten boten Gewissheit. Bei den drei Birken verließ der Weg das Seeufer und wand sich in sanfter Krümmung eine Anhöhe empor, die er bis jetzt immer umgangen hatte. Dort oben musste der Schrei eines Hähers oder des hier nistenden Adlers jede Hoffnung ersticken, unentdeckt zu bleiben. Die Winternacht war freilich unendlich lang, von den Vögeln noch nichts zu befürchten. Hinter der Anhöhe schimmerte etwas, von dem er wusste, dass es nicht vom Himmel kam, etwas Neues, das ihn nach oben zog. Die Beine, schon gefühllos bis zu den Knien, gehorchten nicht mehr ihm. Sie hatten sich dieser hellen Verheißung ergeben: Nahrung oder Tod durch die Fremdlinge, deren Leben einem Gesetz gehorchte, das weder er noch sein Gefolge je verstanden hatte.
Den Blick dem Licht zugewandt, bemerkte er nicht, wie das Blut aus seiner Lunge den Weg sprenkelte und in erkalteten Klumpen liegen blieb – willkommene Fährte sogar für den Schwächsten unter seinen Verfolgern. Er bog um die letzte Hecke, die das Licht der Fremdlinge noch kurz abschirmte, und stand dann vor einem kristallenen Palast, vor einer Wand aus Karfunkeln, hinter der unzählige kleine Sonnen ihre Strahlen auf eine gläserne Fläche warfen. So schön wie der Eispalast seines großen Ahnen, in dem seine Seele aufgenommen sein würde.
Der Mann wartet im Schatten einer Tanne. Die Kälte tut nichts zur Sache. Sie hält ihn wach, denn er muss denken, immerzu denken. Den schweren Pelzmantel hat er noch von seinem Vater, der ihn nur selten trug. Über seine Bücher gebeugt, in der überheizten Bibliothek brauchte er ihn ebenso wenig wie die Büchse, die der Alte gerade ihm, dem missliebigsten seiner Söhne, vererbt hatte. Er trägt die Waffe heute offen und frei – die Diener des Hofes müssen ihn so für einen Jäger halten, wenn sie ihn hier aufspüren. Doch das ist auszuschließen, denn von seinem Spitzel weiß er zuverlässig, dass man allen Lakaien und Wächtern in dieser Nacht Urlaub gewährt hat. Immer wieder war er hierhergeschlichen, sorgsam bemüht, seine Fährte zu verwischen. Er musste den passenden Abstand finden zu dem anderen, für den die Kugel schon geschmiedet war. Die Distanz, der richtige Winkel, der Stand des Mondes – alles war genau zu bedenken, immer wieder zu bedenken. Und noch nie haben sie ihn entdeckt.
Er, ein Jäger – wie absurd. Unendlich langweilig war ihm stets das Geprahle seiner Standesgenossen über Bären und Wölfe gewesen, die sie auf ihren Gütern erlegt haben wollten. Andererseits – Wolfsjagd trifft ja auch zu. Er hetzt die Bestie hinter den hohen Glasfenstern des Schlosses, den Schwächling mit dem ewigen Lächeln und dem hinkenden Gang, der zum Sterben verurteilt ist, da er ihm alles genommen hat.
Ein Geräusch im Unterholz lässt ihn herumfahren. Seine Augen, noch geblendet vom Licht aus dem Schloss, müssen sich erst an die Finsternis gewöhnen, aber er weiß auch so, dass sich der alte Wolf auf die Lichtung gewagt hat. Oft sah er ihn auf seinen Streifzügen, wenn er mit gesenktem Schweif den Waldsaum wie ein geprügelter Hund entlangschlich. Das räudige Vieh kreuzt seine Wege, es muss weg. Er legt an, ein Schuss kracht. Der Mann zieht sich in den Wald zurück. In der Nacht war nichts geworden, aber immerhin – ein Schädling der Menschheit weniger.
Polizeiminister Sivers schloss seine in blaues Leder gebundene Mappe. Er hatte seinen Vortrag über die Sicherheitslage in den einzelnen Vierteln von Stockholm beendet, aber wie so oft hier draußen auf Schloss Haga kein Gehör beim König gefunden. Ohne Diener oder Höflinge um sich zu dulden, saß Gustav III., der König der Schweden, Goten und Finnen, allein vor der gläsernen Veranda des Palasts am Brunnsviken und starrte in die Winternacht.
»Sire, Sie werden sich erkälten. Möchten Sie eine Decke?«
Der König antwortete nichts. Sivers erhob sich und kontrollierte, ob die Glasfenster auch fest verriegelt waren. Da fiel der Schuss.
»Sivers, Sie haben doch auch den Schuss gehört. Sollten Sie nicht um mein Leben besorgt sein?«
»Majestät, meine Polizeidiener halten Wache rund um den Palast und auf der Straße nach Stockholm. Man wird den alten Wolf erschossen haben, der sich hier herumtreibt.«
»Mein treuer Freund, wissen Sie denn nicht, dass wir heute ihren Leuten Urlaub gewährt haben. Mögen sie sich ruhig in der Stadt amüsieren. Nur wir beide sind hier – den Schützen da draußen kennen wir nicht. Mir scheint, der Vorhang hebt sich zu einem kurzweiligen Spiel.«
Der Polizeiminister wusste das Lächeln seines Herrn zu deuten. Keine Worte mehr, er verbeugte sich und ging ab.
Tagebucheintrag des Ersten Kammerherrn Hans von Essen
Mein Bericht muss heute kürzer ausfallen: Ich befinde mich äußerst unwohl, leide an Kopfschmerzen und Gliederreißen. Die lässige Adjustierung der Pagen wird mir immer mehr zur Last: Gerade an der Haupttreppe, auf welcher der König die Conduite der Jünglinge genauestens zu beachten pflegt, entdeckte ich gestern vor dem Diner abgerissene Knöpfe und mehrfach eine unzulässige Erweiterung der offiziellen Hoftracht mit französischen Seidenbändern in den unmöglichsten Farben. Natürlich war auch das modische Blau-Weiß-Rot der französischen Trikolore darunter. Mein Donnerwetter muss man von der Stiege bis hinunter in die Wache der Leibgardisten gehört haben. Jedenfalls wurde ich von den dummen Kerls aus den vornehmsten Häusern Schwedens länger auf der Treppe aufgehalten als mir lieb. Sie zieht die Luft von draußen in die erste Etage des Schlosses hinein, beinahe wie der Blasebalg der Orgel in der Tyska Kirkan – der Eishauch machte mir gleich zu schaffen.
Um sieben Uhr das Diner in kleinerem Service. Anwesende Mitglieder der königlichen Familie waren die Brüder seiner Majestät, die Herzöge Carl mit Gattin Hedvig Elisabeth und Herzog Frederik. Anwesende von Stand waren der Gesandte des Königreichs Neapel, dann Graf Gustav Mauritz Armfelt, Elis Schröderheim, Graf Axel von Fersen und Oberst Munck. Bereits nach dem Karpfen in Schwarzer Sauce befiel mich Schwindel, vom Hühnerfrikassee konnte ich nichts mehr zu mir nehmen. Der König schien von meiner Unpässlichkeit nichts bemerkt zu haben und zeigte sich in alter Frische. Als er mich mit seinen großen, klaren Augen anblickte, schämte ich mich meines Unwohlseins und dachte an das Wort des Beaumarchais: »Die Schweden werden seiner Weisheit und überlegenen Vernunft immer folgen.« Ach, wäre es nur so! Polizeimeister Sivers macht derzeit dunkle Andeutungen über eine bevorstehende Revolte in Adel und Offizierskorps. Er lässt aber niemanden von uns in seine Karten schauen. Der König selbst zeigte sich gestern davon völlig unbeeindruckt. Ihn beschäftigte nur die Lage in Frankreich, denn er ließ die Depesche unseres Gesandten in Paris, Baron Staël-Holstein, zwei Mal während des Diners rezitieren. Vielleicht hatte ich auch deshalb keinen Appetit auf das Frikassee, denn alles deutet darauf hin, dass man sich in Frankreich nicht mehr um die erst wenige Monate alte Verfassung schert. Wirrköpfe und schöngeistige Träumer arbeiten den Machtmenschen entgegen. Das Leben von König Ludwig ist weniger wert als das Papier, auf dem man dort die Gesetze schreibt. »Was heute in den Straßen von Paris zählt«, so schloss der Bericht, »sind die Gefühle der Menge, die sich durch die Flucht des Königs und der Königin nach Varennes verletzt sieht.«
Nach dem Vortrag stockte die Konversation. Graf Fersen, dem der König die Planung der gescheiterten Fahrt nach Varennes anvertraut hatte, sah man an, dass er am liebsten aufgesprungen wäre. Herzog Frederik lächelte süffisant, jeder weiß, dass er nach seiner gescheiterten Werbung um die Schwester des Grafen mit den Fersens noch eine Rechnung zu begleichen hat. Das Gesicht unseres edlen Monarchen war gerötet, als er sagte: »Marie-Antoinette, welch kluge und tolerante Königin, die Schönheit und Inspiration als das Wesentliche der condition humaine erkannt hat!«
Niemandem fiel nun eine passende Erwiderung ein. Da erhob sich der Gesandte des Königreichs Neapel: »Ein herrliches Bonmot, Sire, aber bedenken Sie, dass Sie es waren, der den Olymp von Geist und Geschmack in Stockholm errichtet hat!«
Der Einfaltspinsel hatte wohl zu dick aufgetragen, der König sank in seinen Stuhl zurück, die Farbe war ihm gänzlich aus dem Antlitz gewichen, sein Mundwinkel zuckte. Die Szene war mehr als peinlich, hatte sich der Gesandte doch eine anerkennende Replik erwartet. Graf Armfelt, geistesgegenwärtig wie immer, erhob sich: »Ein Toast auf die Königin Marie-Antoinette und zum Teufel mit den Philosophen. Sie sprechen über Toleranz und sind doch intoleranter als ein ganzes Kardinalskollegium!«
Der König fasste sich wieder oder, besser gesagt, spielte den charmanten Gastgeber, aber niemand konnte seine Angst übersehen, die Angst um das Leben von Königen.
Ich muss jetzt abbrechen. Lundgren meldet mir gerade den Doktor Salomon. Aber das Wichtigste, Schönste muss ich noch festhalten. Der König nahm mich knapp vor dem Aufbruch beiseite: »Seien Sie Schwede, Essen, überwinden Sie wie der alte Gustav die Widerstände, die sich Ihnen in den Weg stellen. In Ihrem Fall denke ich an die Eroberung der charmanten Gräfin Carlotta de Geer – unseren Segen haben Sie!«