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Curriculum Vitae Jens Mander
ОглавлениеJens Mander wurde im Januar Vierundfünfzig in einer bayerischen Kleinstadt geboren. Etwa zwei Jahre nach seiner Geburt beging seine Mutter Selbstmord. Ein Selbstmord, den Jens Zeit seines Lebens anzweifelte.
Sein Vater, ein notorischer Kleinkrimineller gab ihn zur Adoption durch seine Großeltern frei.
In seiner Art tiefzustapeln sagte Jens immer: „Ich gehöre nicht zu den Menschen, die den Geschichten aus der Kindheit besonders große Bedeutung zumessen und alle Welt ausführlich und in allen Einzelheiten langweilen wollen. Ich erinnere mich selten an einzelne Ereignisse und die, an die ich mich erinnere, sind meist langweiliger als mein Leben.“
Objektiv gibt es über seine Kindheit und Jugend auch wirklich nicht viel zu berichten, außer dass der kleine Jens sich wegen seiner anfälligen Gesundheit häufig in der großelterlichen Wohnung aufhielt.
Sein Erzeuger hatte danach mit seiner zweiten Frau noch zwei Kinder, einen Sohn und eine Tochter, zu denen Jens aber nie ein familiäres Verhältnis entwickelte und nach den Gründen gefragt, musste er zugeben, dass es von beiden Seiten einfach nur »mangelnde Gelegenheit« war.
Volksschule und Realschule absolvierte Jens ebenfalls erfolgreich und ohne großen Stress für seine Adoptiveltern, von kleinen Ausrutschern mal abgesehen.
Schon während seiner Schulzeit entwickelte Jens eine Vorliebe für Technik und den Berufswunsch des Tontechnikers. Einem Praktikum beim Sender RIAS in Berlin verweigerte sein Vater die Zustimmung und so begann Jens auf Drängen seiner Eltern Einundsiebzig eine Ausbildung zum Berufsbeamten. Diese Ausbildung beendete Jens erfolgreich und so war ihm der Aufstieg in die höhere Laufbahn möglich. Er konnte seine weitere Ausbildung in der Landeshauptstadt fortsetzen.
Eigentlich war sein Berufsweg vorgezeichnet und mit etwas Geduld hätte Jens Mander eine ausgezeichnete Karriere in der Behörde haben können. Aber da gab es einen Tag im Oktober Dreiundsiebzig, an dem die Weichen für ein anderes Gleis gestellt wurden.
Jens war an diesem Tag mit dem Auto nach München gefahren um sich da einer letzten Prüfung für den Aufstieg in die gehobene Laufbahn zu unterziehen.
Von den drei im Raum anwesenden Menschen waren ihm zwei schon aus bisherigen seiner Ausbildung bekannt, aber den dritten Mann sah er an diesem Tag zum ersten Mal. Und genau dieser Mensch sollte sein späteres Leben maßgeblich beeinflussen.
Nach zwei Stunden Befragung, Jens nannte es später nur mehr »die Inquisition«, war alles für seinen Wechsel klar und im November Dreiundsiebzig bekam er dann seine Versetzungsurkunde nach München.
Jens empfand es nie als aufregend, wenn er im Leben der Menschen rumschnüffelte, um die Berechtigten von den Unberechtigten zu unterscheiden, aber nach einer gewissen Zeit entwickelte er das, was andere als das »›Dritte Auge« bezeichneten. Seine Trefferquote war so gut, dass er äußerst selten eine ablehnende Entscheidung revidieren musste. Auffallend war, dass er in der Folgezeit immer solche Aufgaben zugeteilt bekam, an denen sich seine Kollegen bereits die Zähne ausgebissen hatten und die er erfolgreich abschließen konnte.
Seine Vorgesetzten schickten ihn auf die verschiedensten Seminare - Datenverarbeitung, Journalistische Recherche, Kryptographie, Psychologie, Geschichte und Zeitgeschichte. Je mehr Seminare er besuchte, umso größer wurde sein Ehrgeiz. An einem Teil dieser Seminare nahmen einige Kollegen seines Ausbildungsjahrgangs teil, meistens aber war er der einzige Vertreter seiner Behörde in diesen Veranstaltungen.
Sechsundsiebzig, nach knapp drei Jahren, bestand er dann auch die letzte Prüfung. Bis hierher verlief nach Ansicht von Jens Mander alles so »unspannend« und normal, dass er sich keine größeren Gedanken machte. Zwar fragte er sich manchmal, wofür die ganzen Seminare eigentlich gut waren, aber sie brachten Abwechslung in das tägliche Einerlei des Aktenstudiums.
Die Prüfung dauerte fünf Tage. Am fünften Tag, er hatte gerade seine Arbeit abgegeben und war auf dem Weg in den Innenhof des Gebäudes um eine Zigarette zu rauchen, als er den dritten Mann aus seiner Inquisition wieder traf.
Er begrüßte Jens, obwohl der zirka zwanzig Jahre jünger war, wie einen alten Freund und lud ihn auf ein Bier ein - quasi zur Feier des Tages und auf die bestandene Prüfung. Dann stellte er sich als Albert Wirner vom Bundesliegenschaftsamt vor. Seine Behörde hätte eine Niederlassung in der Münchner Luisenstraße und er sei der Büroleiter.
Noch bevor Jens wegen des Spruchs von der bestanden Prüfung nachfragen konnte, lieferte Wirner schon mal eine plausible Erklärung.
„Jens? Ich darf Sie doch Jens nennen“, und ohne auf eine Erwiderung zu warten, „Jens, wir sind auf der Suche nach geeigneten neuen Kollegen und da habe ich Ihren Ausbildungsleiter um einen Gefallen gebeten: Korrektur und Bewertung Ihrer Prüfungsarbeiten außerhalb der Prüfungsordnung durch einen Verwaltungsjuristen unserer Behörde. Zusätzlich und vor allen anderen Prüfungsteilnehmern“, er grinste Jens an.
„Der Kollege ist der Ansicht, dass die vier Prüfungen so gut gewesen seien, dass Sie in der fünften Prüfung auch mit einem leeren Blatt bestehen würden und deshalb bin ich hier.“
Jens war sprachlos und auf höherem Niveau verwirrt.
„Jens, ich will ganz offen mit Ihnen reden: wir suchen neue Mitarbeiter mit speziellen Fähigkeiten, die zusätzlich zu ihrer Arbeiten für uns bestimmte Sachen erledigen. Vertraulich und ohne Aufsehen.“
Jens war noch immer platt, hatte sich aber doch soweit im Griff, dass er so was wie ein „Womit kann ich Ihnen helfen?“ über seine Lippen brachte. „Gesinnungsschnüffelei? Kollegen ausspionieren?“
Albert Wirner begann zu lachen. „Nö“, meinte er nur. „Viel einfacher und weniger aufregend. Einfach Ihrer Arbeit nachgehen und und das tun, was Sie sonst auch machen: die Hintergründe und Zusammenhänge rausfinden.“
Jens Mander fiel ein Stein vom Herzen, obwohl er immer noch ein mulmiges Gefühl in der Magengegend hatte. Zwischenzeitlich hatten sie Manders Stammkneipe ›Zum Clown‹ in der Schellingstraße erreicht, sich in eine Ecke gesetzt und ihr bestelltes Bier erhalten.
Nach dem ersten Schluck aus dem Glas beruhigte sich auch Jens‘ Magennerven und auch sein Selbstvertrauen kam wieder.
„Wie haben Sie sich das vorgestellt?“, wollte Jens wissen.
Albert Wirner hatte offensichtlich mit dieser Frage gerechnet und begann Jens das Vorhaben ausführlich zu erklären. Seine Dienststelle würde Jens als Mitarbeiter in verschiedene Firmen vermitteln. Dort solle er dann die Augen offen halten und checken, ob alles legal abläuft.
„Um Deine Karriere brauchst Du Dir keine Sorgen machen, da haben wir ein Auge drauf“, dozierte Wirner weiter. „Wir steuern Deine Einsätze und Deinen Aufstieg.“
Jens Mander bekam urplötzlich Kopfschmerzen. Die wildesten Gedankenfetzen jagten ihm durch den Kopf und das Bedürfnis nach einem Schnaps wurde immer größer. Genauso überraschend, wie das Gespräch begonnen hatte, endete es auch: Albert Wirner winkte die Kellnerin an den Tisch, verlangte die Rechnung und bezahlte.
„Du kannst es Dir ja nochmals überlegen“, meinte er. „Komm am Sonntag an den Chiemsee zu einer Veranstaltung der LASSEN HEDIN Stiftung. Bis dahin hast Du Zeit, Dir die Sache zu überlegen und uns Deine Entscheidung mitzuteilen. Und - “, er machte eine bedeutungsvolle Pause, „häng‘s nicht an die große Glocke.“
Nachdem Albert Wirner das Lokal verlassen hatte, saß Jens noch ziemlich lange vor seinem Bier. »Ja, Nein, vielleicht oder doch«, murmelte er vor sich hin. Plötzlich stand er auf, kramte zwei Zehnpfennigstücke aus seiner Hosentasche, ging zur Musikbox, warf das Geld in den Schlitz und wählte die neunundvierzig. Er hatte den Ausgang noch nicht ganz erreicht, als die Musik einsetzte. Zu den ersten Takten von »Gimme some lovin’« der Spencer-Davis-Group verließ er das Lokal.
Als Jens Mander zwei Tage nach dem Gespräch mit Albert Wirner auf dem Parkplatz des Schulungsheims der Stiftung stand, hatte er seine Entscheidung getroffen.
Das Schulungsheim bestand aus einer alten Villa und einem modernen Neubau und passte so gar nicht in die idyllische Umgebung des Chiemsees. Nachdem Jens sich orientiert hatte, meldete er sich am Empfang. Wirner hatte ihm keine Informationen darüber gegeben, nach wem er fragen sollte oder mit wem er verabredet war. Offensichtlich waren aber am Empfang entsprechende Instruktionen hinterlegt worden, denn man schickte ihn in den Altbau ins Kaminzimmer.
Das Kaminzimmer war für seine Begriffe beeindruckend riesig. Um einen freistehenden Kamin in der Mitte des Raums waren mehrere Ledersofas und Sessel drapiert. Riesige, vom Boden bis zur Decke reichende Fenster ermöglichten dem Besucher einen herrlichen Blick auf die Landschaft. Auf einem der Sessel hatte eine Person Platz genommen; im Gegenlicht konnte Jens aber nur die Umrisse erkennen.
„Hallo Jens. Schön dass Du gekommen bist“, hallte die Stimme des Unbekannten entgegen. „Komm und setz Dich zu mir.“
Jens kam die Stimme bekannt vor, konnte Sie aber nicht sofort zuordnen und so ging er auf die Schattengestalt zu. Je näher er der Gestalt kam umso mehr ließ der Gegenlichteffekt nach und kurz, bevor er die Person erreichte, blieb Jens wie angewurzelt stehen.
„Du? Du hier?“, kam es verblüfft über die Lippen von Jens. „Was machst Du denn hier?“
Mit allem hatte Jens Mander gerechnet, nur nicht mit seinem Cousin Germut Kärmeren. Germut war der Sohn des Bruders seiner Adoptivmutter. Jens wusste nicht viel über ihn, außer dass er bei der Bundesmarine war, irgendwo an der Nordsee wohnte, verheiratet war und drei Söhne hatte. Achja - und dass er in seiner Paradeuniform einen starken Eindruck auf seine Umgebung machte.
„Na was soll ich denn hier schon machen?“, erwiderte Germut. „Ich bin Deine Sonntagsverabredung. Aber jetzt setz Dich erst mal.“
Auf einem kleinen Beistelltisch standen eine Flasche Mineralwasser und zwei Gläser. Germut füllte ein Glas, schob es in Richtung Jens und nahm dann einen Schluck aus seiner Kaffeetasse.
„Jens, lass es uns kurz machen“, begann Germut seine Rede. „Wie hast Du dich entschieden?“
Eigentlich war Jens wieder mal auf Krawall gebürstet und wollte dem Kerl seine Meinung sagen. Sagen dass er, Jens, in so eine Scheiße nicht reingezogen werden wolle. Aber die Anwesenheit seines Cousins hatte ihn seine vorbereitete Rede vergessen lassen und so antwortete er kleinlaut: „Naja, eigentlich möchte ich ja nicht, aber …“, Jens ließ den Satz unvollendet und nahm einen Schluck aus seinem Glas.
„Ich weiß nicht, ob das so das richtige für mich ist.“
„Also ich will Dich nicht überreden, aber Du sollst zumindest wissen, warum wir an Dich herangetreten sind“, nahm Germut seine Rede wieder auf.
„Wir sind auf Dich aufmerksam geworden, als Du um Haaresbreite eine unserer Quellen enttarnt hättest. Du erinnerst Dich an den Fall Gerhardinger? Überzeugter Nazi und Antikommunist, Holocaust Leugner, ein Judenhasser der übelsten Art und brutaler Gestapo Scherge?“
Jens konnte bei der Erinnerung an den Fall nur mit dem Kopf nicken.
„Alles was ich Dir jetzt sage darf diesen Raum nicht verlassen. Das ist die einzige Bedingung, die ich stelle. Ansonsten kannst Du Dich frei entscheiden ob Du mit an Bord kommst oder nicht.“
Um die Wirkung seiner letzten Worte zu verstärken machte Germut eine längere Pause.
„Wir konnten damals nur Schadensbegrenzung betreiben - den Ball flach halten. Gerhardinger konnten wir zu einem Umzug in ein anderes Bundesland überreden, Du wurdest im Rahmen Deiner Ausbildung ans Sozialgericht abgeordnet und die Abteilung personell umstrukturiert.“
Jens entschlüpfte ein „Aha“, gab aber keinen weiteren Kommentar ab.
„Nach diesem Vorfall hatten wir ein Auge auf Dich geworfen und schnell festgestellt, dass Du eine natürliche Begabung für das Erkennen von Zusammenhängen hast. Gleichgültig, wie weit die einzelnen Teile eines Falls auseinander lagen, wie belanglos die Information war, Du konntest die Verbindung herstellen. Und das haben wir dann gefördert, indem wir Dir konstruierte Fälle unterschoben.
Auch bei Deiner Versetzung nach München hatten wir die Finger im Spiel. Der Kollege, den Du als Albert Wirner kennst, sollte Dich genau unter die Lupe nehmen.
Vielleicht hast Du Dich gewundert, warum Du während Deiner Ausbildung trotz der komplizierten Fälle und den vielen Zusatzaufgaben in keinem Fall unter Zeitdruck gesetzt wurdest. Wir wollten Dich für unsere Zwecke gründlich ausbilden lassen und so haben wir Dir trotz der auf drei Jahre beschränkten Ausbildungsdauer alle Zeit der Welt gegeben.
Wenn Du jetzt zu uns kommst, wird das zwar anders, aber ich glaube dass Deine Fähigkeiten so ausgeprägt sind, dass Du auch mit Zeitdruck klar kommst.“
Germut machte wieder eine längere Pause.
„Du wirst Dich vielleicht schon gefragt haben, was Deine Aufgabe sein wird. Nun - ganz einfach: Du musst nicht viel tun.“ begann Germut mit seiner Erklärung. „Du musst nur für uns die Augen offen halten“.
„Augen offen halten? Wonach?“
„Hast Du schon mal den Begriff COCOM14 gehört?“
„COCOM?“ erwidertert Dirk. „Nö - sagt mir nichts.“
„COCOM, Coordinating Committee on Multilateral Export Controls. Auf gut Deutsch heisst das Koordinationsausschuss für multilaterale Ausfuhrkontrollen, und dient zur Regulierung des Exports westlicher Technologie in die Staaten des Ostblocks.“
„Okay und was hab ich damit zu tun?“
„Noch nichts, aber wir werden Dich da hin schicken, wo wir befürchten, dass unsere Technologien Gegenstand von illegalen Geschäften mit dem Ostblockstaaten sind oder über Drittländer dahin gelangen. Unsere Spezialisten haben in den letzten drei Jahren für Dich eine Legende erstellt, die es Dir ermöglichen wird völlig unauffällig mit uns zu arbeiten.“
An dieser Stelle unterbrach ihn Jens.
„Wie habt Ihr Euch das vorgestellt? Tarnkappen gibt es nicht und eine Behörde ist wie ein kleines Dorf. Da gibt es Klatsch und Tratsch. Kollegen, die einander bespitzeln.“
„Eigentlich ganz einfach: Ab nächste Woche wirst Du offiziell für vier Monate an das zuständige Ministerium abgeordnet, wo Du aber nie ankommen wirst. Stattdessen machst Du in dieser Zeit eine zusätzliche Ausbildung. Drei Monate zu unseren Freunden nach Grafenwöhr15 und einen Monat nach Haar in die ›Weberei‹16. Nach dieser Zeit wirst Du in die Krankenhausverwaltung versetzt. Danach haben wir Deinen Wechsel zur Stadtverwaltung vorgesehen. In spätestens zwei Jahren wirst Du den Öffentlichen Dienst dann ganz verlassen.
Vielleicht müssen wir den Plan an der einen oder anderen Stelle noch korrigieren, aber Ziel ist es, dass Du innerhalb der nächsten drei Jahre soweit bist, dass wir Dich unauffällig zu den verschiedensten Firmen schicken können.“
„Um dort zu spionieren. Das wolltest Du doch sagen?“, platzte Jens dazwischen.
„Wenn Du es so siehst? Ich finde spionieren ist ein hässliches Wort. Ich meinte eher Recherchen vor Ort durchzuführen“, bekam Jens als Antwort.
Jens war zwischenzeitlich aufgestanden und startete eine Runde durch den Raum. Er wusste, dass er keine einfache Entscheidung zu treffen hatte. Verschiedenste Gedanken jagten durch seinen Kopf. Von einer Entscheidung war er weiter denn je weg.
Germut saß schweigend in seinem Sessel, nippte nur an seinem Wasserglas und beobachtete Jens.
Nach rund einer halben Stunde setzte sich Jens wieder in den Sessel, fixierte seinen Cousin Germut und sagte: „Ich weiß nicht, ob ich es einmal bereuen werde, aber ich mach mit.“
Als hätte Germut mit dieser Antwort gerechnet, nickte er nur und bestätigte dieses Nicken mit einem „Okay“.
Unvermittelt wechselte Germut das Thema.
„Wie geht es Tante Lisbeth und meinem Lieblingsonkel? Gesund die beiden?“
Jens hatte nach dieser Vorstellung aber keine Lust großartig über die Familie zu reden und so antwortete er kurz angebunden mit einem „Gut. Den Altersumständen entsprechend Gut.“ In einen Anfall von Höflichkeit fügte er noch hinzu: „Und wie geht‘s Deiner Familie?“
Die Antwort registrierte Jens nicht mehr und auch Germut schien plötzlich jede Lust an der Fortsetzung des Gesprächs verloren zu haben. Sie schwiegen sich noch ein paar Minuten an und dann verabschiedete sich Germut auffallend schnell, nicht ohne Jens vorher noch einmal an die Verschwiegenheit und die nächsten Schritte zu erinnern.
Bereits am Tag nach diesem Treffen wurde Jens Mander durch seinem Abteilungsleiter ein Schreiben ausgehändigt, in dem er für vier Monate dem zuständigen Ministerium zugeteilt werden würde. Noch am selben Abend, er wollte es sich gerade in seinem Appartement bequem machen, bekam er einen Anruf von Albert Wirner, dass er sich reisefertig machen solle und er in einer viertel Stunde abgeholt werde. Pünktlich nach fünfzehn Minuten klingelte es an der Türe und bevor eine Stunde vorbei war, saß Jens in einem BMW 2000 und war auf dem Weg nach Grafenwöhr zum ›2nd Cavalry Regiment‹.17
Innerhalb von drei Monaten lernte Jens den Umgang mit Waffen und Sprengstoff, wie man tote Briefkästen erkennt, mit Funkgeräten umgeht oder Sprengfallen baut und entschärft. Man brachte ihm bei, andere Menschen unauffällig zu überwachen und wie er selbst eine Überwachung erkennen und verhindern konnte.
Normalerweise sind drei Monate eine lange Zeit, aber das zu absolvierende Pensum war so umfassend, dass Jens jeden Abend in einen traumlosen Schlaf fiel. Jens‘ Ausbilder waren mit seiner Leistung zufrieden und dem entsprechend war die Verabschiedung auch in Maßen herzlich.
Kaum zurück in seinem alten Umfeld, es war nicht einmal eine Woche vergangen, wurde er schon an eine Klinik versetzt. Hierbei wäre fast etwas schief gegangen: der Dienststellenleiter äußerte überdeutlich, er habe „den Mander gegen seinen Willen aufgedrückt bekommen“.
Ein Jahr später wechselte Mander zur Kommunalverwaltung und nach etwas mehr als einem Jahr vom Krankenhaus zu einer Münchner EDV-Firma als Anfangsprogrammierer. Die Münchner M.B. Personalberatung, die als Tarnfirma fungierte, hatte zwischenzeitlich die Steuerung von Jens Mander übernommen und die schickten oder vermittelten ihn in die verschiedensten Firmen, um dort bestimmte Recherchen auszuführen. Auf diese Weise bereiste Jens Mander die ganze Bundesrepublik, die Schweiz und Österreich, aber auch Teile der Niederlande.
Zweiundneunzig kam es zu einem Vorfall, der die Zusammenarbeit mit der M.B. Personalberatung beendete. Die NATO musste zugeben, dass sie in Europa illegale paramilitärische Einheiten aufgebaut, ausgerüstet und unterhalten hatte. Der Kalte Krieg war vorbei und Germut Kärmeren war der Ansicht, dass die Dienste von Jens im Amt für Wehrkunde besser nutzbar wären. Sechsundneunzig führte Jens seinen letzten Auftrag im Tschechischen Kernkraftwerk ‹Jaderná elektrárna Dukovany‹ durch. Ein heftiger Streit mit Germut entbrannte über das Ergebnis des Auftrags. Von diesem Augenblick an war es eine ausgemachte Sache, dass die beiden sich feind waren. In den folgenden Jahren schlug sich Jens als freier IT-Berater und Administrator durchs Leben und übernahm nur mehr Aufträge, die nicht mit Germut Kärmeren in Verbindung standen und Zweitausendvier schied er faktisch aus, indem er nur mehr Aufträge unabhängiger Projektvermittler übernahm.
Jens Mander hatte die Frage des Kriminalobermeisters Reuter schlichtweg ignoriert, was dieser aber offensichtlich auch nicht krumm nahm. So wie Mander und Reuter in aller Gemütsruhe zum Passat gingen, um nicht zu sagen schlenderten, hätte für den unbeteiligten Beobachter der Eindruck entstehen können, dass hier zwei Freunde unterwegs waren.
Sie nahmen im Auto Platz und Reuter erledigte den Schreibkram.
Die Freiheitsglocke im Schöneberger Rathaus begann gerade ihr tägliches Mittagsläuten, als Jens die Türe zu seiner Wohnung öffnete.
Für Jens Mander war der Tag gelaufen. Am Nachmittag brachte er seine geliebte Schweizer Sennenhündin zu seiner Frau, die sich bei der Tochter in Brandenburg aufhielt und war am Abend wieder in seinem Appartement in Berlin.