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ОглавлениеKapitel 8 - Milan
Er saß auf der Bank, auf der er immer saß. Er sah das, was er immer sah – nichts. Er lauschte, nahm jedes Geräusch intensiv wahr und saugte es nahezu in sich auf. So, wie er es die letzte Woche getan hatte, seit dem Tag, an dem er zum ersten Mal den Jogger – sein Gefühl sagte ihm, dass die Person ein Er war – gehört hatte. Und seit diesem Tag war er immer vorbeigekommen, jeden Tag zur gleichen Zeit. Er hatte zwar nicht wirklich die Möglichkeit, die Uhr zu lesen, dafür stimmte seine innere Uhr. Langsam wurde er ungeduldig, rutschte nervös auf der Bank hin und her. Was, wenn er sich geirrt hatte? Was, wenn er sich die Schritte die ganze Zeit über nur eingeredet hatte? Was, wenn er inzwischen so einsam war, dass er sich mittlerweile schon Menschen einbildete? Und sowieso, warum war ihm dieser Jogger so wichtig? Er war nur irgendeine Person, die hier regelmäßig vorbeijoggte und ihn vermutlich nicht mal bemerkte, und sollte er es doch tun, dann hielt er ihn wahrscheinlich für einen komischen Kauz. Milan war sich sicher, dass ihn die meisten für seltsam befanden. Ihn innerlich verurteilten, vielleicht auch bemitleideten und ihm unwillkürlich den Stempel anders aufdrückten. Was ja auch stimmte, er war nun mal anders und er würde immer anders sein. Eigentlich hatte er sich damit abgefunden, aber es gab Momente, in denen er das hasste, sich hasste. Und jetzt war einer dieser Momente, er hatte das Gefühl, dass dieser Moment niemals enden würde, das Einzige, das dagegen ankommen würde, wäre … Energisch schüttelte Milan den Kopf. Es war schwachsinnig, sich so sehr von einem einzigen Geräusch abhängig zu machen. Aber Geräusche waren nun mal alles, was er hatte, ohne, dass er in direktem Kontakt damit kommen musste. Gerade, als er frustriert aufgeben und gehen wollte, hörte er sie – die Schritte. Für einen Moment versteifte er sich, dann lehnte Milan sich wieder zurück. Gebannt lauschte er den Schritten. „Hey, bleib mal kurz stehen“, wollte er sagen, als das Geräusch sich auf seiner Höhe befand, aber die Worte blieben kleben, machten seine Zunge schwerer und er war zum Schweigen verdammt. Alles, was er konnte, war zuzuhören, wie sich die Schritte in regelmäßigem Tempo entfernten. Milan war wütend, auf sich selbst, auf die Person, die unregelmäßig vorbeijoggte, auf seinen defekten Sehnerv, auf Simon, eigentlich auf alles und jeden, auf das und den man wütend sein konnte. Die Wut ballte sich, staute sich auf, wuchs, jeder Grund schien sich aufzustapeln und Milan wurde unruhig. Langsam stand er auf und machte sich auf den Weg.
Obwohl er nichts sah, lief er ziemlich sicher, immer begleitet vom Rattern und Klicken des Blindenstocks auf dem Bordstein, den er so abgrundtief hasste. Meistens, weil er sein Anderssein so hervorhob, manchmal aber auch, weil er so nicht ungestört jedes Geräusch wahrnehmen konnte, so wie jetzt. Er wollte jeden kleinsten Ton kosten und nutzen, da störte der Blindenstock nur. Und obwohl so viele sagten, dass „das Ding doch eine tolle Erfindung“ und „so eine große Hilfe“ war, wusste er es besser: Es war keine wirkliche Hilfe, viel mehr ein Hindernis. Oft verpasste er Kleinigkeiten, wie beispielsweise das fröhliche, ansteckende Pfeifen von jemandem, der gute Laune hatte. Immer wieder machte der Stock ihm Probleme, immer noch, nach all den Jahren. So nahm er, wie jetzt, nicht wahr, wie die Krallen eines Hundes auf dem Bordstein klickerten – und zuckte erschrocken zusammen, als das Tier ihn – oder doch eher seinen Blindenstock? – plötzlich anbellte. Natürlich wäre ihm das auch passiert, wenn er den Hund zuvor gehört hätte, aber dann wäre er vermutlich eher darauf vorbereitet gewesen. Mit einem Mal überkam ihn der Wunsch, sich einen Blindenhund anzuschaffen. Vielleicht wäre er dann auch nicht ganz so einsam.
Mit jeder Stunde – mittlerweile waren es fünf - wurde dieser Wunsch nach einem Blindenhund größer und er beschloss, seine Mutter dazu zu überreden.
„Mama?“, wandte er sich an seine Mutter und sie gab ein Geräusch von sich, das bedeutete Ich hör zu.
„Können wir uns einen Hund anschaffen? Also…einen Blindenhund?“, setzte er zögernd an. Seine Mutter lachte auf und schnaubte verächtlich – was Milan jeden Funken Hoffnung nahm.
„Wozu?“, fragte sie.
„Ähm…weil das eine…na ja, es wäre eine gute Hilfe für mich. Und ich hasse diesen verdammten Stock“, erwiderte er.
„Weißt du denn nicht, was für ein Aufwand so ein Hund ist? Allein die Kosten! So ein Blindenhund kostet wesentlich mehr als ein normaler Hund!“, regte sich seine Mutter auf.
„Aber vielleicht übernimmt ja die Krankenkasse einen Teil der Kosten? Den Blindenstock haben sie ja auch gezahlt!“, wandte Milan ein.
„Ach, Milan, red doch keinen Unsinn. Du kannst doch einen Stock nicht mit einem Hund vergleichen. Und außerdem: Klinge ich so, als hätte ich die Nerven für einen Hund? Ich will mich gar nicht weiter damit auseinandersetzen. Das Thema ist für mich durch.“
Milan schluckte und wagte es nicht, weiter mit ihr zu diskutieren. Schweren Herzens akzeptierte er das „Nein“ seiner Mutter.