Читать книгу Farbenblind - Maike Kops - Страница 8
ОглавлениеKapitel 4 - Milan
Blind zu sein war so ziemlich das Schlimmste, was er sich vorstellen konnte. Er hätte seine Ohren sofort gegen seine Augen getauscht. Er war sich sicher, dass es leichter war, taub durch die Welt zu gehen als Augen zu haben, die nicht mal ansatzweise funktionierten. Noch nie funktioniert hatten. Er wünschte sich, dass er zumindest ein paar Jahre hätte sehen können, damit er sich unter Farben etwas vorstellen konnte. Worte wie „rot“, „blau“ oder „lavendelfarben“ sagten Milan nicht viel. Allerdings stellte er sich bei „lavendelfarben“ etwas vor, das ungefähr dem Duft entsprach. Etwas Leichtes, Helles, irgendwie süßlich und unaufdringlich.
Vorsichtig streckte er die Hand aus, so lange, bis seine Fingerkuppen auf die Sitzfläche der Parkbank trafen. Langsam fuhr er ein Stück des Holzes nach, bis er sich sicher war, sich setzen zu können, ohne dabei die Kante zu erwischen und von der Bank zu kippen. Natürlich hätte er seinen Blindenstock dafür benutzen können, aber er wollte nicht auf das leise Klicken des Stockes vertrauen, lieber verließ er sich auf seinen Tastsinn. Milan hasste den Stock, er gab ihm das Gefühl, noch hilfloser zu sein. Und nicht nur das – seine Hilflosigkeit, seine Behinderung waren für jeden sichtbar. Die Steigerung wäre die Blindenbinde gewesen, die anderen geradezu ins Gesicht schrie: Seht her, ich bin blind und bemitleidenswert! Zumindest stellte er sich es so vor und darauf konnte er gerne verzichten.
Plötzlich realisierte er, dass seine Hand noch immer auf der Sitzfläche der abgenutzten Parkbank ruhte. Furchen an den Kanten der einzelnen Holzstreben, hier und da waren einzelne Splitter herausgebrochen, wodurch er die Spitzen der übrigen Holzfasern ertasten konnte. Hin und wieder gab es kleine Löcher in der Oberfläche, die er nicht zuordnen konnte und er nahm sich vor, seine Mutter bei Gelegenheit danach zu fragen.
Milan hatte das Gefühl, dass sie unter der Wärme seiner Hände ausblich, so, wie die Sonne es tat, zumindest, wenn er seiner Mutter Glauben schenkte. Und warum sollte sie ihn anlügen?
Nachdenklich legte er den Kopf in den Nacken, genoss die Sonnenstrahlen auf seinen Lidern, die die blinden Augen verdeckten.
Früher hatte er dabei nie die Augen geschlossen, für ihn war es ja so oder so stockdunkel. Aber eines Tages hatte sein Bruder ihn gebeten, doch bitte dabei die Augen zu schließen, damit es nicht so gruselig wirkte – damals hatten sie noch miteinander geredet. Eine Zeit lang hatte er nicht verstanden, was daran unheimlich sein sollte, bis seine Mutter es ihm erklärt hatte. Damals hatte er gelacht und gesagt, dass ihm doch egal sei, ob man ihm ansah, dass er blind war. Er hatte nicht zugeben wollen, dass er es nahezu darauf angelegt hatte, da erschien ihm es wie ein guter Kompromiss. Damals, als er zehn oder elf Jahre alt war, das Gefühl brauchte, irgendetwas Besonderes zu sein – und mit besonders meinte er nützlich. Zu dieser Zeit hatte ihn dieses Gefühl erdrückt, immer wieder hatte er das Gefühl gehabt, dass der Gedanke, er sei nutzlos, ihm jedes bisschen Luft aus den Lungen saugte. Heute hatte er dieses Gefühl immer noch, aber er ging anders damit um. Er wollte etwas Nützliches tun, aber es musste nicht zwingend im Hier und Jetzt sein. Er war sich sicher, dass der richtige Zeitpunkt kommen würde.