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Kapitel 13 - Leyla

Fasziniert beobachtete sie, wie sich die goldschimmernden Seifenblasen vor ihrem inneren Auge an Milans Stimme anpassten, je nachdem, wie sie sich veränderte. Je freudiger er klang, desto intensiver und heller wurde der goldene Schimmer. Je sanfter und leiser seine Stimme wurde, desto kleiner wurden sie. Am liebsten hätte sie aufgelacht wie ein kleines Kind. Leyla hatte schon in dem Moment, an dem sie ihn das erste Mal gesehen hatte, gewusst, dass er mehr als nur irgendein Typ war, aber niemals hätte sie vermutet, dass er sich so sehr von anderen unterschied – und das auf mehr als nur eine Art, eine angenehme, positive. Unwillkürlich fragte sie sich, ob es ihm ähnlich ging oder ob sie einfach nur irgendwer für ihn war. Ob er sich freute, mit ihr reden zu können oder ob es ihm egal war. Andererseits … warum sonst hätte er dann so sanft, fast schon beschämt, gesagt, dass er froh war, dass sie zu ihm gekommen war und ihn angesprochen hatte?

„Darf ich mich zu dir setzen?“, fragte sie und ärgerte sich darüber, dass sie so unsicher klang. Manchmal fragte sie sich, ob die Leute genervt waren von ihrer Schüchternheit – und wie ein anderer Synästhetiker, der Stimmen sehen konnte, diese Gehemmtheit wahrnehmen würde, falls überhaupt.

„Aber natürlich.“

Der Schimmer wurde stärker, heller, die Blasen größer und ihr Lächeln breiter. Sie setzte sich neben ihn, presste die Beine zusammen, klemmte die Hände zwischen die Oberschenkel und machte sich möglichst klein. Bei jeder Bewegung knarrte die Bank ein wenig. Zwischen ihr und ihm war ein recht großer Abstand und Leyla wusste nicht, ob sie näher rücken sollte. Ob das für Milan in Ordnung war. Sie waren immer noch nahezu Fremde. Sie beobachtete, wie seine Hand langsam über die raue Holzfläche in ihre Richtung wanderte, bis sie gegen ihr Bein stieß.

„Du musst nicht so weit weg sitzen, ich kann dich eh nicht betatschen oder so, dafür bin ich zu blind.“

Er lachte und erst, als sie in das Lachen mit einfiel, merkte sie, dass sie die ganze Zeit über den Atem angehalten hatte. Dann rutschte sie näher, langsam, vorsichtig und – typischerweise – unsicher.

„Leyla.“

Die Ernsthaftigkeit in seiner Stimme sorgte dafür, dass sich ihr Magen zusammenzog, die Seifenblasen kleiner, der Schimmer schwächer und dunkler wurde. Nervös schluckte sie.

„Du musst nicht immer so unsicher sein.“

Obwohl sie dagegen ankämpfte, konnte sie nicht anders, als laut loszulachen, nur für einen kurzen Moment und es war auch kein schönes, wärmendes Lachen, es war bitter und dunkel, zusammengewebt aus Verzweiflung und Unglauben.

„Du wärst an meiner Stelle auch unsicher“, erwiderte sie, versuchte, den heranfliegenden Schmerz in der Stimme zu verbergen. Leyla warf ihm einen Blick zu und irgendetwas an seiner Haltung änderte sich, schien zu sagen Ich spüre deinen Schmerz, aber vielleicht bildete sie sich das auch nur ein.

„Warum?“, fragte er und klang interessiert.

„Das erzähl ich dir ein anderes Mal“, meinte sie nach einer kurzen Pause. Sie fühlte sich noch nicht bereit zu, ihm von der Sache zu erzählen.

„Okay, wie du willst. Ich hab ´ne Menge Zeit.“

Eine Weile saßen sie schweigend da, dann hörte Leyla sich sagen: „Willst du Alpha besuchen?“

Überrascht wandte er das Gesicht in ihre Richtung und sagte dann: „Gerne!“

Sie gingen erst zwei Minuten und obwohl Milan absolut sicher lief, griff er irgendwann nach ihrer Hand. Irritiert warf sie ihm einen Blick zu und er sagte, fast, als hätte er ihren Blick bemerkt, ruhig „Dadurch fühl ich mich sicherer“ und lächelte. Da war es wieder, dieses ansteckende, warme Lächeln, das sich sofort auf Leyla übertrug. So liefen sie durch den Park und obwohl Leyla nicht ganz verstand, was hier passierte, was das hier bedeutete, fühlte sie sich unglaublich wohl.

Als sie vor ihrer Tür standen, fragte Milan beinahe misstrauisch: „Sind wir Nachbarn? Der Weg kommt mir irgendwie bekannt vor.“

Verlegen bejahte sie seine Frage und er lachte.

„Verrückt, dass wir uns erst jetzt treffen.“

„Da hast du recht“, stimmte sie ihm zu und schloss die Tür auf.

„Amy!“, rief sie fröhlich und die Hündin kam heran getrottet, inklusive zweier Welpen im Schlepptau, die freudig zu Leyla rannten. Während die zwei an ihr hochsprangen und jeder versuchte, ihre alleinige Aufmerksamkeit zu erhalten, hüpfte ein dritter Welpe heran und steuerte auf Milan zu.

„Na, Alpha, erkennst du ihn?“, grinste Leyla und bemerkte, wie sehr sich Milan freute. Er kniete sich langsam hin und streckte eine Hand aus, die Alpha zufrieden ableckte. Obwohl der kleine Rüde sonst eher ungestüm war, war er in Milans Nähe überraschend ruhig und geduldig, als spürte er, dass der Junge nichts sehen konnte. Einen Augenblick lang beobachtete Leyla Milan und Alpha, bis einer der zwei übrigen Welpen ihr in den Finger zwickte.

„Abby!“, empörte sie sich und wuschelte der kleinen Hündin über den Kopf. Dann griff sie, wie selbstverständlich, nach Milans Hand und zog ihn langsam in Richtung Wohnzimmer. Er „sah“ sie an - der Blick wäre wohl überrascht gewesen, hätte Milan eine gewöhnliche Mimik - und sie war selbst ganz verwundert über ihren Mut. Vorsichtig bugsierte sie ihn aufs Sofa und setzte sich neben ihn. Innerhalb von wenigen Sekunden tollten die zwei Welpen auf ihr herum, Alpha hielt sich wieder an Milan, der fröhlich lachte.

„Ich glaube, ich muss ihn adoptieren“, sagte er gespielt entschuldigend und Alpha bellte kurz leise, als wollte er sagen Wehe, wenn nicht.

„Wie heißen die anderen beiden?“, fragte Milan.

„Abby und Amor“, entgegnete Leyla und zeigte dabei auf den entsprechenden Hund, hatte verdrängt, dass er sie ja gar nicht sehen konnte.

„Alpha gefällt mir am besten. Er ist toll!“, meinte der Junge und Leyla lächelte zufrieden vor sich hin. Alpha war auch ihr Liebling, ganz insgeheim, aber das würde sie Milan nicht verraten.

„Ich guck mal, wo Amy bleibt“, murmelte sie, stand auf und suchte die Hündin. Die saß vor ihrem leeren Napf und sah ihr Frauchen vorwurfsvoll an.

„Sag bloß, du hast schon wieder Hunger“, seufzte Leyla und lachte. Kopfschüttelnd nahm sie den Napf von Amy und auch den Napf für Welpen, ging in die Küche und füllte sie auf. Dann klapperte sie ein wenig damit und einen Moment später standen drei Hunde vor ihr. Aus dem Wohnzimmer hörte sie ihren Gast rufen: „Alpha will nicht mehr weg von mir!“

Leyla verdrehte die Augen und dachte darüber nach, ob Alpha und sie nicht vielleicht Seelenverwandte waren. Keiner von beiden wollte Milan allein lassen, zumindest sagte ihr das ihr Gefühl. Ihre Vermutung bestätigte sich, als sie den Raum betrat, Alpha den Kopf hob und sie abwartend ansah. Erst, als sie lächelte, sprang er von Milans Schoß und ließ die beiden allein.

„Alpha ist wirklich ein besonderer Hund.“

In Milans Stimme lag … Sehnsucht? Verständnis? Schmerz? Etwas ganz anderes? Sie wusste nicht, Leyla war nicht gut darin, die bestimmte Stimmtonlagen bestimmten Gefühlen zuzuordnen. Sie wusste nur, dass sich die Seifenblasen veränderten, einen Schimmer annahmen, der bisher nicht vorgekommen war. Innerlich betete sie, dass ihr das helfen würde, Milan besser verstehen zu können.

„Wäre es in Ordnung, wenn wir Musik anmachen?“, fragte er, „ich brauche irgendwie immer Geräusche im Hintergrund, wenn ich schon nicht sehen kann.“

Leylas Herz fing an, zu rasen, Musik versetzte sie immer noch, nach all den Jahren, ein wenig in Panik. Es gab Momente, da kam sie ziemlich gut damit klar, was die Abfolge von Instrumenten, Tönen und Gesang mit ihr machten, aber es gab eben auch Momente, in denen Musik Wut und Abscheu in ihr auslöste. Sie war sich unsicher, wie sie jetzt damit klarkommen sollte. Diese neue, ungewohnte Situation überforderte sie.

„Ja, klar“, zwang sie sich, zu sagen, „was willst du denn hören?“

„Überrasch mich“, erwiderte ihr Gast und in ihr machte sich Erleichterung breit. Sie hatte befürchtet, dass er sich Deutschrap wünschte – dann sah sie rote Pyramiden vor sich, die, dem Beat angepasst, pulsierten. Aus irgendeinem Grund bereitete ihr das Unbehagen. Dadurch, dass sie nun die Musikauswahl in der Hand hatte, wurde es für sie einfacher, sich zu entscheiden, was sie sehen wollte. Also kniete sie sich vor das Musikregal und fuhr nachdenklich über die unendlichen CD-Hüllen. Ihre Mutter hörte alles Mögliche, aber sie wusste genau, wonach sie suchte. A … B … C … D … Da … De … Da war es ja! Zärtlich, als wäre es ein kleines, zerbrechliches Kätzchen, nahm sie Den Nussknacker aus dem Regal und legte die CD in die Musikanlage. Bevor sie auf Play drückte, atmete sie tief durch und bereitete sich mental auf das Farbschauspiel, das bald auf sie hinabstürzen würde, vor.

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