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ОглавлениеHeinrich Lackner, ein zurückhaltender, ruhiger Bankangestellter, die Seriosität in Person und als stellvertretender Leiter der Schalterhalle auch für die Hauptkasse zuständig, wie im hausinternen Jargon der Tresorraum im dritten Untergeschoss bezeichnet wurde, kam häufig früher als notwendig zur Arbeit. Er parkte seinen Wagen in einem nahen Parkhaus und betrat das mächtige Sparkassengebäude über die Zufahrt zur Tiefgarage, in der nur Kunden und die Vorstände ihre Fahrzeuge abstellen durften. Wie häufig, so galt auch an diesem Märzmontag sein erster Gang der Hauptkasse, die sich unter dem zweiten Untergeschoss der Tiefgarage befand. Ein Lastenaufzug, wie ihn die Angestellten nannten, führte durch alle Etagen, war aber nur für die interne Nutzung gedacht. Mit ihm fuhr Lackner ganz hinunter, wo in den klimatisierten, aber schmucklosen Räumen bereits Hauptkassierer Berthold Rilke einige Aufzeichnungen las. Wie immer prüfte er alle Daten, Zahlen und Anweisungen mehrfach, wie er es als penibler Bankmitarbeiter ein Berufsleben lang gewohnt war. Auch jetzt, kurz vor dem Renteneintritt, hatte er nichts von seiner korrekten Arbeitsweise verloren. Das Geld, das für den täglichen Geschäftsbetrieb droben in der Schalterhalle gebraucht wurde, konnte er jedoch nicht allein aus dem Tresor holen. Dazu bedurfte es eines zweiten Angestellten, und der war Lackner. Die eingespielte Prozedur wiederholte sich deshalb jeden Morgen: Lackner gab in das Zahlenkombinationsschloss die Geheimnummer ein, worauf Rilke mit seinem Schlüssel die schwere gepanzerte Tür öffnen konnte, hinter der sich über Nacht nur ein vergleichsweise geringer Betrag befand. Die beiden Männer wechselten noch ein paar Worte zum gestrigen Sonntag, den Lackner trotz des schlechten Wetters auf einer Wanderhütte bei Gruibingen verbracht hatte, und widmeten sich kurz einer weiteren Routinearbeit: Beide mussten sie den Scheck unterschreiben, mit dem die Geldboten jeden Morgen einen größeren Betrag für den zu erwartenden Tagesbedarf bei der Landeszentralbank-Filiale holen mussten, die sich Luftlinie nur etwa 300 Meter entfernt befand. Heute waren es 700.000 Mark.
»Dann noch einen schönen Tag«, wünschte Lackner seinem älteren Kollegen, der bisweilen nervös werden konnte, wenn nicht alles so lief, wie er es sich vorstellte. Dazu jedoch gab es an diesem Vormittag keinen Anlass.
Lackner bestieg den Aufzug und fuhr zur ebenerdig gelegenen Schalterhalle hinauf, in der sich sein Büro befand. Schon waren auch weitere Angestellte eingetroffen, die sich auf den Geschäftsbeginn vorbereiteten. Lackner machte sich über Akten und Protokolle her, in denen es um einige merkwürdige Überweisungen ging, die bei einem ausländischen Kunden aufgefallen waren. Als er ein paar Minuten später einen Kollegen in der Schalterhalle etwas dazu fragen wollte, lief ihm völlig unerwartet Rilke über den Weg, den er um diese Zeit noch immer im Tresorraum vermutet hätte. Bevor er ihn ansprechen konnte, war Rilke schnellen Schrittes Richtung Treppenhaus verschwunden. Lackner sah ihm eine Sekunde lang nach, zuckte verwundert mit den Schultern. So war Rilke eben. Oft in Eile, nervös und stets darauf bedacht, alles 100-prozentig richtig zu machen.
Lackner, der in Stresssituationen hingegen in sich zu ruhen schien und jedes noch so kritische Gespräch mit sonorer und sanfter Stimme entkrampfen konnte, setzte sich wieder hinter seinen Schreibtisch, um einige dubios erscheinende Geldtransaktionen zu verfolgen. Es verging kaum ein Monat, in dem nicht irgendetwas aus dem üblichen Rahmen fiel. Meist jedoch ließen sich die Sachverhalte logisch erklären, und der betroffene Kunde merkte von der hausinternen Prüfung überhaupt nichts. Allerdings schienen die Tricks der Ganoven und Geldwäscher immer ausgeklügelter zu werden. Spätestens seit es Geldautomaten gab, hatten die Betrugsversuche deutlich zugenommen. Es hatte bundesweit sogar schon Täter gegeben, die die stabilen Geräte mit Sprengladungen aus der Verankerung gerissen hatten.
So weit war es im beschaulichen Göppingen noch nicht gekommen, aber auch hier, im nördlichen Vorland zur Schwäbischen Alb zwischen Stuttgart und Ulm, war man bestimmt nicht davor gefeit.
Tief in Gedanken versunken, wurde Lackner vom schrillen Ton des Telefons wieder in die Realität zurückgeholt. Er nahm ab, meldete sich und hörte sofort eine wohlvertraute Frauenstimme, die heute aber viel ernster klang als sonst: »Sie sollen doch bitte mal zu Herrn Seifritz kommen.« Es war Chefsekretärin Karin Rüger.
Lackner brummte ohne weitere Nachfrage ein »Okay« und legte auf. Zum Chef. Das hatte ihm am frühen Montagmorgen gerade noch gefehlt. Was er wohl wollte?
Er schlug die Akten zu und machte sich auf den Weg quer durch die Schalterhalle, die für den Kundenbetrieb noch geschlossen war, hinauf durch das im Halbrund gebaute turmartige Treppenhaus mit den Bullaugenfenstern. Dort kam ihm auf halbem Weg Rilke mit blassem, ernstem Gesicht entgegen. »Was ist denn los?«, wollte Lackner wissen, weil er sofort merkte, dass etwas anders war als sonst.
Die Antwort fiel kurz und knapp aus: »Ich war bei Seifritz. Geh rauf.« Dann eilte Rilke an ihm vorbei abwärts.
Lackner stand für einen Moment wie belämmert. So hatte er seinen Kollegen noch nie erlebt. Plötzlich befiel ihn die Gewissheit, dass etwas Ungewöhnliches geschehen sein musste. Er verlangsamte seine Schritte und betrat vorsichtig die zweite Etage, das Reich der Vorstände, in dem für gewöhnlich gediegene Ruhe herrschte. Auch jetzt lag der Flur in absoluter Stille.
Er klopfte an die Tür des Vorzimmers und trat unmittelbar danach ein. Sein Blick fiel auf Chefsekretärin Karin Rüger, die kreidebleich an ihrem Schreibtisch kauerte und ihm grußlos andeutete, gleich ins Büro von Seifritz weiterzugehen, dessen Tür geschlossen war. Ihre junge Kollegin hatte nicht einmal aufgeschaut.
Lackners Verunsicherung stieg. Noch nie hatte es eine solch seltsame Situation gegeben. Er klopfte an die Tür, die sogleich geöffnet wurde. Vor ihm stand ein Uniformierter, der ihn in allerhöchste Alarmbereitschaft versetzte. Polizei, durchzuckte es Lackner. Üblicherweise kamen die Beamten direkt zu ihm, wenn es polizeiliche Ermittlungen gab. Die Anwesenheit eines Polizisten im Chefbüro konnte nichts Gutes bedeuten. Lag etwas gegen ihn selbst vor?
Aber die Sonnenbrille, das bärtige Gesicht und etwas, das wie eine Maschinenpistole aussah, jagten ihm augenblicklich ganz andere Ängste durch den Kopf: der Chef in der Gewalt von Gangstern.
Seifritz, der übernächtigt hinterm Schreibtisch saß, forderte seinen völlig irritierten Angestellten auf hereinzukommen und die Tür hinter sich zu schließen. Er hatte Lackners Entsetzen bemerkt und gleich klargestellt: »Herr Lackner, das sind keine echten Polizisten.«
Augenblicklich erfasste der Angestellte die bedrohliche Lage und erblickte erst jetzt den abseits stehenden zweiten Mann. Geschockt ließ er sich von dem sichtlich mitgenommenen Seifritz die Situation schildern – vor allem aber, dass die beiden Verbrecher seine Tochter entführt hätten. Worauf der Uniformierte, der die Maschinenpistole hielt, völlig unaufgeregt bekräftigte: »Keine Polizei. Wenn etwas schiefgeht, sieht Herr Seifritz seine Tochter nicht mehr lebend.«
»Und in der Schalterhalle gibt’s ein Blutbad«, ergänzte der andere ebenso ruhig.
»Die wollen fünf Millionen«, erklärte der Bankchef seinem Angestellten. »Ich hab ihnen aber bereits erklärt, dass das nicht geht.«
»Sie werden es hinkriegen«, lächelte der Uniformierte und sah Lackner in die Augen.
»Ich hab gesagt, dass der heutige Transport von der Landeszentralbank mit 700.000 Mark bald eintrifft – aber sie wollen fünf Millionen«, sagte Seifritz mit schwacher Stimme. Seine Hände zitterten, die Augen hinter der dicken Brille waren wässrig.
»Jetzt brauchen wir Ihre Hilfe«, wandte sich der falsche Polizist mit charmantem Unterton an Lackner, der nicht verstand, was dies bedeutete.
Seifritz stellte klar: »Herr Rilke holt einen Scheck. Mit dem können wir noch zwei Millionen bei der LZB besorgen lassen.«
Lackner kapierte: Weil zwei Unterschriften notwendig waren, mussten er und Rilke unterzeichnen. »Aber wenn die Boten gleich noch ein zweites Mal zur LZB kommen, fällt das auf«, gab er zu bedenken.
»Hab ich auch gesagt«, pflichtete ihm Seifritz bei, räumte dann jedoch ein: »Aber mit zwei Millionen könnte es klappen.
Der Uniformierte schien dies endlich zu begreifen, wandte sich aber drohend an Lackner: »Es darf nichts nach außen dringen. Denken Sie an die Tochter von Herrn Seifritz.«
Lackner musste sich eingestehen, dass es keinen Sinn machte, neuerliche Bedenken vorzubringen. Augenblicke später wurde Rilke von der Sekretärin hereingeführt. Er hielt den bereits ausgefüllten Scheck in der Hand, legte ihn auf den Schreibtisch des Chefs und unterschrieb. Seifritz nickte dankend, rührte das Papier aber nicht an, sondern gab nun mit einer stummen Handbewegung Lackner zu verstehen, dass es jetzt an ihm liege, den neuerlichen Geldtransport ebenfalls per Unterschrift zu bestätigen. Lackner zögerte, wartete noch auf eine klare Aussage seines Chefs, doch dieser verzog keine Miene. Sekretärin Rüger verfolgte angespannt die Szenerie und fragte sich insgeheim, weshalb nicht Seifritz selbst die zweite Unterschrift auf den Scheck setzte, denn kraft seines Amtes hätte er dies ohne Weiteres tun dürfen.
Sie spürte, dass auch Lackner darüber nachdachte. Er zögerte für einen kurzen Moment und überlegte offenbar, ob er es überhaupt würde verantworten können, per Unterschrift der Forderung der beiden Gangster nachzukommen. Aber immerhin schien es sein Chef so zu wollen. Wahrscheinlich, so beruhigte sich Lackner, wäre es bei der Landeszentralbank viel zu auffällig, wenn plötzlich der Bankchef höchstpersönlich die zweite Anforderung des Tages unterschrieben hätte.
Aber warum gerade er, Lackner, schoss es ihm durch den Kopf? Schließlich gab es außer ihm noch einen weiteren Angestellten, der befugt war, Geld von der Landeszentralbank zu ordern. Weshalb hatte Seifritz ausgerechnet ihn ausgewählt? Lackner verdrängte derlei Gedanken, denn er wollte unbedingt vermeiden, dass das Leben der jungen Frau leichtfertig aufs Spiel gesetzt wurde, nur weil er jetzt zögerte. Also trat auch er an den Schreibtisch, zückte einen Kugelschreiber und setzte mit zitternden Fingern seine Unterschrift unter das Dokument.
»Leiten Sie alles in die Wege«, nickte Seifritz dem Hauptkassierer zu. »Wir kommen dann auch runter.«
Rilke verschwand mit dem Scheck. Sobald die Boten mit den regulär georderten 700.000 D-Mark zurück sein würden, mussten sie sofort wieder zur Landeszentralbank geschickt werden, um den zweiten Auftrag zu erledigen. »Na also, geht doch«, brummte der Uniformierte, nachdem Rilke den Raum verlassen hatte. »Wenn wir das Geld haben, ist Ihre Tochter frei.«
Seifritz wischte sich mit dem Handrücken Schweiß von der Stirn und sah auf die Uhr. Je näher die Öffnungszeit der Bank rückte, desto mehr Angestellte hielten sich in dem großen Gebäude auf. »Bomben und Granaten«, schallte es wieder durch seinen Kopf. Die Gangster wollten Sprengkörper in der Schalterhalle deponiert haben. Wenn dies tatsächlich so war, dann musste das Zeug bereits gestern hereingebracht worden sein. Womöglich war das Ganze die kaltblütige Tat einer professionellen Bande – und womöglich doch ein Wachposten gegenüber am Bahnhof postiert, um auf verdächtige Bewegungen außerhalb des Bankgebäudes zu achten. Dann aber müsste er mit den Geiselnehmern in Funkkontakt stehen. Dafür aber, so überlegte Seifritz, hatte es bisher keine Anhaltspunkte gegeben.
Der Uniformierte umklammerte die Aktentasche, in der sich die Maschinenpistole befand, und gab seinem Komplizen einen Wink. »Sie beide«, er wandte sich an Seifritz und Lackner, »bringen uns jetzt runter zur Hauptkasse.«
»Aber immer dran denken«, schaltete sich der schweigsamere Gangster ein, »wenn irgendjemand die Polizei ruft, ist Ihre Tochter tot.«
Seifritz reagierte nicht, sondern stand auf und verließ als Erster das Büro, gefolgt von den beiden Gangstern und Lackner. Die Sekretärin blickte die Männer sprachlos und entgeistert an. Erst jetzt schien sie die ganze Tragweite des Geschehens verinnerlicht zu haben. Ihr bislang couragiertes Auftreten war purer Angst gewichen.
»Ich bin für niemanden zu sprechen«, erklärte Seifritz und fügte verunsichert an: »Niemand darf etwas erfahren. Niemand. Haben Sie mich verstanden?«
Karin Rüger saß wie erstarrt auf ihrem Bürostuhl und umklammerte die Schreibtischkante. Ihre junge Kollegin wagte es nicht, sich umzudrehen, sondern tat so, als sei sie mit dem Studium einer Akte beschäftigt.
Erst als die vier Männer den Raum verlassen hatten, verspürte die Chefsekretärin für einen Moment eine gewisse Erleichterung. Obwohl an ein gutes Ende noch nicht zu denken war.
Auf dem Flur der Vorstandsetage herrschte die übliche Stille. Seifritz hatte inständig gehofft, dass noch niemand unterwegs war. Wie hätte er den Angestellten erklären sollen, weshalb er um diese Zeit in Begleitung eines Polizisten und eines weiteren Fremden schon sein Büro verließ, dazu noch gemeinsam mit Lackner?
Seifritz ging zielstrebig zu dem sogenannten Lastenaufzug, den er mit einem Knopfdruck anforderte. Die paar Sekunden, bis er eintraf, steigerten Seifritz’ innere Aufregung ins Unermessliche, während die beiden Kidnapper weiterhin so taten, als seien sie sich ihres Vorgehens absolut sicher.
Wortlos und dicht gedrängt standen sie nebeneinander, als der Aufzug in das dritte Untergeschoss ruckelte. Seifritz mied den Blickkontakt zu den anderen und starrte auf die beleuchteten Tasten. Lackner studierte hingegen verstohlen die verkleideten Gangster und ihre seltsame Maskerade und versuchte, sich möglichst viele Einzelheiten einzuprägen.
Der Aufzug hielt mit einem sanften Ruck, die Tür schob sich beiseite, und grelles, kaltes Licht schlug ihnen entgegen.
Im Vorraum, in dem sich die Kundenschließfächer befanden, sahen sie durch eine dicke Panzerglasscheibe in den eigentlichen Tresorraum, wo Hauptkassierer Berthold Rilke mit mehreren Bündeln Geldscheinen hantierte, die er in eine Ledertasche steckte. Als Lackner mit Seifritz und den beiden Gangstern über einen weiteren Nebenraum hereinkamen, stellte Rilke mit vor Aufregung heiserer Stimme fest: »Die 700.000 sind bereits da.« Sein Gesicht war aschfahl, jedes Wort verriet hochgradige Nervosität. »Die Boten sind gerade wieder weg, um die zwei Millionen zu holen«, ergänzte er und signalisierte damit, dass der Geldtransporter bereits wieder zur Landeszentralbank-Filiale unterwegs war.
»Wissen die Boten Bescheid?«, wollte Seifritz wissen.
»Nein. Bisher nicht. Aber gewundert haben sie sich«, erwiderte Rilke verängstigt.
Natürlich war es ungewöhnlich, dass an einem ganz normalen Geschäftstag sofort wieder eine größere Summe geordert wurde. Normalerweise kam dies allenfalls in der Vorweihnachtszeit vor, wenn die Zahl der Barabhebungen zunahm. Auch die Boten würden sich möglicherweise ihre Gedanken machen, zumal diese allein schon ihres früheren Berufes wegen misstrauisch waren. Bei den meisten handelte es sich nämlich um pensionierte Polizeibeamten, die sich mit diesem Job ein Zubrot verdienten, oder um jüngere Männer, die ihre Ausbildung bei der Polizei abgebrochen hatten.
Lackner, der zwischen Seifritz und den beiden Gangstern stand, musste daran denken, dass die Geldboten glücklicherweise nicht mehr bewaffnet waren. Nicht auszudenken, wenn sie nachher bei der Rückkehr mit den zwei Millionen D-Mark Verdacht schöpften und die Helden hätten spielen wollen. Früher, das wusste er, hatten Geldboten stets Waffen bei sich gehabt und deshalb regelmäßige Schießübungen absolvieren müssen. Sogar bei den Kassierern waren noch in den 60er-Jahren Schusswaffen durchaus üblich gewesen. Als Lackner vor 15 Jahren bei einer Zweigstelle draußen auf dem Land, in Süßen-Nord, tätig gewesen war, hatte er selbst zwar keine Pistole mehr bekommen, jedoch trotzdem an den Schießübungen teilgenommen, die offenbar für einige Angestellte der Kreissparkasse damals weiterhin vorgeschrieben waren.
Inzwischen hatte man die Bewaffnung abgeschafft, weil die Gefahr bestand, dass es mit Räubern zu gefährlichen Schießereien kam – mit unabsehbaren Folgen. Menschenleben waren schließlich mehr wert als Geld.
Nur für ein paar Sekunden gingen Lackner solche Szenarien durch den Kopf, weil ihn die Maschinenpistole beunruhigte, die der Uniformierte über der Schulter hängen hatte. Noch immer wirkten die beiden Gangster gelassen und selbstsicher. Seifritz, dessen Gedanken unablässig um seine Tochter kreisten, war mehr denn je davon überzeugt, dass die Männer ziemlich abgebrüht sein mussten.
Der falsche Polizist sah sich prüfend um und deutete auf eine nur angelehnte Tür. »Was ist da drin?«, wollte er in sachlichem Ton wissen.
»Das Archiv«, erwiderte Rilke, der noch immer ganz konzentriert die gebündelten Geldscheine zählte und in eine Ledertasche steckte. 700.000 D-Mark, überwiegend in blauen Hundertmarkscheinen.
Seifritz wurde von dem zivil gekleideten Gangster in den kühlen Nebenraum gedrängt, wo metallene Aktenregale und ein weißer Tisch in grelles Kunstlicht gehüllt waren.
»Wie lange sind die Boten unterwegs?«, verlangte der mit einer kleinen schwarzen Pistole bewaffnete Mann Auskunft.
»Kommt drauf an«, erwiderte der Bankdirektor, während er mit dem Gangster im Archivraum verschwinden musste und der Uniformierte draußen bei Rilke und Lackner blieb. »Wenn bei der LZB viel Betrieb ist, kann es dauern.«
»Ungefähr?«, drängte der Räuber auf eine klare Antwort und zog die Tür von innen zu, ohne sie einrasten zu lassen. Auf diese Weise waren sie zwar außer Sichtweite, konnten aber verfolgen, was Rilke und der uniformierte Gangster sprachen.
»20 Minuten brauchen die Geldboten«, erklärte Seifritz, auf dessen Stirn sich Schweißperlen gebildet hatten. »Ich weiß nicht, wie der Verkehr heute früh in der Stadt ist.«
Die Luft in dem kleinen Archivraum war trocken, das sanfte Rauschen eines Gebläses zu vernehmen.
»Und wenn das mit den zwei Millionen nicht klappt?«, wagte Seifritz verzweifelt und flüsternd einen Vorstoß. Er musste diese Frage jetzt einfach loswerden.
Ebenso leise kam die Antwort seines Bewachers: »Dann gibt es ein Blutbad.«
Seifritz fühlte den Satz wie einen Stich in die Seele. »Ich möchte Sie wirklich bitten, meiner Tochter nichts anzutun«, presste er flehend hervor, ergriffen von der unbezähmbaren Angst, das Mädchen und er stünden kurz vor dem Tod.
»Ihrer Tochter geschieht nichts. Sobald wir das Geld haben, ist sie frei«, bekam er wieder zur Antwort, aber für ihn klang es nicht überzeugend. Er hatte Mühe, die wild rotierenden Gedanken zu sortieren. »Es könnte aber sein, bei der LZB wird jemand misstrauisch und versucht, mich telefonisch zu kontaktieren.«
»Wird er nicht«, erwiderte der Gangster ungerührt. Wieder schien es so, als könne das Verbrechen gar nicht anders als geplant ablaufen.
Sie standen sich mit verschränkten Armen gegenüber, schweigend, abwartend, immer wieder auf die Armbanduhren schauend. Alle paar Sekunden blinzelte der Räuber durch den schmalen Türspalt nach draußen, wo Rilke und Lackner, bewacht von dem Uniformierten, noch immer schweigend mit den Geldscheinbündeln beschäftigt waren. In der Ledertasche musste nachher noch Platz für zwei Millionen sein.
Der Uniformierte nickte den beiden Bankangestellten zu: »Gut gemacht. Sehr gut. Aber jetzt müssten die Boten doch bald auftauchen, oder wie sieht das aus?«
Die Männer versuchten, den unruhig gewordenen Verbrecher zu beruhigen. Rilke deutete auf die Geldtasche: »Da sind jetzt exakt 689.500 Mark drin.« Lackner ergänzte: »Das Restliche, was wir noch im Tresor haben, müssen wir drin lassen, weil wir sonst für die Kassierer hier im Hause nichts mehr hätten. Das würde auffallen.«
Weitere bange Minuten verstrichen, bis endlich die Aufzugstür und näher kommende Schritte zu hören waren. Für den Gangster ein paar Schrecksekunden. Alles ging so schnell, dass er keine Chance mehr hatte, nach nebenan ungesehen im Archivraum zu verschwinden. Die beiden Geldboten tauchten auf und blieben wie erstarrt stehen, als sie durch die Sicherheitsscheibe neben den beiden Bankangestellten den Uniformierten mit der Maschinenpistole erblickten. Lackner wollte die spannungsgeladene Situation entschärfen, kam heraus, ließ die völlig verdatterten Boten eintreten und nahm die Geldtasche entgegen. Obwohl so gut wie nichts gesprochen wurde, war den Ankömmlingen sofort klar, was geschehen war. Einer von ihnen, ein jüngerer Mann, deutete mit einer Geste unmissverständlich an, dass er nicht gewillt war, den Gangster kampflos mit dem Geld entkommen zu lassen. Dieser mutige Widerstand war jedoch schnell gebrochen, als der Uniformierte zu seiner umgehängten Uzi griff und den Lauf blitzartig auf ihn richtete. Erst jetzt schien der Geldbote den Ernst der Lage zu begreifen, verharrte in der Bewegung und trat mit seinem Kollegen vorsichtig ein paar Schritte zurück.
Lackner und Rilke hatten in aller Eile damit begonnen, die herbeigeschafften Millionen in die vorbereitete Geldtasche umzusortieren. Sie wollten das Drama so schnell wie möglich hinter sich bringen.
Beklemmende Stille hatte sich breitgemacht, als plötzlich von außerhalb des Tresorraums erneut beunruhigende Geräusche zu vernehmen waren: Aufzug, Schritte.
»Wer kommt da? Wer ist das?«, entfuhr es dem Gangster erschrocken, während die Geldboten noch ein paar Schritte zurückwichen, als wollten sie sich aus der Schusslinie bringen. Unterdessen verfolgten Seifritz und der andere Verbrecher angespannt durch einen schmalen Türspalt des Archivs, was sich anbahnte.
Rilke sah zu Lackner und fühlte sich zu einer Erklärung gezwungen: »Wahrscheinlich kommt ein Kassierer, der Geld braucht.« Seine Stimme klang erstaunlich fest.
»Noch einer?«, fragte der Räuber schnell und war mit zwei, drei Schritten an der Archivtür, um dort verschwinden zu können.
»Normaler Vorgang«, erklärte Rilke, während der Gangster die Tür zum Archiv aufdrückte, wo ihm sein Komplize und Seifritz respektvoll Platz machten.
Ein paar Sekunden später tauchte draußen ein junger Bankangestellter auf, korrekter Anzug, Krawatte. Für einen kurzen Moment war er verwundert, neben Rilke auch Lackner und die Geldboten vorzufinden. Doch die beiden Verantwortlichen für die Hauptkasse täuschten Routinearbeit vor, blickten nur kurz auf, und Rilke fragte mit gespielter Gelassenheit: »Sie brauchen wie viel?« Lackner blätterte in einigen Unterlagen und war darauf bedacht, dass seine zitternden Hände die innere Unruhe nicht verrieten.
Den jungen Kollegen beschlich zwar beim Anblick der prall gefüllten Geldtasche und der verängstigt dreinschauenden Geldboten ein merkwürdiges Gefühl, doch er ließ es sich nicht anmerken und sagte emotionslos: »Ich sollte 30.000 haben.« Worauf ihm Lackner mit einem beherzten Griff in die vor ihm auf dem Tisch stehende Transporttasche schnell einige Geldbündel vorzählte und sich Rilke mit der schriftlichen Abwicklung befasste. Währenddessen wandte sich Lackner beiseite, um die nun in der Tasche fehlende Summe mit einigen Geldbündeln aus dem Tresor wieder aufzufüllen. Alles ging so fix, dass der junge Bankangestellte diesen etwas seltsam anmutenden Austausch nicht zur Kenntnis nahm.
Und für die im Archiv versteckten Männer war der schmale Blinkwinkel durch die angelehnte Tür viel zu klein, um das gesamte Geschehen überblicken zu können. Nachdem Rilke mit dem Kollegen aus den oberen Geschäftsräumen die schriftlichen Formalitäten abgewickelt hatte, verschwand der junge Mann mit einem kurzen Abschiedsgruß aus dem Tresorraum, ohne die eingeschüchterten Geldboten noch einmal zur Kenntnis zu nehmen.
Kaum war das Geräusch des abfahrenden Lifts zu vernehmen, wagten sich die Gangster mit Seifritz aus dem Versteck. »Na also«, resümierte der Uniformierte und sah den völlig erschöpften Bankdirektor an. »Wenigstens knappe drei Millionen. Seien Sie froh, dass wir uns damit zufriedengeben.«
»Und wann kommt meine Tochter frei?«, fragte der Bankchef angespannt, denn nur dies war ihm jetzt wichtig.
Die Antwort gab der zivil Gekleidete: »Sobald wir weg sind.« Er schnappte sich die Geldtransporttasche, während sein Komplize, an den Bankdirektor gewandt, entschied: »Herr Seifritz, Sie haben genügend mitgemacht, jetzt wird uns Herr Lackner begleiten.«
Alle Augen, auch die der erstarrten Geldboten, waren auf Lackner gerichtet, der sich plötzlich wie vom Donner gerührt fühlte. »Begleiten«, hörte er es im Kopf nachhallen. Wie bitte?, wollte er sagen, brachte aber keinen Ton aus der trockenen Kehle. Er und Seifritz sahen sich entgeistert an, als suche jeder beim anderen Halt. Doch der MP-Träger blieb dabei: »Sie kommen mit«, sagte er und gab mit einer Kopfbewegung in Richtung Lackner zu verstehen, dass dieser gar keine andere Wahl hatte. Und es klang beinahe wie eine Bitte, als er dem in Gedanken versunkenen Seifritz sagte: »Die Autoschlüssel.«
»Und meine Tochter? Was ist jetzt mit meiner Tochter?«, stammelte der Bankchef, während er in den Hosentaschen aufgeregt nach dem Wagenschlüssel fingerte und ihn dem Uniformierten aushändigte.
Der andere wurde deutlich: »Ihre Tochter wird bald wieder hier sein. Aber nur, wenn Sie nicht vor 10 Uhr die Polizei rufen.« Er sah auch zu den Geldboten hinüber. »Haben wir uns verstanden? Nicht vor 10 Uhr. Denken Sie daran.« Er hielt die Geldtasche mit den knapp 2,7 Millionen D-Mark umklammert und entfernte sich langsam. Lackner zögerte, wurde jedoch mit einer höflichen Handbewegung von dem Uniformierten aufgefordert vorauszugehen.
Seifritz und Rilke beobachteten atemlos die Szenerie und nickten dem völlig verstörten Angestellten zu – eine Geste der Verzweiflung, als wollten sie ihn ermuntern, sich widerstandslos in sein Schicksal zu fügen. Für einen Moment schien eine schwere Last von ihnen zu fallen. Aber nur kurz. Denn augenblicklich übermannte Seifritz wieder die Angst um die Tochter und die Sorge, es könnte noch etwas Unberechenbares geschehen. Die Gefahr dafür war groß, und vor allem: Was hatten sie mit Lackner vor?
Langsam verhallten die Schritte, die Tür des Lastenaufzugs schwenkte auf, Sekunden später schloss sie sich wieder. Eine beklemmende Stille erfüllte den Raum. »Und jetzt?«, wagte Rilke, der regungslos dastand, seinen apathisch wirkenden Chef zu fragen.
Schweigen. Rilke ließ noch ein paar Augenblicke verstreichen, sah in das fahle Gesicht von Seifritz, dessen Lippen bebten, bis sie endlich ein Wort formten: »Abwarten.«