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Auf der engen Straße vor dem Kirchhof drängte sich schon das Volk. Immer noch hielt er die Zeichnung aufgefaltet. Als sich ein fettes Mondgesicht grinsend über seine Schulter beugte, steckte er das Blatt zerknüllt in seine Brusttasche. Auf dem Rückweg zur Kommandantur brannte das Papier wie eine fiebrige Wunde direkt am Herzen. Wohin nur damit? Einem subalternen Polizeidiener wollte er sich nicht anvertrauen. Außerdem, der Dienstweg – bedeutete das nicht von Amtsstube zu Amtsstube ein ständig lauter werdendes Getuschel, zuerst ein böses Kichern hinter vorgehaltener Hand, dann: »Haben Sie das schon gesehen, Herr Kollege, degoutant, aber …«, schließlich: »Wer weiß, vielleicht hat Munck doch einen Kuckuck in das königliche Nest gelegt.« Türen fliegen auf, gehen zu, »der Zettel, unverschämt, aber die Ähnlichkeit des Thronfolgers mit Munck, man kann sagen, was man will, besonders der Nasenrücken.« So würde man wohl reden. Und Sivers selbst? Der kannte vermutlich schon jeden Federstrich, würde nicht einmal einen neuen Akt anlegen.

Seine Stube zog ihn nicht an. Mit der Fistelstimme des Pastors und der Schundzeichnung im Kopf wollte er Werthers Vorbereitungen zum Tod nicht entweihen. Als ihm vor dem Slottsbacken ein Wachsoldat mit vorschriftswidrig langer Säbelkordel entgegenkam, schnauzte er ihn an.

Die Kinder hatten sich verdrückt, die Maronenröster spähten nach spärlichen Kunden. Ein vom Unrat der Stadt fleckig gewordener Neuschnee machte die Straßen zum Riddarhuset gefährlich glatt. Die Menschen gingen vornübergebeugt die Häuserzeilen entlang, tasteten nach den Mauersimsen. Am Myntgatan gab es kein Weiterkommen. Eine Landwehrkompanie aus Finnland sperrte den Zugang zur Norrmalmbrücke. Lilljehorn fand sich unversehens zwischen Fußgängern, fluchenden Kutschern und nervösen Pferden eingekeilt. An ein Ausweichen war nicht mehr zu denken. Und dann spürte er den Geruch des Hasses, der von all diesen auf ihr Weiterkommen bedachten Menschen aufstieg. Rotwangig waren sie, ein kräftiges, unversöhnliches Geschlecht.

Vor ihm kam Bewegung in die Gruppe. Arme flogen in die Luft, die Masse setzte zurück, von den Kolbenstößen der Soldaten verscheucht. Der Blick auf die Straße war nun frei. Von aufgepflanzten Bajonetten flankiert, stolperte ein Haufen zerlumpter Gestalten zur Schiffsanlegestelle am Strandsvägen. An den Füßen trugen sie zu grotesken Bündeln zusammengeflickte Stofffetzen. Was ihnen vom Leib hing, war einst Uniform gewesen. Graue Lappen. Die Menge um Lilljehorn war zum Stehen gekommen, ein großes Tier, das Atem holte, bevor es seinen Fang schlug, ein trotz Kälte und Hieben unbesiegbares Monstrum. Ein Schrei erhob sich, schwebte über den Augen und Mündern der Gaffer, bevor er sich auf ihnen niederließ, um hundertfach wiederholt und verstärkt zu einem einzigen tödlichen Vorwurf zu werden: Russen. Jemand hinter ihm spie in Richtung der Gefangenen, der Geifer streifte seine Wange. Russen, immer wieder Russen. Aus den Augenwinkeln heraus sah Lilljehorn, wie sich Burschen am Rand der eingepferchten Menge bemühten, das Pflaster der Straße aufzureißen. Einen Augenblick später prasselten Steine sirrend auf den Weg, den die Gefangenen zu nehmen hatten. Die Begleitmannschaft trieb die Russen zu einer schnelleren Gangart. Wenn die Menge in einstimmigem Jubel aufheulte, blieb einer von ihnen liegen. Kein Soldat wagte es, den Gestrauchelten die Ketten abzunehmen oder ihnen auf die Beine zu helfen.

Schon war der Zug außer Reichweite der Geschosse, als sich eine schmale Gasse auftat. Eine Gruppe schwedischer Offiziere umringte einen einzelnen Gefangenen, der sie um Haupteslänge überragte. Er trug Vollbart wie einer, der wochenlang seinen Kerker nicht verlassen hatte. Anders als die Fremden suchte er den Blick der Menge und fand ihn. Die Schreie verstummten, mancher Stein glitt ungeworfen zu Boden. Der Gefangene hob die geketteten Hände zum Gruß empor. Seine Lippen formten ein Wort, zuerst nur ein Krächzen nach den Tagen des Schweigens, dann schon lauter und immer wieder: Freiheit. Das Jagdfieber der Menge war erloschen. Eine dicke Fischhändlerin schluchzte als Erste. Fäuste ballten sich, Hüte flogen, in verzücktem Crescendo stimmten sie alle ein in den Ruf nach Freiheit. Der Bärtige rührte sich nicht von der Stelle, in der Haltung des Siegers nahm er die Ovationen der Empörung entgegen. Als die jüngeren unter den Offizieren ihre Gewehre schon senken und die ersten Schritte der Verbrüderung tun wollten, befahl der Kommandant eine Salve über die Köpfe der Menge. Unversehens löste sich das große Tier auf, zerfiel in Beamte, Mägde, Kanzleidiener, Kontoristen. Der Spuk war vorbei. Der Bärtige hatte sein Publikum verloren. Lilljehorn kannte ihn wohl. Es war Oberst Hästesko, der im russischen Krieg mit 112 anderen Offizieren Friedensverhandlungen mit der Zarin aufgenommen hatte. Für den Hof war das Hochverrat. Auf ihn wartete der Galgen im Hammarbysbacken. Alle anderen hatte Gustav begnadigt, nachdem sich der Hauptschuldige Jägerhorn rechtzeitig über den Kymmen nach Russland abgesetzt hatte. Hästesko blieben noch zwei Stunden.

In seinem Quartier wartete Fritz schon auf die Orders für das Mittagessen. Nein, allein speisen wollte er heute nicht. War er nicht bei Horn immer willkommen? Den Waffenrock und die Zeichnung legte er nicht ab, Fritz bekam nur die Stiefel zum Putzen. Wie gut kannte er seinen Burschen? Sicher, er liebte den Dienst in der Armee, aber hätte er nicht mit der gleichen Ergebenheit bei Russen, Preußen, Österreichern gedient? War er das Volk? Konnte er lieben? Empfand er überhaupt? »Fritz, du bist doch Deutscher. Warum sehe ich dich nie in eurer Kirche? Ich habe heute euren Pastor gehört.«

Fritz erhob sich schwerfällig: »Herr Oberst, gehorsamst, ein Mädchen, die Britta aus der Badstubenstraße, Sie wissen. Die Britta steht in Diensten des alten Horn, der mit seinem Gesinde vor ein paar Tagen auf seinen Landsitz abgereist ist.« Er schwieg. »Herr Oberst, das ist es doch nicht. Sie waren immer gut zu mir, aber ich gehe nun schon auf die fünfzig zu. Die Britta ist jünger und ein prächtiges Weib. Unsereiner kann sie nicht zur Frau nehmen, solange man dient. Da wird mir oft ganz eigen im Kopf, wie es in unserer Welt eingerichtet ist. Mit der Britta könnte ich zu Hause in Pommern einen Hof bewirtschaften. Die Erde ist dort schwarz und üppig. Und der gelbe Raps im Sommer, so was haben Sie noch nie gesehen, Herr Oberst.«

Noch nie hatte Fritz so lange zu ihm gesprochen. »Nun ja, der Pastor«, fuhr er fort, »sagt, an Wunder braucht man nicht zu glauben, der Herr Jesus bringt uns das Sittengesetz bei, das nur einmal in den Schädel müsste, das genügt dann schon. Mir und Britta hat’s nicht genügt, seitdem geh ich nicht mehr zu den Lutheranern.« Dann: »Was nutzt das Sittengesetz uns Habenichtsen? Was ist das für eine Kirch ohne Wunder?«

Am liebsten hätte Lilljehorn Fritz umarmt, aber er brachte nur heraus: »Fritz, guter Mann, kann jetzt abtreten. Ausgang bis morgen!«

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