Читать книгу Unter Masken - Ludwig Fladerer - Страница 9
3
ОглавлениеDer Wirt geleitete Lilljehorn mit seinen beiden Weggefährten am langen Tanzsaal vorbei ins Speisezimmer. Dort waren im dichten Tabaksqualm die Anwesenden mehr zu erahnen, als zu erkennen. Es musste sich aber um eine gemischte Gesellschaft handeln, was Lilljehorn verwunderte. Carlotta, die ihre Toilette in Ordnung bringen wollte, erhielt ein Gemach über einer rußschwarzen Holztreppe, die vom Foyer ins Obergeschoss führte. Den Menüvorschlag des Wirtes hatte sie entrüstet abgelehnt und sich einsilbig zurückgezogen. In der fahlen Mittagssonne tanzte der Staub und hob sich zur schweren Holzdecke. Ein zu hoch gehängtes Gemälde wurde nur von Lilljehorn beachtet. Waren das Trauben, der nackte Wanst eines Bacchus oder ein im klebrigen Fettdunst der Speisen unkenntlich gewordenes Interieur?
Der Hasenbraten schmeckte den beiden Männern gut, vom Wein sagte der Wirt, mit der Zunge schnalzend, er käme aus Frankreich. Zwischen gebratenen Keulen, Rosmarinkartoffeln und gedünstetem Kraut verebbte das Gespräch und kam nach der ersten Karaffe Wein vollends zum Erliegen. Wie sehr wünschte sich Lilljehorn nun, sein Exemplar des Werther bei sich zu haben, denn vielleicht hätte er in einem stillen Winkel trotz der bleiernen Müdigkeit nach den Aufregungen der Schlittenfahrt eine Seite übertragen. Er war jetzt beim Abschnitt über die Terzerolen Alberts in Werthers Erzählung über den »regnichten« Nachmittag angelangt. Aber welches Wort könnte das altertümliche »regnicht« im Schwedischen wohl am besten wiedergeben? Warum hatte der Text zudem »Terzerolen« und nicht Pistolen? Albert erzählte in dem Kapitel von einem Bedienten, der ungeschickt mit geladenen Pistolen hantierte und seinem Mädchen den Ladestock durch den Daumen schoss. Der kluge Albert – nun lädt er seine Pistolen nie mehr. Musste Werther ob dieser Vernünftelei nicht rasend werden, sich die Mündung über das Auge halten und Selbstmord spielen? Wie würde wohl Ribbing reagieren, wenn er dessen abgeschossene Pistolen an sich nähme, die Holztreppe hinaufschliche, um vor Carlotta den eigenen Tod zu markieren? Die selbstsichere, sarkastische Carlotta.
Ribbing war aus dem Speisezimmer verschwunden, er hatte ihn nicht weggehen gehört. Anstelle des Tabletts mit dem Braten lag ein mit silbernen Buckeln verziertes Halfter auf dem Tisch, darin steckte eine Pistole. Lilljehorn barg sie unter seiner Weste. Aufrecht im Zimmer stehend, hatte er nun an der gegenüberliegenden Wand das Gemälde vor sich. Dort war jetzt deutlich ein Jüngling zu erkennen, neben ihm ein umgestürzter Sessel, die Einrichtung nach altdeutscher Art. Er öffnete die Tür zum Tanzsaal. Der Tabakrauch hatte sich verzogen, Gäste in schwarzer Tracht saßen starr auf ihren Bänken, ohne von ihm die geringste Notiz zu nehmen. Unbemerkt verließ er den Saal und gelangte endlich zur Treppe. Als er seinen Fuß auf die unterste Stufe setzte, fühlte sie sich kalt wie Marmor an und knarrte nicht. Nun lichtete sich das Obergeschoss zu einem frühlingsblauen Himmel. Er atmete freiere Luft. Ein Lindenbaum reckte seine Äste Carlottas Gemach entgegen, vor dem kühles Wasser in einen steinernen Brunnen strömte. Er stieß die Tür auf, vor ihm stand Lottchen, weinend, mit einem Brief in der Hand. Er hielt sich lächelnd die Mündung der Pistole über das rechte Auge und drückte ab. Zu abertausend Farben explodierte in seinem Kopf das Feuer aus dem Lauf der Waffe.
Lilljehorn fühlte eine schwere Hand an seiner Schulter. Er starrte in die Weinkaraffe, deren Glas das schräg einfallende Abendlicht in den Farben des Regenbogens auf die blank polierte Tischfläche warf. Dann hörte er Ribbing: »Nun sind Sie ja endlich erwacht. Wollen sich Herr Oberstleutnant nach den Strapazen des Mittagsmahles vielleicht für die Battaglia am Tanzparkett bereitmachen? Der Wirt hat Ihnen ein Zimmer überlassen. Der Contredance soll um sieben beginnen.«