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Kapitel 16 - Milan

Wer ist denn der kleine Kerl dort drüben?“, fragte seine Mutter.

„Wo denn? Ich kann ihn irgendwie nicht sehen“, erwiderte Milan sarkastisch.

Er hatte das Gefühl, dass seine Mutter immer noch gerne geflissentlich ignorierte, dass er blind war.

„Da am Gartenzaun ist ein Hund und kratzt die ganze Zeit daran. Als ob er zu uns rüber wollte“, erklärte sie bereitwillig.

„Ist er noch ein Welpe?“, fragte Milan, plötzlich aufgeregt. „Ja, ich glaube schon.“

Er wurde hibbelig. Das konnte nur Alpha sein. Und Alpha verband er mit Leyla und Leyla wiederum verknüpfte er mit Helligkeit und Leichtigkeit.

„Das ist bestimmt Alpha!“, rief er erfreut.

„Alpha? Wer zur Hölle ist das denn?“

„Der Hund, Mama. Der heißt Alpha. Und er will zu mir. Hoffe ich zumindest.“

„Zu dir? Aber wieso … ? Ich meine, woher … ? Ach, egal. Ich frag die Nachbarn mal, ob er zu uns darf“, seufzte sie und klang ungewöhnlich resigniert, was Milan ziemlich irritierte.

„Ich würde mich freuen“, meinte er und wusste nicht, was er sonst noch sagen sollte.

Zehn Minuten später kam seine Mutter wieder – und hinter ihr klackerten Hundekrallen auf dem Parkettboden. „Du warst gestern bei unseren Nachbarn?“, fragte sie erstaunt. Milan brummte zustimmend, dann sagte er „Hey Alpha, komm her“ und klopfte sich auf den Oberschenkel. Der kleine Hund sprang auf seinen Schoß und kniff ihm freudig in die Nase. Milans Mutter lachte.

„Der ist ja echt süß. Der darf gern öfter vorbeikommen.“

Ihre Stimme nahm einen liebevollen Ton an, einen Ton, der Milan Hoffnung gab. Darauf, dass er sie vielleicht doch noch zu einem Blindenhund überreden konnte – und der ihm einen schmerzhaften, neidvollen Stich versetzte. Er konnte sich nicht erinnern, dass seine Mutter je in so einer sanften Tonlage mit ihm geredet hatte. War er gerade wirklich eifersüchtig auf einen Hund? Weil seine Mutter sich von dem Welpenzauber einlullen ließ und er nun mal „nur“ ihr Sohn war? Ihr blinder noch dazu? Unwillkürlich drückte er Alpha an sich, wollte ihn plötzlich nur für sich. Milan kam sich schrecklich dumm und kindisch vor, aber er konnte nicht anders. Alpha war – zusammen mit Leyla, allerdings die beiden waren für ihn ohnehin ein Team – der Erste gewesen, der ihm wirklich Liebe, bedingungslos und vorurteilsfrei, entgegengebracht hatte. Was er von seiner Mutter leider nicht behaupten konnte. Er verstand, dass es nicht einfach war, ein blindes Kind zu haben, aufzuziehen und sich dementsprechend anzupassen, aber dennoch hatte sie ihm regelmäßig, all die Jahre lang, wenn auch vermutlich unbewusst, das Gefühl gegeben, dass er ein schlechter Mensch war. Dass Alpha ihm das nicht vermittelte, tat seinem Selbstwertgefühl ungemein gut und Leyla verstärkte diesen Effekt nur noch um einiges. Mit einem Mal zog es in seinem Herzen, er vermisste Leyla. Er vermisste es, ihre Stimme zu hören und zu wissen, dass sie neben ihm saß, ihn so akzeptierte, wie er war. Das Gefühl, angenommen zu werden, hatte ihm oft gefehlt und er war froh, dass Alpha dieses Empfinden abschwächte, aber es war doch etwas anderes. Hunde – Tiere generell – brachten einem fast immer unendliche Liebe entgegen, oder? Was Alphas Liebe natürlich nicht weniger wertvoll machte.

„Achtung, Alpha, ich steh jetzt auf.“

Vielleicht war es Zufall, vielleicht hatte Alpha ihn aber auch wirklich verstanden, denn er sprang von seinem Schoß und Milan spürte noch immer das warme Hundefell, woraus er schloss, dass Alpha neben ihm stand. Es war fast so, als wollte das Tier sagen Keine Angst, ich bin immer noch da. Milan lächelte und bewegte sich dann in Richtung seines Zimmers. Der Welpe folgte ihm, als hätte er nie etwas anderes getan.

Im Zimmer angekommen überlegte er für einen Moment, was genau er jetzt tun könnte, als ihm eine Idee kam.

„Mama! Komm mal bitte!“, rief er und eine Minute später stand sie auch schon im Zimmer und fragte: „Was gibt’s?“ „Könntest du mir auf YouTube den Nussknacker raussuchen? Ich würde ihn gerne hören“, bat er sie.

„Den Nussknacker? Aber wieso…?“

„Tu es bitte einfach, okay?“, meinte er nachdrücklich.

Kurz darauf lief die Musik und seine Mutter war gegangen. Nachdem Milan sich draufgelegt hatte, sprang auch Alpha, der ihm treu gefolgt war, aufs Bett. Dort kuschelte er sich an ihn, schnaufte zufrieden und dem ruhigen, regelmäßigen Atem zufolge schien der Hund kurz darauf zu schlafen.

Alphas Fell zwischen den Fingern und die Musik im Ohr sorgten dafür, dass Milans Sehnsucht nach Leyla ein wenig schwächer wurde. Was jedoch nicht für seine Gedanken galt. Diese rasten, rammten sich, wichen sich gegenseitig aus. Sein Kopf war der reinste Autoscooter. Warum machte er sich von Leyla – die er eigentlich kaum kannte – so abhängig, wie er sich von den Schritten abhängig gemacht hatte? Und war das, was er fühlte … Verliebtheit? War er in sie verliebt? Oder war es einfach nur diese neue Situation, die diese Verwirrung in ihm auslöste? Aber warum dachte er dann so intensiv an sie?

Frustriert seufzte er, drehte sich auf die Seite – und zuckte überrascht zusammen, als Alpha genau in diesem Moment schnaufte und die Luft dabei genau in sein Gesicht blies.

„Hoppla“, murmelte er lachend und der Welpe drehte sich auf den Rücken, stieß ihm dabei aus Versehen seine Hinterpfote in den Bauch. Lächelnd schloss Milan die Augen und beschloss, es Alpha gleichzutun, einfach eine Runde zu schlafen.

Als er eine Stunde später aufwachte – zumindest sagte ihm das seine innere Uhr – war Alpha verschwunden, was eine seltsame Panik in ihm aufsteigen ließ, nur für einen Moment. Dann beruhigte er sich damit, dass Leyla vermutlich von der Schule nach Hause gekommen war und Alpha abgeholt hatte. Sein Herz zog sich ein wenig zusammen bei dem Gedanken daran, dass er sie verpasst hatte. Seufzend stand er auf und hatte das Gefühl, dass um ihn herum alles noch viel dunkler war als ohnehin schon. Es frustrierte ihn, dass Leyla so eine Macht über etwas haben konnte, worauf eigentlich nichts und niemand Einfluss hatte, weil es unmöglich war. Aber vermutlich bildete er sich das nur ein, also hatte gar nicht Leyla diese Wirkung, sondern lediglich sein Gehirn. Dieser Gedanke beruhigte ihn wieder. Er lächelte kurz und wollte sein Zimmer verlassen, als er eine Stimme hörte, die ihm Gänsehaut bescherte. Unwillkürlich versteifte Milan sich, sein ganzer Körper schrie Nein, wieder und wieder, wie eine hängende Schallplatte. Verzweifelt blieb er stehen, wusste nicht genau, was er tun sollte. Denn obwohl er diese Situation gern vermieden hätte, wusste er, dass es früher oder später ohnehin dazu kommen würde. Es war unvermeidbar. Also atmete er tief durch, öffnete die Tür und betrat schließlich die Küche, wo er versuchte, den Nikotingeruch zu ignorieren und auch diese unbekannte, für ihn undefinierbare Note, die er schon beim letzten Mal wahrgenommen hatte, als sein Bruder da gewesen war. Dann sagte er steif: „Hallo, Simon.“

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