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Kapitel 6 - Milan

Milan tastete nach der Klingel. Es dauerte länger als normalerweise, er war durcheinander.

Als er noch im Park auf der Bank gesessen und die Sonne genossen hatte, war plötzlich jemand an ihm vorbeigelaufen. Noch nie war dort jemand vorbeigekommen, wenn er dort war. Und er war ständig da. Die Schritte waren schwer gewesen, daran musste er unaufhörlich denken.

Endlich fand er die Klingel. Gerade, als die Tür geöffnet wurde, fing es an, zu regnen.

„Perfektes Timing!“, rief seine Mutter, „Komm rein, Schatz!“

Milan seufzte genervt, seine Mutter wusste, dass er es hasste, so genannt zu werden.

„Jaja, ich weiß“, lachte sie und wuschelte ihm durch die Haare. Im ersten Moment wollte er protestieren, entschied sich dann aber dagegen. Es war lange her, dass sie so gute Laune gehabt hatte, das wollte er ihr nicht verderben. Stattdessen lächelte er und unerklärlicherweise fielen ihm wieder die Schritte im Park ein. Jemand war da gewesen. Warum dachte er so intensiv darüber nach? Vielleicht joggte ja jemand diese Strecke regelmäßig, aber zu einer anderen Zeit, dann, wenn er selbst nicht dort war?

Er tastete sich durch den Flur in die Küche und blieb dort wie angewurzelt im Türrahmen stehen.

„Ist Simon da?“, fragte er angespannt, nachdem er den Geruch von Zigarettenrauch identifiziert hatte. Da war noch eine andere Note, die er nicht zuordnen konnte, aber der Nikotingeruch war ohnehin intensiver.

„Er ist vor einer halben Stunde gegangen. Warum?“, antwortete seine Mutter. Milan unterdrückte ein verächtliches Schnauben. Das war also der Grund ihrer guten Laune. Es hätte ihn eigentlich nicht überraschen sollen. Wenn er ehrlich war, überraschte es ihn auch nicht. Das, was daran so überraschend war, war die Tatsache, dass es ihn verletzte. Es verletzte ihn, dass Simon immer noch nicht mit ihm reden wollte. Es verletzte ihn, dass sein Bruder einen so großen Einfluss auf die Laune seiner Mutter hatte – und dann auch noch im positiven Sinne. Milan hatte – vor allem früher – auch einen recht großen Einfluss auf ihre Laune gehabt, jedoch immer nur negativ. Er hasste das. Und er hasste es, dass seine Augen nicht funktionierten, nie funktioniert hatten und es auch nie würden. Mit einem Mal fühlte sich sein Herz genauso dunkel an, wie sein Blickfeld es war. Plötzlich fiel ihm auf, dass er noch nicht auf die Frage seiner Mutter geantwortet hatte, aber es war ohnehin schon zu viel Zeit verstrichen und Milan war sich sicher, dass es seiner Mutter sowieso egal war. Augenblicklich fühlte er sich schrecklich schuldig, Simons Worte waren noch immer, nach all den Jahren, in sein Gedächtnis eingebrannt. Das ist alles nur deine Schuld! Milan wurde schlecht bei dem Gedanken daran, wie wütend sein Bruder geklungen hatte, wie viel Verachtung und Wut er in seine Stimme gelegt hatte.

Nachdenklich lag er im Bett, tief eingemummelt in seine Bettdecke, so, als könne der Stoff ihn vor allem Bösen in der Welt beschützen, seine Gedanken vertreiben. Er seufzte, wünschte sich, es wäre so. Aber so war es nicht. Es war nie so gewesen, jetzt war es nicht so und es würde auch in Zukunft nicht so sein. Er fühlte sich wie ein kleines Kind, das verzweifelt versuchte, auszublenden, dass die Welt nicht nur schön war, sondern einem auch mal Steine in den Weg legte. Wieder drängte sich die Erinnerung an die joggende Person auf, daran, wie der Kies unter den Schuhen geknirscht hatte. Urplötzlich packte ihn der Wunsch, die Person kennenzulernen, und er wusste nicht einmal, warum. Vielleicht, weil er sich allgemein einfach nur einsam fühlte. Sein Herz fühlte sich genauso dunkel an, wie sein Blickfeld es war.

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