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Mittwoch, 6. November

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In den letzten beiden Tagen hatte Jens Mander jede Menge beruflichen und privaten Stress zu bewältigen. Ein Kollege machte mit einem Sack voll Problemen Telefonterror; sein Hund hatte „Dünnpfiff“ und musste ständig „Gassi gehen“; zwei Telefoninterviews mit potentiellen Auftraggebern, auf die er sich vorbereiten musste.

Jens hatte keine Zeit für andere Sachen und so hätte er sein Erlebnis vom vergangenen Montag verdrängt.

Kurz vor zwölf rief sein Sohn Rahul an.

Jens und seine Frau hatten Rahul einige Jahre zuvor in einem indischen Restaurant kennengelernt. Irgendwann hatten sie dann festgestellt, dass sie mehr eine Vater-Sohn-Beziehung als eine Freundschaft pflegten. Jens hatte keine leiblichen Kinder, mit den angeheirateten gab es häufig Stress und so hatte er Rahul kurzerhand emotional adoptiert.

Telefonate mit Rahul liefen immer nach dem gleichen Muster ab.

Phase eins: man befragte sich gegenseitig nach dem Befinden.

Phase zwei: die Befragung über den jeweiligen Partner.

Die Phasen eins und zwei nahmen manches Mal die meiste Zeit des Telefonats in Anspruch.

Doch diesmal war es anders, Rahul kam ganz schnell zur Sache. In dem für ihn typischen Deutsch-Hindi Dialekt fragte er Jens, ob der ihm einen Gefallen tun könnte.

Bei Jens schrillten die Alarmglocken: Wenn Rahul so schnell zur Sache kam, war es meist was Wichtiges im Busch. Also fragte Jens, womit er ihm helfen könne.

Rahul erklärte ihm, dass seit Tagen einer der Köche des Restaurant spurlos verschwunden sei; er sei einfach nicht zur Arbeit erschienen und seit Montag wären auch seine persönlichen Sachen und Kleidung weg. Zur Polizei wolle man nicht, da es vielleicht Probleme mit der Ausländerbehörde geben könnte. Auch in der indischen Gemeinde war er auch nicht mehr gesehen worden.

Jens versprach, dass er sich im Rahmen seiner Möglichkeiten um die Sache kümmern würde und mit einer Verabredung zum Abendessen an seinem nächsten freien Tag beendete er das Telefonat. Noch während er überlegte, was zu tun sei, kam per eMail eine Nachricht von Rahul mit dem Bild des vermissten Kochs.

Jens musste auf das Polizeirevier um das Protokoll vom Montag zu unterschreiben. Da nahm er sich vor, mal »jaaanz dumm« nach dem verschwundenen Koch zu fragen.

Kurz nach drei machte sich Jens auf den Weg zum zuständigen Revier in der Rudolfstädter Straße und erreichte die Polizeidirektion 2 Abschnitt 26 genau zum Schichtwechsel. Er nannte dem Wachhabenden seinen Namen und die Wachbuchnummer. Nach einem Blick ins Wachbuch zog er einen Ordner unter dem Tresen hervor, blätterte kurz darin, schlug ihn auf und schob Jens den Ordner und einen Kugelschreiber hin.

„Bitte durchlesen und auf der Rückseite unterschreiben - da wo Ihr Name steht“, sagte der Wachhabende und wandte sich einer anderen Aufgabe zu. Jens studierte das Protokoll. Es war die fast wortwörtliche Niederschrift seiner Aussage vom Montag und so kritzelte er seine Unterschrift auf die Rückseite, fügte noch Ort und Datum ein und schob den Ordner wieder in Richtung Diensthabenden, der immer noch mit einem anderen Dokument beschäftigt war und ihn keines Blickes würdigte.

Mit gespielter stoischer Ruhe blieb Jens am Tresen stehen und fing an, den Wachhabenden mit den Augen zu fixieren. Schon vor vielen Jahren hatte er festgestellt, dass Menschen, die so tun, als wären sie mit irgendwas beschäftigt, durch das unverwandte beobachtet werden, unruhig werden.

Auch hier war das der Fall und so fragte er Jens nach ein paar Minuten: „Unterschrieben? Gibt‘s sonst noch was?“

„Ja“, sagte Jens, zog sein Smartphone aus der Tasche, öffnete die Datei mit dem gespeicherten Bild und schob es ihm hin. „Ich suche den jungen Mann. Er ist seit fünf Tagen spurlos verschwunden und seine Freunde machen sich schon Sorgen.“

Der Wachtmeister wollte gerade zu einer Ansprache ansetzen, als Jens von hinten angesprochen wurde: „Heute ohne Hund?“

Es war der Mundart-Imitator vom Montag - Kriminalobermeister Reuter. Obwohl es offenbar freundlich gemeint war, hatte er Jens auf dem falschen Fuß erwischt und so antwortete er mit einem steifen und spitzen »Moin moin«.

Jens vermutete, dass Reuter schon eine Weile hinter Jens gestanden und dessen Frage gehört hatte, da er sofort nach dem Telefon griff und sich das Bild ansah. Mit der Zwei-Finger-Wisch-Geste vergrößerte er das angezeigte Bild und verschob die Anzeige so, dass der Kopf in der Mitte des Telefons war.

„Den kenn ich nicht, aber vielleicht die Kollegen von der Vermissten“, sagte er und verschob das Bild weiter. „Aber die Tasche könnte ich kennen“, meinte er und mit den Worten „und Sie auch!“, gab er Jens das Handy zurück.

Erst jetzt machte es bei Jens klick. Ja, die Tasche kannte er und plötzlich war ihm klar, was ihm an dem Bild schon die ganze Zeit merkwürdig vorkam.

„Jetzt, wo Sie‘s sagen - stimmt, das könnte die Tasche sein.“

„Mach mal das Gatter auf und sag Werner Bescheid“, rief er seinem Kollegen zu und fuhr dann zu Jens gewandt fort, „Wir gehen ins Büro!“

Jens bemerke, dass sich im Nacken von Kriminalobermeister Reuter urplötzlich ein paar rote Flecken bildeten. „Gibt’s Stress?“, fragte ihn Jens scheinheilig, während er mit seinem unsymmetrischen Gang hinterher humpelte. Jens konnte Reuter leider nur von hinten beobachten, aber an dessen Körperhaltung bemerkte er, dass dessen Stimmung nicht mehr locker-flockig war.

Ohne eine Antwort auf die Frage, stürmte Reuter wortlos durch eine offene Tür in ein Büro; keine zehn Sekunden später kam auch sein Kollege Mäurer und knallte die Türe ins Schloss.

Mit den Worten „das ist keine Vernehmung, aber ich lass mal das Band mitlaufen“, stellte er ein kleines Diktiergerät auf einen Schreibtisch. „Nun erzählen Sie mal, wie kommen Sie zu dem Bild und warum fragen Sie nach der Person?“

Vorbei war es mit dem bayerisch eingefärbten Berlinern und seiner Körperhaltung war eine aggressive Spannung zu entnehmen.

Jens Mander war aber nicht der Mensch, den man hätte so leicht beeindrucken können. Er zog seinen Presseausweis aus der Tasche, hielt Reuter die Plastikkarte vor die Nase und sagte nur „Quellenschutz“. Noch bevor der ihn weiter anblaffen konnte, mischte sich sein Kollege aus dem Hintergrund ein: „Nun mal ganz langsam und keinen Stress.“ Reuter atmete tief durch: „Wir haben seit Montag ein Problem mit einer Leiche, die mal da ist und dann wieder weg ist. Und jetzt tauchen Sie mit dem Bild auf. Da haben wir halt ein paar Fragen und mit Höflichkeit und ohne Stress ist das ganze sicher schnell zu erledigen.“

Aha, guter Polizist - böser Polizist, dachte sich Jens. Aber das kann er noch besser: ganz böser Reporter. Das ist seine leichteste Übung.

Er lehnte sich an den zweiten Schreibtisch, der im Raum stand. „Kein Problem, das Protokoll habe ich bereits unterschrieben und das Bild? Ist eine ganz andere Story!“

„Sagen Sie mir zuerst mal, was das eine mit dem anderen zu tun hat und wenn es da eine Verbindung gibt, gibt es auch von mir Informationen. Wenn nicht, dann bin ich der böse Reporter, der über einen Kriminalfall berichtet.“

Die beiden sahen sich kurz an und die Zustimmung in ihren Blicken konnte man nur erahnen.

„Also gut, der Deal gilt. Aber nur unter einer Bedingung: alles was gesprochen wird, bleibt hier im Raum. Veröffentlichungen nur in Absprache mit dem zuständigen Staatsanwalt und der Pressestelle.“

„Einverstanden.“

„Also nochmals ganz von vorne. Ich bin Kriminalkommissar Mäurer und das ist mein Kollege Kriminalobermeister Reuter. Als wir nach Ihrer Meldung am letzten Montag ausrückten, hatten wir schon zwei Anrufe gleichen Inhalts. Immer ging es um eine männliche Person, dunkles, fast schwarzes Haar, mittleres Alter, vermutlich Ausländer, Vorderasien, schwarze oder dunkelblaue Bekleidung.“ Mäurer machte eine Pause. „Jedes Mal, wenn wir vor Ort eintrafen, war die Person verschwunden.“

Auf dem Tisch lag eine Packung Zigaretten und Mäurer hatte angefangen damit zu spielen.

„Haben Sie einen Raucherraum?“, fragte Jens. „Mir macht es nichts aus wenn wir dort weiter reden. Dann kann ich auch eine schmöken.“

Reuter blickte in Richtung seines Kollegen, der als stumme Antwort die Bürotür öffnete. „Rechts in den Gang und dann die dritte Türe - immer der Nase nach“, war Reuters Kommentar zu Manders Vorschlag.

Der Raucherraum war spartanisch eingerichtet. Ein Kaffeeautomat, zwei hohe Bistro-Tische auf denen Aschenbecher rumstanden und ein Cola-Automat. Durch das Fenster konnte man auf den Innenhof des Gebäudes blicken.

„Erst durch Ihrem Anruf erhielten wir eine greifbare Spur“, fuhr Mäurer fort, nachdem er sich seine Pfeife angezündet hatte. „Kein Ausweis, keine persönlichen Dokumente, aber eine Tasche voll Bekleidung - Socken und Unterwäsche, Hemden, Hosen, Pullover, Toilettenartikel“ und nach einem Zug an der Pfeife „und zwei Betelnüsse.“

„Die anderen Zeugen beschrieben die Person als männlich, relativ jung - zwanzig bis dreißig Jahre alt, schwarzes Haar, etwa eins sechzig groß und dunkelhäutig. In der ersten Meldung wurde er am Speerwerfer-Denkmal an der Bundesallee, in der zweiten auf einer Bank liegend am Hirschbrunnen gesehen.“

Seine Pfeife war ausgegangen und so trat eine Pause ein, während er das Ding wieder in Brand setzte.

„Jetzt sind Sie dran“, meinte er und reichte Mander sein Feuerzeug, damit er sich seine Zigarillo anzünden konnte. Mander verlängerte die Pause, indem er mehrere tiefe Lungenzüge machte.

„Also, meiner Meldung habe ich nichts hinzu zu fügen, da habe ich Ihnen schon am Montag alles gesagt. Und zu dem Bild: es ist das Foto eines Kochs aus einem indischen Restaurant, in dem ich öfter mal was esse. Der Koch ist seit letzten Freitag spurlos mit allen seinen Klamotten verschwunden und da ich mit meinem Hund viel unterwegs bin, hat man mich gefragt ob ich ihn vielleicht gesehen habe.“

„Gibt‘s ‘ne Vermisstenanzeige?“, unterbrach er Jens Mander.

„Nö, die wollen ihm keine Schwierigkeiten mit seinem Visum machen, falls er nur mal eine kurze Auszeit genommen hat“, antwortete Jens. „Könnte ja auch sein, dass er nur einen kurzen Urlaub macht.“

Noch bevor er Jens nach dem Foto fragen konnte, fügte er an: „Wenn Sie mir ihre Mailadresse verraten, schicke ich Ihnen das Bild per Mail.“

Mäurers Pfeife war wieder aus und bevor der sie wieder in Brand setzte, nannte er die Mailadresse, die Jens sofort in sein Smartphone notierte und das Bild als Anhang auf die Reise schickte.

Mit der Frage nach der Rasse von Jens Manders Hund und dass er lange Zeit bei der Hundestaffel gewesen sei, versuchte er die unpersönliche Stimmung aufzulockern.

„Okay - is‘ raus“, sagte Jens, „aber die Aufregung versteh ich trotzdem nicht. In Berlin gibt es mehr als einen Inder und die Tasche? Naja, auffällig ist sie schon, aber davon gibt‘s sicher mehr als eine in Berlin.“

„Die Kollegen von der SpuSi1 haben sich der Tasche angenommen und festgestellt, dass dieses Modell in Deutschland nicht verkauft wird. Das Ding wird in Pakistan für eine Firma in England produziert und auch nur dort verkauft. Die Kollegen vom Zoll konnten jedenfalls keine Importe nach Deutschland feststellen.“

„Das heißt aber noch lange nicht, dass die Tasche vom Park mit der auf dem Bild identisch ist. Ähnlich ja, aber ich würde nicht unbedingt darauf wetten.“ Der berühmte Detektiv Hercule Poirot2 hätte in der Situation gesagt, dass seine kleinen grauen Zellen angefangen hätten, aus den verschiedenen Informationen ein Bild zu erstellen.

„Wird es eine Vermisstenanzeige geben und wer wird sie stellen?“, unterbrach Reuter Jens‘ Denkprozess.

Jens Mander war mit den Besitzern und den Mitarbeitern des Restaurants, in dem der Koch vor seinem Verschwinden gearbeitet hatte, gut bekannt. Deshalb hielt er es für besser, Mäurers Frage erstmal zu ignorieren. Nicht, dass er sich da raushalten wollte, aber die »Grünen«3 hatten ihren Job und das war nun mal nicht seiner.

„Ohne Vermisstenanzeige können wir nichts unternehmen und so ohne weiteres können wir auch nicht beim Arbeitgeber aufschlagen“, sinnierte Mäurer nach der Pause weiter. „Also drei Anzeigen, dreimal nichts, eine Sporttasche und niemand, dem sie gehört. Das ist mal wieder Bullshit.“

Mäurer klopfte die Asche seiner Pfeife in einen großen Standaschenbecher und hielt Jens die Türe auf. „Sie waren auch keine große Hilfe. Also wenn Sie nichts mehr zu sagen haben, dann sind wir für heute mal durch.“ Reuter begleitete ihn noch zum Gatter und dann war Jens wieder draußen auf der Straße.

Das »für heute mal durch« verhieß nichts Gutes - »also lassen wir das mal auf uns zukommen«, dachte sich Jens, marschierte in Richtung S-Bahn und fuhr mit der Ringbahn die drei Haltestellen in Richtung Innsbrucker Platz. Während der Fahrt überlegte er sich, dass es eine gute Idee sei, heute mal wieder Chilli Chicken oder ein Fisch-Tikka zu essen.

Als Jens die Wohnungstüre öffnete, musste er mit Ayla erst mal »Party feiern«. Jens war nur drei Stunden unterwegs, Ayla begrüßte ihn, als wären er drei Tage gewesen.

Nun haben Hundemenschen eine besondere Beziehung zu ihrem Begleiter und so schob Jens den Gedanken an ein leckeres indisches Gericht nach hinten, nahm Ayla an die Leine und machte sich zu einer großen Runde auf. Sie marschierten über zwei Stunden durch den Rudolf-Wilde-Park und den Volkspark Wilmersdorf bis zur Blissestraße und dann über die Uhlandstraße, Berliner Straße und Badensche Straße wieder nach Hause. Ayla war nach der Runde nur noch müde und Jens hatte endgültig die Lust auf »Indisch« verloren. Er machte sich ein paar belegte Brote und wollte sich gerade auf das Sofa setzen, als das Telefon klingelte.

Es war Rahul.

Jens hob ab und meldete sich. „Hallo Rahul, wie geht es Dir?“

„Hallo Mister Jens, wie geht es Ihnen?“, bekam er zur Antwort.

Es folgte wieder der übliche Dialog, in dem sie sich versicherten, dass es ihnen gut gehe.

Da es schon spät war, unterbrach Jens das Ritual und kam zur Sache: „Ich war heute bei der Polizei und habe mal nach dem Koch gefragt. Aber da war nichts bekannt. Die Jungs meinten nur, dass irgendjemand auf dem schnellsten Weg eine Vermisstenanzeige aufgeben sollte. Könnte aber auch sein, dass die im Restaurant reinschneien und nach ihm fragen werden.“

Nach dieser Ansage benahm Rahul sich plötzlich merkwürdig. Während sie sonst immer über die verschiedensten persönlichen Dinge unterhielten, war Rahul diesmal recht einsilbig. Mit Floskeln wie „da kann man nichts machen“ und „da werde ich mit meinem Chef reden müssen“, versuchte er offensichtlich über die Zeit zu kommen, damit Jens das Gespräch beenden konnte. Rahul hat noch nie ein Telefonat von sich aus beendet; er war immer der Ansicht, das sei unhöflich.

Jens tat ihm also den Gefallen, wünschte eine gute Nacht und beendete das Gespräch. Inzwischen hatte sich jedoch, von ihm völlig unbemerkt, sein Hund über seine Brote hergemacht. In einem zweiten Anlauf kam Jens aber dann doch noch zu seinem Abendessen.

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