Читать книгу Farbenblind - Maike Kops - Страница 14
ОглавлениеKapitel 10 - Milan
Der Novemberregen trommelte hart und unerbittlich auf den Asphalt, das Dach des Hauses, die parkenden Autos. Milan mochte das Geräusch von Regen, es beruhigte ihn und er bildete sich gerne ein, dass das fallende Wasser mit ihm sprach, Geheimnisse flüsterte, die nur er verstand, Geschichten erzählte, die Jahrtausende alt waren. Er hatte das Gefühl, geborgen zu sein, eingehüllt in das Prasseln wie in eine Decke.
Und er genoss die Frische, die ihm auf der Terrasse entgegenschlug, die der Regen mit sich brachte, die die Luft reinigte. Nach einem Regenguss hatte Milan immer das Gefühl, dass nicht nur seine Umwelt, sondern auch er selbst „reiner“ war. Er seufzte, setzte sich und streckte die Hand aus, die Handfläche gen Himmel, bis vereinzelt Tropfen auf seinen Fingerspitzen landeten. Vorsichtig, so als wären sie wertvolle Glasperlen, zerrieb er sie mit dem Daumen und wiederholte das Ganze ein paar Mal. Allerdings spürte er die Tropfen irgendwann nicht mehr, weshalb er aufgab, weitere aufzufangen. Stattdessen lauschte er dem Regen, der mittlerweile schwächer und leiser geworden war. Durch das Regenprasseln nahm er plötzlich leise, sanfte Klaviermusik wahr. Bedächtig schlängelte sie sich zwischen den Regentropfen hindurch, bahnte sich geschickt ihren Weg bis hin zu seinen Ohren, wo sie sich einnistete und es sich gemütlich machte. Milan lächelte zufrieden vor sich hin, all seine Sorgen schienen vergessen. In diesem Augenblick war eben nur dieser wichtig: Der Augenblick. Es zählten nicht Simon und der damalige Streit. Es zählten nicht die Schritte irgendeiner fremden Person, die er vielleicht nochmal hören würde, vielleicht aber auch nicht. Es zählten nicht der Wunsch nach einem Hund und die Ablehnung gegenüber seinem Blindenstock. Es zählte nur der Augenblick, zusammengesetzt aus der sanften Klaviermusik und dem reinigenden Regen. Milan wünschte sich, dass dieser Moment niemals aufhörte.
Ein helles Bellen riss ihn aus der Momentaufnahme heraus.
„Bleib hier!“, rief ein Mädchen, halb lachend, halb verzweifelt, doch den weiteren, verzweifelten Rufen des Mädchens zufolge, hatte der Hund wohl weniger Lust, stehenzubleiben. Stöhnend klatschte das Mädchen ein paar Mal in die Hände, pfiff, doch nichts half. Milan konnte nicht anders, als loszulachen. Auch, wenn er nichts sah, nicht wirklich wusste, wie ein Hund aussah, stellte er sich den Anblick recht lustig vor. Plötzlich berührte ihn etwas Feuchtes an der Hand und er spürte, wie sich etwas auf seine Knie abstützte. Irritierte zuckte Milan zusammen.
„Nein, Alpha, nein. Alpha!“ Die Stimme des Mädchens war jetzt ganz nah.
„Oh Gott, tut mir leid“, sagte sie und das Gewicht auf seinen Knien verschwand. Ein leises, irritiertes Bellen ertönte und das Mädchen seufzte.
„Ich bin Leyla.“
„Milan“, antwortete er und hatte das Gefühl, etwas zu verpassen.
„Ich … ähm … ist bei dir alles okay?“
Unsicherheit lag in Leylas Stimme und er hatte jetzt schon Angst davor, wie sie reagieren würde, wenn er ihr sagte, dass er blind war – was sie bisher wohl nicht bemerkt hatte. Wie schnell merkten die Leute sowas überhaupt? Milan konnte nicht anders, als laut aufzulachen.
„Na ja, wie man’s nimmt. Ich bin … Hoppla!“, brach er ab. Der Hund war auf seinen Schoß geklettert, vielleicht auch gesprungen und leckte ihm nun übers Kinn. Vorsichtig tastete Milan nach dem Fell des Tieres und strich behutsam darüber, dann vervollständigte er seinen Satz:
„ … blind“
„Oh“, war das Einzige, was von Leyla kam.
Er unterdrückte ein Grinsen, das war die übliche Reaktion.
„Ist das dein Hund?“, fragte er und wünschte sich mehr denn je, sehen zu können. Er wollte wissen, wie Leyla aussah, wollte wissen, wie Alpha aussah.
„Ja“, meinte sie, und der Stolz war kaum zu überhören, ehe sie bedauernd hinzufügte: „Noch.“
„Noch?“, fragte er nach.
„Er ist noch ein Welpe und wir müssen ihn – zusammen mit seinen Geschwistern – bald abgeben. Also, nach der Ausbildung, die übernehmen wir zeitlich, zumindest zum Teil.“
Er nickte und kraulte den Hund, der sich inzwischen auf seinem Schoß ausgebreitet hatte.
„Welche Ausbildung?“, wollte er wissen.
„Zu Polizeihunden. Vorausgesetzt, sie eignen sich“, erwiderte sie und er gab nachdenklich ein zustimmendes Brummen von sich.
„Hm, na ja, ich persönlich glaube ja, dass nur einer geeignet ist, wenn überhaupt. Meine Mutter sieht das ein wenig anders.“
Schweigen machte sich breit und Milan streichelte gedankenverloren den Welpen.
„Ich kann ihn zwar nicht sehen, aber ich bin mir sicher, er ist trotzdem süß.“
Leyla lachte. „Klar ist er das.“
Er lachte ebenfalls und hatte das Gefühl, dass da irgendwas in der Luft lag, unausgesprochen, aber genau deshalb so wichtig.