Читать книгу Die Gentlemen-Gangster - Manfred Bomm - Страница 16
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ОглавлениеDass sich im Nebengebäude zu diesem Zeitpunkt der Gerichts- und Polizeireporter der einzigen Tageszeitung vor Ort, der Neuen Württembergischen Zeitung, kurz NWZ, aufhielt, konnten Walser und Geiger nicht ahnen. Georg Sander, eines der jüngsten Mitglieder der Lokalredaktion, pflegte ein gutes Verhältnis zur Polizei und hatte an diesem trüben Märzmontag die Fahrt zum Verlagshaus für einen kurzen Besuch im Göppinger Polizeirevier unterbrochen. Jetzt, in den frühen 80er-Jahren, als es noch keine privaten Radio- und Fernsehstationen gab und in dieser Stadt mit ihren knapp 55.000 Einwohnern auch kein anderes täglich erscheinendes gedrucktes Medium, war Sander der Einzige, der hier über kriminelle Ereignisse berichtete.
Entsprechend bescheiden war auch der Andrang bei behördlichen Pressekonferenzen. Meist saß ein Journalist der Tageszeitung ganz allein einer ganzen Gruppe von Vertretern der Polizei gegenüber. Wenn die jährlichen Unfall- und Kriminalstatistiken vorgestellt wurden – endlose Zahlen und Prozente, beinahe heruntergebrochen bis ins letzte Kaff – versuchte Sander verzweifelt und meist vergeblich, dem trockenen Material etwas Spannendes abzugewinnen.
Es kam auch höchst selten vor, dass sich auswärtige Journalisten für etwas interessierten, was hier, zwischen Stuttgart und Ulm, geschah. Das mussten dann schon ganz große Dinge sein – sei es ein kommunalpolitischer Skandal oder ein Mord. Aber derlei Spektakuläres kam doch eher selten vor. Zum Leidwesen von Sander, dem Lokaljournalisten, der zwar kein Sensationsreporter im herkömmlichen Sinne war und auch nicht wirklich nur auf Stories hoffte, die Aufsehen erregten, es aber zunehmend als dröge empfand, stundenlange Gemeinderats- und Kreistagssitzungen über sich ergehen lassen zu müssen. Andererseits freilich, so hatte er schon oft erfahren müssen, waren die Abonnenten der Zeitung eher darauf bedacht, dass man das heimatliche Nest nicht beschmutzte. Wenn er allzu detailliert über Verhandlungen des örtlichen Schöffengerichts berichtete, war er nicht selten von aufgebrachten Lesern heftig kritisiert worden. Ganz zu schweigen, wenn es um große Fälle vor dem Landgericht Ulm ging, wo die schwerwiegenden Verbrechen verhandelt wurden. Nur zu gut war ihm aus den Anfangszeiten seiner Göppinger Tätigkeit ein Mordprozess gegen einen Mann in Erinnerung, der in einem alten Bauernhaus am Rande der Schwäbischen Alb eine ältere Frau vergewaltigt und umgebracht hatte. Allein das Wort Sperma, das Sander erwähnt hatte, weil es dabei um eine wichtige, belastende Spur des Täters gegangen war, hatte einige Leser geradezu entsetzt, was sie in empörten Anrufen beim Redaktionsleiter zum Ausdruck gebracht hatten.
Für Sander war seither klar: Die Leserschaft las zwar mit großer Begeisterung von Mord und Totschlag irgendwo auf der Welt, ja sog dann, wie er zu sagen pflegte, jeden Blutstropfen aus der Illustrierten oder dem Boulevardblatt heraus, aber wenn so etwas in der näheren Umgebung geschah, dann sollte das Heimatblatt geflissentlich Zurückhaltung üben. Dann hörte Sander häufig den Vorwurf, er sei schlimmer als die Bild-Zeitung. Er fragte sich in solchen Fällen, woher die Kritiker, die dieses Boulevardblatt mit Abscheu erwähnten, wohl ihr Wissen darüber bezogen, was schlimmer als die Bild-Zeitung sei.
Ohne mediale Konkurrenz war in diesen Zeiten der Kontakt zur örtlichen Polizei noch unbürokratisch. Sander kannte viele Beamte und ging im Revier ein und aus, zumal zwar die zurückliegenden Jahre des RAF-Terrorismus bereits erste Sicherheitsmaßnahmen erkennen ließen, der Zugang ins Polizeigebäude jedoch meist problemlos möglich war. Sander wusste dies zu schätzen, steckte seine Nase auch nie in Dinge, die ihn nichts angingen, sondern beschränkte seine Besuche auf ein Mindestmaß und kam auch nie unangemeldet.
Inzwischen pflegte er mit einigen Beamten ein freundschaftliches Verhältnis, das auch in private Aktivitäten mündete. So gab es eine Wandergruppe, die sich auf historische Pfade beschränkte und die Schauplätze des Ersten Weltkrieges in den Vogesen aufsuchte, geführt von einem Polizeibeamten, der sich auch fundiert mit dem deutsch-französischen Krieg in den 70er-Jahren des vorletzten Jahrhunderts auseinandersetzte. Sander war einige Male bei solchen Exkursionen dabei gewesen und hatte in der zerschundenen Landschaft die Überreste dieser schrecklichen Zeit gesehen: Bunker, Stacheldraht, Munition, die endlose Reihe von Soldatengräbern.
An diesem Märzvormittag hatte er über eine neue Exkursion, die für den Herbst geplant war, sprechen wollen. In einem Büro, schräg gegenüber der Wache, saß er zwei altgedienten Beamten gegenüber, die er ihres bodenständigen und unkomplizierten Umgangs wegen sehr schätzte. Doch irgendetwas, so schien es ihm, war heute anders – als sei den beiden sein Besuch unangenehm. Der Ältere, ein großer, bärenstarker Typ, verließ einige Male den Raum und schloss nachdrücklich die Tür hinter sich, kam aber sofort wieder zurück, ebenfalls darauf bedacht, die Tür, die üblicherweise einen Spaltweit offen stand, sorgfältig wieder zu schließen. So recht wollte heute kein flüssiges Gespräch aufkommen. Der etwas Jüngere, hager und energiegeladen, war zwar bisher der engagierte Organisator der Vogesen-Exkursionen gewesen, doch an diesem Vormittag ließ er gleich gar kein Gespräch über die geplante Reise aufkommen. »Das können wir später in Ruhe besprechen. Wir haben noch Zeit. Jetzt ist März, und wir planen für September«, sagte er und wiederholte dies sinngemäß mehrere Male.
Sander gab sich damit zufrieden und dachte, dass die beiden heute wohl dienstlich unter Druck stünden. Er verabschiedete sich deshalb schnell und trat in den dunklen und engen Vorraum der Wache hinaus. Dass dort mehr Uniformierte standen als üblich und dass deren Gespräche kurz verstummten, als er an ihnen vorbei zur Ausgangstür ging, kam ihm erst Stunden später seltsam vor.
Dass er soeben hautnah an der größten Geschichte seines Journalistenlebens dran gewesen war, hatte er nicht ahnen können.