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3. Prozessverlauf im Athen des
ausgehenden 5. Jahrhunderts v. Chr.3
ОглавлениеDas übliche Gerichtsverfahren, wie es sich um die Zeit von ca. 400 v. Chr. darstellt, steht am Ende einer langen Entwicklung in der Behandlung von Recht und Gesetz.
In der Frühzeit der griechischen Geschichte hatte der Vorstand einer Familie nahezu unbeschränkte Verfügungsgewalt über Leib und Leben seiner Familien- und Hausangehörigen. Vergehen gegen Person und Eigentum des Einzelnen blieben der privaten Rache überlassen, nur für strittige Fragen, die das Allgemeinwohl betrafen, bestanden Schiedsgerichte. Erst im Laufe der Zeit wurden die Gesetze festgeschrieben (Drakon, Solon, Kleisthenes) und die Einhaltung der Gesetze wurde von staatlichen Funktionsträgern mit genau abgestimmten Kompetenzen überwacht.
Die Organisation des attischen Gerichtswesens ist mit dem der Neuzeit nicht vergleichbar, weil man keine Gewaltenteilung im modernen Sinn kannte. Das Gesetzbuch der Athener war nach den jeweiligen Behörden des Stadtstaates geordnet. Die obersten Beamten einer Behörde (Archonten), die jeweils für die Dauer eines Jahres die politische Führung besorgten, trugen auch die Verantwortung für die Beachtung der Gesetze, die Jurisdiktion der Gesetzesübertreter und die Überwachung des Prozessablaufs. Sie waren aber keine Richter, sondern nur Vorsitzende des jeweiligen Gremiums. Sie hatten jeweils zwei Beisitzer, die sie selbst bestimmen und von denen sie sich auch vertreten lassen konnten. Recht gesprochen wurde von Laienrichtern (Heliasten), die in etwa den heutigen Geschworenen entsprechen. Als Heliast zugelassen war jeder attische Bürger, der das 30. Lebensjahr vollendet hatte und im Besitz seiner bürgerlichen Ehrenrechte war. Frauen waren ausgeschlossen. Besondere Kenntnisse waren nicht verlangt; eine juristische Ausbildung war unbekannt. Auch eine staatliche Anklagebehörde, der modernen Staatsanwaltschaft entsprechend, gab es nicht; eine Klage musste stets von einer Privatperson eingereicht werden. Den Verteidiger kannte man ebenfalls nicht, ein Angeklagter musste sich selbst vertreten. Sogenannte Synegoroi (Mitredner) konnten zwar als Fürsprecher einer Partei auftreten und eventuell eine eigene Rede halten, sie hatten jedoch eher die Funktion von Beauftragten oder Beiständen. Der Logograph, der dem Kläger oder Angeklagten gegebenenfalls eine Rede verfertigte, hatte nicht die Funktion eines Rechtsanwalts, er war lediglich der Verfasser einer Rede.
Ein Gerichtsverfahren lief in der fraglichen Zeit nach dem folgenden Schema ab:
1. Einreichung einer Klage mit Begründung durch den Kläger, einen vollberechtigten Athener Bürger, bei der zuständigen Behörde. Auch Klagen wegen Vergehen gegen die staatliche Ordnung mussten von einem Athener Bürger eingebracht werden. Notfalls beauftragte eine an der Strafverfolgung interessierte Behörde einen Bürger mit dieser Aufgabe. Für Nichtbürger und Sklaven gab es nur die Möglichkeit der Denunziation.
2. Mündliche Ladung des oder der Beklagten und der Zeugen durch den Kläger vor den zuständigen Beamten. Nur Nichtbürger durften gewaltsam vorgeführt werden.
3. Vorverfahren vor dem zuständigen Amtsträger (genannt: Anakrisis, vor dem Areopag: Prodikasiai). Dieser prüfte seine Zuständigkeit, überprüfte die Rechtmäßigkeit und die Richtigkeit der Anklage. Beide Parteien machten in Wechselrede ihre Standpunkte klar, Beweismittel wurden vorgelegt. Zeugen konnten beigebracht werden, dabei war die Folterung von Sklaven erlaubt. Eine Beschwörung per Eid konnte verlangt werden. Bei Ablehnung der Klage musste der Kläger eine Geldstrafe zahlen. Bei Nichtzuständigkeit wurde das Verfahren an eine andere Behörde überwiesen (Ephesis). Nahm der Amtsträger die Klage an, so bestimmte er einen Termin für das Hauptverfahren. Klage und Erwiderung wurden protokolliert und auf der Agora, dem Markt, öffentlich ausgehängt.
4. Das Hauptverfahren begann mit der Auslosung der zuständigen Richter. In umfassenden, zusammenhängenden Plädoyers stellten dann Kläger und Beklagter ihre Standpunkte dar. Ihre Redezeit war begrenzt und wurde mit Hilfe einer Wasseruhr (Klepshydra) gemessen. Die Laienrichter äußerten sich nicht, sie stimmten nur über Schuld oder Nichtschuld ab und setzten das Strafmaß fest. Die Abstimmung musste am selben Tag erfolgen und war endgültig.
Die wichtigsten Gerichte in Athen waren:
• Der Areopag (Blutgerichtshof), zuständig für Mord an einem Athener Bürger, für versuchten Umsturz, Brandstiftung und für Religionsfrevel (Asebie). Als Religionsfrevel zählte beispielsweise auch die Vernichtung oder Beschädigung der „Heiligen Ölbäume“ (s. Rede VII). Der Areopag tagte auf dem Areshügel bei der Akropolis unter freiem Himmel. Vorsitzender des Areopag war der Archon Basileus, einer der neun Archonten. Er war einer der obersten Staatsbeamten und zugleich religiöses Oberhaupt. Abweichend von den Satzungen an anderen Gerichtshöfen war der Archon Basileus auch an der Urteilsfindung beteiligt, und ebenfalls abweichend waren die Mitglieder des Areopag nicht gewählt, sondern auf Lebenszeit bestellt. Sie waren ehemalige Archonten.
• Weitere Blutgerichtshöfe (am Delphinion, am Palladion, im Piräus) lagen am Rande der Stadt. Sie befassten sich mit Klagen wegen unvorsätzlicher oder gesetzlich gerechtfertigter Tötung (s. Rede I), Tötung von Metöken, Sklaven und Fremden. Im Gegensatz zum Areopag waren die Mitglieder dieser Blutgerichtshöfe keine ehemaligen Archonten, sondern, wie bei den anderen Gerichten, gewählte Heliasten. Alle Blutgerichtshöfe befanden sich aus sakralen Gründen unter freiem Himmel, um eine Befleckung durch den Angeklagten zu vermeiden.
• Für die Heliaiai, die Geschworenengerichte, wurden jährlich 6000 Athener als Heliasten durch das Los zum Richteramt berufen, aus jeder Phyle 600, so dass das Volk ausgewogen vertreten war. Die Geschworenen hatten einen Eid abzulegen, dass sie entsprechend den Gesetzen urteilen und sich nicht bestechen lassen würden. Die Heliasten wurden dann wieder durch Los in mehrere Gerichtshöfe (Dikasterien) eingeteilt. Durchschnittlich war ein Gerichtshof mit 501 Geschworenen besetzt, ein einfacher Privatprozess verlangte bereits ein Gremium von 201 Geschworenen, je nach Streitsache konnten erheblich mehr Heliasten eingesetzt werden. Die ungerade Zahl der Heliasten wurde festgesetzt, um bei der Abstimmung ein Patt zu vermeiden, denn in diesem Fall schrieb das Gesetz einen Freispruch des Angeklagten vor. Jeder Geschworene erhielt zur Legitimation ein Täfelchen, das seinen Namen und den Namen seines Demos enthielt, außerdem den Namen der jeweiligen Gerichtssektion. Abgestimmt wurde mit Stimmsteinen, die in eine Urne gelegt werden mussten. Dazu wurden zwei Urnen aufgestellt, eine für die verurteilenden, die andere für die freisprechenden Stimmen. Die Geschworenen mussten normalerweise keine besondere Kompetenz aufweisen. Bei militärischen Vergehen allerdings durften nur Heliasten tätig werden, die den entsprechenden Feldzug mitgemacht hatten, und bei Vergehen gegen die Mysterien durften nur Eingeweihte als Richter agieren. Tagungsort war ein Gebäude auf der Agora. Die Heliaia war für viele Verfahren der Gerichtshof der ersten Instanz, diente aber auch als Berufungsgericht.
Vorsitzende eines Heliastengerichts waren:
Der Archon Eponymos, nach dem auch das jeweilige Jahr benannt wurde, vertrat Familien- und Erbrecht. Ihm oblag die Fürsorge für Erbtöchter, Witwen und Waisen.
Der Polemarchos, der im politischen Bereich das militärische Kommando innehatte, war zuständig für Prozesse, an denen Nichtbürger (zum Beispiel Metöken) beteiligt waren.
Die sechs Thesmotheten (Rechtssetzer) waren stets nur als Kollegium tätig. Sie hatten die Aufgabe, die Gesetze aufzeichnen und aufbewahren zu lassen. In der Rechtsprechung war ihre wichtigste Aufgabe, alle gegen den Staat gerichteten Verbrechen zu ahnden. Sie hatten außerdem Anklagen gegen Staatsbeamte zu verfolgen, die in Zusammenhang mit der Überprüfung vor Amtsantritt (Dokimasie) oder nach Ableistung des Amtes (Euthyne) eingegangen waren (s.u.). Im formalen Prozessablauf bestimmten sie die Gerichtstage und überwachten die Auslosung der Geschworenen für die einzelnen Gerichtshöfe. Ferner hatten sie die Verträge Athens mit auswärtigen Staaten zu ratifizieren.
• Die Ekklesia (Volksversammlung) war kein Gerichtshof im eigentlichen Sinne, jedoch die wichtigste politische Körperschaft, auch für Entscheidungen des Seebundes. Außerdem gehörten zu ihren Aufgaben die Wahl der Beamten, Entscheidungen über die Verwendung öffentlicher Gelder, die Erteilung des Bürgerrechts und die Freilassung von Sklaven. Sie wurde nur ausnahmsweise in Strafverfahren tätig, wenn zum Beispiel durch ein Vergehen das Wohl des Staates gefährdet schien. Tagungsort war zumeist die Pnyx, die Felskuppe westlich der Akropolis. Das Recht zur Teilnahme an der Volksversammlung hatte jeder freie Bürger Athens.
• Die Boulé (Rat der Fünfhundert) hatte in der fraglichen Zeit nur noch Kontrollfunktionen und die Aufgabe, gegebenenfalls einen Strafantrag zu stellen. Die Boulé führte die Aufsicht über die Verwaltung, beaufsichtigte die Finanzen und diente zur Kontrolle der Beamten. Diese wurden vor Amtsantritt auf ihren Status als vollberechtigte und unbescholtene Bürger überprüft (Dokimasie) und mussten sich nach Ende ihrer Amtszeit einem Rechenschaftsverfahren unterziehen (Euthyne); bei Beanstandungen wurden sie zur Verantwortung gezogen (Eisangelie). Außerdem bereitete die Boulé Anträge für die Ekklesia vor. Die Boulé setzte sich zusammen aus je 50 Mitgliedern der zehn attischen Phylen, vertrat also die attische Bevölkerung ausgewogen. Kurzfristig (411–410 v. Chr.) bestand auch ein „Rat der Vierhundert“. Abgestimmt wurde durch Erheben der Hand.
• Die Elfmänner waren eine Exekutivbehörde. Sie hatten die Aufsicht über die Gefängnisse und waren zuständig für Inhaftierung und Vollziehung der Todesstrafe. Wurde auf Todesstrafe erkannt, so konnte diese ausgeführt werden durch: Trinken des Giftbechers (Schierlingsbechers), Sturz in das Barathron (einen Abgrund im Westen Athens) oder Erschlagen mit der Keule. Außerdem hatten die Elfmänner die Aufgabe, dem Staat geschuldete Beträge einzutreiben.
Wenn ein auf frischer Tat ertappter Verbrecher seine Tat leugnete oder zu rechtfertigen suchte, konnten ihn die Elfmänner vor ein Gericht bringen, dessen Vorsitz sie dann übernahmen.
• Die Vierzigmänner setzten sich zusammen aus je vier gelosten Mitgliedern der zehn Phylen. Sie bearbeiteten Bagatellsachen in Privatprozessen.
• Die Demenrichter waren zuständig für Rechtshändel in den Landgemeinden.
Weiter bestanden Sonderabteilungen, wie zum Beispiel:
• Das Handelsgericht, das zuständig war für Prozesse gegen fremde Kaufleute, die den attischen Bereich besuchten.
• Rechenschaftsbehörden (Logisten), die die von Beamten eingereichten Rechnungen zu prüfen hatten. Dies musste für alle Beamten, die staatliche Gelder in Händen gehabt hatten, geschehen. Bei Verdacht auf Unterschlagung oder Amtsmissbrauch musste ein Strafantrag gestellt werden. Weiter gab es die Möglichkeit, auch bei bestandener Überprüfung durch die Logisten eine Klage gegen einen ehemaligen Beamten vorzubringen, wenn er öffentliches oder privates Interesse verletzt habe. Fand der Überprüfer die Klage berechtigt, so wurde sie, entsprechend ihrem Inhalt, an die Thesmotheten oder an die Vierzigmänner abgegeben.
• Die Strategen (Feldherren), deren Oberbefehlshaber der Polemarchos war, hatten das Recht, direkte Anträge an Rat und Volk zu stellen. Als Heerführer waren sie Gerichtsvorstände für alle Verbrechen, die mit der Ableistung der Kriegspflicht zusammenhingen (Feigheit, Dienstverweigerung, Verlassen der Schlachtordnung). Außerdem setzten sie die Höhe der außerordentlichen Vermögenssteuern fest und überwachten die Einschreibung in die Steuerlisten.
• Eine Polizei im Sinne der modernen Einrichtung gab es in Athen nicht, jedoch Ämter, die für Ordnung auf Straßen, Märkten und in Häfen zu sorgen hatten, die Wasserversorgung überwachten und auf die Einhaltung der richtigen Maße und Gewichte achteten. Bei geringfügigen Delikten konnten diese Ämter auch selbst eine Geldstrafe auferlegen oder Sklaven züchtigen lassen. Der Getreidehandel wurde von einer eigenen Behörde überwacht (s. Rede XXII).