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Die Versinnlichung des Geistes und die Vergeistigung der Sinne
ОглавлениеPlessner sucht nun die Bedingungen der Möglichkeit dieses Erkenntnisgeschehens aufzudecken und zu explizieren. Die Einheit der Sinne ist der erste Band seiner erkenntnistheoretischen Schriften1, mit der er die innere Verschränkung von Körper und Geist (res extensa und res cogitans) am psychophysischen Wesen Mensch aufzeigen möchte und diesen damit wieder ins Zentrum der philosophischen Betrachtung rücken will. Er holt das „philosophische Verständnis der Naturgestaltung, wie sie die sinnliche Organisation des Körperleibes darstellt“2, wieder ins philosophische Denken zurück. Methodisch wie in seiner Fragestellung orientiert er sich an Kant, indem er, wie dieser, dessen indirekte Fragestellung anwendet und sich auf der Suche nach Antworten auf das Erkenntnisproblem an die entsprechenden Wissenschaften wendet, dieses Mal jedoch nicht an die Naturwissenschaften, sondern an die Geisteswissenschaften:
Sollte, paradox genug, eine augenscheinlich naturphilosophische Angelegenheit vielleicht durch Orientierung an der Geisteswissenschaft, ja an kulturellen Ausdrucksformen des Geistes selbst entschieden werden müssen? 3
Mit dieser Ausrichtung der erkenntnistheoretischen Fragestellung gewinnt Plessner die Fallhöhe für die rechte Justierung seiner Ausgangsfrage nach dem Rätsel des Gegenständlichen im Bewusstsein sowie hinsichtlich ihrer möglichen Zustände und Zuständlichkeiten: der Anschauung und der Auffassung. Damit auch der Körperleib als letzter Gegenstand auf dem Weg zur Einheit Mensch in die von ihm entworfenen Schemata Eintritt finden kann, wird Plessner später die Bewusstseinstafeln4 mit entsprechenden Haltungen des Körperleibes in Beziehung setzen. Denn letztlich ist es das Ganze des Körperleibes, welches die Gegenwart des Geistes und somit des Sinnes allgemein in der Welt abbildet.
Ursprüngliche Gegenwart des Geistes ist nur an Leibern in ihrer Haltung ablesbar […] Die unmittelbare Ausdrucksfähigkeit des Leibes, welcher eine gleich unmittelbare und ursprüngliche Auffassungsgabe des Geistes für den Ausdruckssinn seiner Gestik, Mimik, Physiognomik notwendig entspricht, hat Geltung für jeden Inhalt, mag er seelischer Natur sein, woran wir zunächst denken, oder selbst auch geistigen, gedanklichen, sinnhaften Wesens.5
Mit der Einarbeitung des Körpers in die von Plessner erweiterte erkenntnistheoretische Fragestellung verlängert er in der Ästhesiologie des Geistes die kantische Analyse in die Materie bzw. in das Sinnenmaterial in Form der Sinnesmodalitäten hinein und gewinnt dem Geist so das Angesicht der Welt zurück. Erst wenn der Mensch auf diese Weise wieder logostransparent geworden ist, wenn die rätselhafte Funktion seines Sinnenapparates und dessen Ergebnisse – die Gegenständlichkeit der Welt – aufgeklärt wurden und in ihrer Einheit als vom Geist durchherrscht bestätigt werden konnten, erst dann können auch wiederum die geisteswissenschaftlichen Disziplinen auf ihr Vernunftfundament geprüft und darauf aufgebaut werden. Der Gang zur kantischen indirekten Fragestellung über die entsprechenden Wissenschaften gewinnt auf dem Weg zu ihnen deren eigenes Fundament zurück. Diese Hermeneutik der Sinne sollte an ihrem Ziel die Fundamente für die wissenschaftliche Fundierung der Geisteswissenschaften liefern können; soweit die Erwartung, soweit auch der methodische Fortgang der Untersuchung Plessners in Die Einheit der Sinne. Allerdings begegnen sich bei einer solchen Fragestellung Naturwissenschaft und Geisteswissenschaft. Denn beide Bereiche menschlicher geistiger Tätigkeit sind Antworten auf Herausforderungen des Milieus an ihn. Zugleich jedoch sind sie für Plessner auch Garanten für den Realitätsgehalt seiner Fragerichtung. Denn sie zeugen vom Tun des Menschen über die Zeit und Generationen hinweg und sind keine Ausgeburten eines einsamen und beschränkten singulären Geistes. Die physische Organisation des Körpers, genauer der Sinnesorgane des menschlichen Leibes, und die geistes- oder kulturphilosophische Seite der Problemstellung bedürfen nun der Verbindung, was den oben genannten Bewusstseinszuständen korrespondierte. Das anschauende Bewusstsein muss also gemeinsam mit dem deutenden Bewusstsein zugrunde gelegt werden, um „der Wirklichkeit der Sinne die Einheit des Sinnes“6 vermitteln zu können. Die methodische Konsequenz der kantischen indirekten Fragestellung führt Plessner zwingend auf seine eigene Methode hin: eine hermeneutische Phänomenologie auf der Basis der kantischen Fragestellung nach den Bedingungen der Möglichkeit der Erkenntnis. An den Gegenständen der Kultur, der Werke des Menschen werden wir der Gegenständlichkeit der Welt und deren objektiven Natur inne. Denn die Werke zeugten vom Funktionieren unserer Sinne und deren Modi, welche die Erscheinungsweisen der Materie seien. Die normative Wissenschaft der Sinne, Plessners „Normwissenschaftliche Untersuchung des menschlichen Geistes“7, im Unterschied zu einer „seinswissenschaftlichen Methode der Tatsachenfeststellung […] als eine Kritik der Sinne im Gegensatz zur Physik, zur Physiologie und Psychologie“8, kennzeichnet die Differenz wie auch eine denkbare Komplementarität der Vorgehensweisen. Plessners kritische Studien der Sinne wenden sich also in keiner Weise gegen naturwissenschaftliche Vorgangsweisen.
So rücken die Begriffe Anschauung9 und Verstehen (bzw. Auffassung) ins Zentrum der theoretischen Aufmerksamkeit:
Anschauung ist, ohne an Dasein (wie anschauliche Phantasmen, Phantome beweisen) des Angeschauten gebunden zu sein, das Vergegenwärtigen eines distinkten Inhalts in präsentativer Form. Sie bezeichnet ein Bewusstsein, das in klar umschriebener Weise ein qualitativ in sich Bestimmtes gegeben vorfindet und als Gegebenheit hinnimmt. Das Gegebene steht für nichts, sondern ist bloß da und bringt sich dar in größerer oder geringerer Klarheit und Deutlichkeit. Was sich darbringt hängt ab von der Haltung der Person, die aus der Fülle des Seins die entsprechenden Gehalte gewinnt, weil zu ihnen in entsprechende Einstellung kommt.10
Anschauungen sind demnach Vergegenwärtigungen eines distinktiven Inhalts in präsentativer Form. Diese müssten notwendiger Weise jemandem gegeben sein. Sie könnten entweder objektiv, also unabhängig vom Subjekt eines Bewusstseins, interindividuell, von einem Individuum loslösbar sein, ohne jedoch gleich eine überindividuelle, z.B. soziale Größe zu bilden, oder subjektiv, d.h. von einem Bewusstsein abhängig sein. Sie könnten jedoch auch intersubjektiv gegeben sein – ohne gleich objektiv zu sein–, was bedeutete, dass sie bis zu einem gewissen Grade in einen Raum zwischen Subjekten eintreten könnten, für die an diesem Raum teilhabenden Subjekte gegenwärtig wären.
Daneben hält sich Plessner für die verschiedenen Arten der Anschauung an das traditionelle Menschbild des Trimorphismus aus Geist, Seele und Leib, wobei der Leib auch in der Verbindung mit dem Wort Körper auftritt und zum Körperleib wird. Der Begriff Körperleib vereint eine materielle Seite, den Körper, mit einer psychischen Komponente, der Vorstellung eines Bewusstseins, sozusagen im Futteral eines Körpers zu stecken, sowie den entsprechenden Empfindungen dafür. Für Plessner ist diese Vorstellung eine der Gründe für die platonische Idee des Körpers als Grab der Seele, sie gibt jedoch für ihn auch eines der Motive für seine Bestimmung der menschlichen Subjektivität als exzentrischer Positionalität ab. Den drei Erscheinungsweisen der Einheit Mensch ordnet Plessner nun nicht sofort seine drei Anschauungsarten zu, sondern behält erst einmal nur die abstrakte Dreiteilung bei, welches als Dreier-Schema Anwendung findet: die antreffende Anschauung, welche sich in physischer Materie zeige und darstellbar sei, die innewerdende Anschauung, welche sich in psychischer Materie zeige, nicht darstellbar, sondern nur präzisierbar sei, und schließlich die der füllenden Anschauung, welche sich in der Gestalt aus der Vereinigung von Materie (Hyle) und Form (Eidos) zusammensetze, eine Empfindungs- und Ideenschau, die sich in prägnanten Gehalten zeige.
Anschauungen können darstellbar, präzisierbar, prägnant sein. Darstellbarkeit und Präzisierbarkeit gelten nur von solchen Gehalten, die physisch-intersubjektiv an den Raum erfüllenden Körpern oder Leibern oder psychisch-interindividuell erscheinen. Darstellbar ist jede direkt abbildbare ausgebreitete Gestalt, einerlei ob sie wirklich oder imaginiert ist, einem Raum angehört oder nur anzugehören scheint. Indirekt durch Bewegung etwa, Reaktionen irgendwelcher Art (Laute, Zeichen usw.) eindeutig festlegbare und insofern mitteilbare Gehalte, die sich zwar nicht abbilden lassen, ohne aber darum an Bestimmtheit in der Gegenwart und interindividueller Gegebenheit einzubüßen, sind präzisierbare Anschauungsgehalte.11
Doch selbst wenn der Trimorphismus, wie Plessner sagt, falsch sei, würde sich dennoch bestätigen, dass „wir die unmittelbare Ausdruckshaltung als typische Sinnbezogenheit des Leibes anerkennen“12 müssten. Wir stoßen hier wieder auf ein Leitmotiv des Plessnerschen Denkens, der unmittelbaren Gegenwart des Geistes im Körperleib13, der damit entgegen der cartesianischen Deutung der res extensa als Ort der sinnvollen Verschränkung zwischen Geist und Materie erkannt wird. Der sich in der Haltung des Körperleibs spiegelnde geistige Gehalt sei, wenn nicht gleich konkretisierbar oder präzise deutbar, ein Fall der prägnanten Anschauung, in der sich in Form der Gestalt (z.B. Körperhaltung) die Vereinigung materieller und kategorialer Gehalte zeige. Die Anschauung fülle sich mit diesen, mit Bestimmtheit zu identifizierenden, wenn auch nicht gleich zu deutenden Körperbildern an. Im Spiegel der Seele14, im Erlebnis15, könne sich die präzisierende Funktion der Sprache an der Deutung dieser Körperbilder interpretierend abarbeiten.
Plessner hält mit Scheler alles Seelische für interindividuell, „geistige Akte dagegen sind rein individuell und könnten nur immer von einem Individuum erlebt werden.“16 Sprache könne die absolute Isoliertheit der Individuen bis zu einem gewissen Grade aufheben. Die über deren Zeichen vermittelten Inhalte jedoch müssten, um voll und ganz verstanden zu werden, von jedem einzelnen Individuum wiederum durchlebt werden. Wenn dieses Durchleben nicht stattfände, gestattete die Vermittlung durch Sprache, deren Bedeutungen „interindividuell präsent“17 seien, dem Individuum zwar ein Verstehen, nicht jedoch im vollen Sinne des Wortes.
Unter diesem Aspekt gesehen leistet die Sprache durch die Funktion des Meinens eine universelle Interindividualisierung. Sie sucht Darstellbares und Nichtdarstellbares eindeutig fassbar zu machen und durch die Bedeutung von Worten und Sätzen über die Zone interindividuellen seelischen Seins noch hinausgreifend die gesamte Weltfülle in den interindividuellen Besitz zu bekommen.18
Mit dieser universalisierenden Funktion der Sprache könnten prinzipiell alle Gegenstände und Sachverhalte in den Bereich präzisierbarer Darstellung aufgenommen werden. Der enorme Nutzen für die Menschheit wird sofort einsichtig: Die Individualitätsgrenzen werden überschritten und Inhalte für alle zugänglich, wodurch „die Überwindung der durch Natur und Wesen gesetzten Gemeinschaftsbindung zugunsten einer Befreiung und Erhebung aller in das spielende Leben der Gesellschaft“19 ermöglicht werde.
Der Gegenstand der antreffenden Anschauung sei in seinen darstellbaren Gehalten der physischen Materie gegeben, derjenige, der innewerdenden Anschauung in den präzisierbaren Gehalten der psychischen Materie. Bliebe für die füllende Anschauung der prägnanten Gehalte die Frage nach ihrer eigentlichen Erscheinung. Sie sei eine Kombination aus „Empfindungsschau und Ideenschau“20. Plessner versucht diese Frage mit Hilfe des Gestaltbegriffes zu lösen, dem er die Aufgabe der Vermittlung eidetischer mit hyletischen Gehalten überträgt.
[…] daß der hyletische Gehalt der Empfindung und der eidetische Gehalt der Wesensschau zwar strukturlos sind, darum aber doch nicht völlig nackt und formlos sein können, da das Bewusstsein in ihnen selbst die Präzision findet, durch welche sie für die Anschauung qualitative Prägnanz und Unterscheidbarkeit besitzen. […] für alle Gehalte, komplexe und einfache, das Grundschema: sie sind notwendig aufgebaut aus einer Stoff- und einer Formkomponente. Jeder Gehalt hat Stoff und Form.21
Eidetischer Gehalt und hyletischer Gehalt jedoch haben bei Plessner keine rein ideale oder stoffliche Komponente, sondern tragen Spuren des jeweilig anderen an und in sich:
Hier ist die Stofflichkeit luzide, durchsichtig, lauter, dort ist sie undurchsichtig, aufdringlich, trübe.“22
Auf jeden Fall aber besäßen komplexe Anschauungsgehalte Struktur, und „das heißt Gestalt“23. Neben den kategorialen Gehalten besteht bei Plessner die quidditas der Scholastik als unabhängige und besondere Einsicht des „eidetischen Tiefblicks“24 Vermittelnde. Zu ihr gehöre ein „bestimmtes kontemplatives Training und mehr als Zurückhaltung im Urteil über die Welt“25. Bei ihr sei eher das schauende Bewusstsein als die strenge Beobachtung am Werke, und Plessner beschreibt sie als eine Art „Witterung für die Wesenheit seines Milieus“26, die der Mensch grundsätzlich besitzen müsse.
Es muß also eine letzte, alles nur vorkommende Was zu seiner Qualität bestimmende Gehaltfülle, das [87] Rote zum Rot, die Farbe zur Farbe, die Figur zur Figur, das Ding zum Ding, das Wesen selbst zum Wesen machende Formwelt geben, die alles trägt.“27
Kategorialer Gehalt ist also demnach „Wesen hinsichtlich des Stoffes“28 . Der eidetische Tiefblick, jene Witterung für sein Milieu ist der eigentliche Zugang des Menschen zum Typischen, zur Abstraktion im Konkreten, zu dem, was Formwelt selbst ist. Auf dieser bestimmten Körperlichkeit des Abstrakten im Konkreten kann die Kunst aufbauen, denn die Gesetze der füllenden Anschauung und der prägnanten Gehalte basieren auf dem Eintrag geistiger Gehalte, also idealer Formen im Stoff. Sie stellt eine Mitte dar, welche die Kunst zwischen Sinn und Geist zu ergreifen vermag, sogar wenn sie diese zu fliehen beabsichtigt29.
Die Wertschätzung des Körperleibes als logostransparenter Ort, an dem sich Körper und Geist mit ihren verschiedenen Anschauungsarten verschränkten, führt eine Skala der Typen der Hinwendung zu diesen ein.
„Darstellbare Gehalte treffe ich an, präzisierbarer Gehalte werde ich inne, prägnante Gehalte erfüllen mich. […] und nur das Moment der blickstrahlenden Aufmerksamkeit bleibt in allem Typenwandel unberührt erhalten.“30
Mit dieser Unterscheidung verliere die Wahrnehmung ihren aus Empfindungen kombinierten Charakter und wandele sich zu einer „autonomen Bewusstseinsart“31. Gleichzeitig werde sie von der Empfindung klar unterscheidbar. Denn die Gegenstände der Wahrnehmung würden in einem interindividuellen Raum angetroffen, während Empfindungen nicht interindividuell sind. Die blickstrahlende Aufmerksamkeit des Bewusstseins gewahre als innewerdende Anschauung alles Psychische, während die erfüllende Sinnenschau ein eidetisches und empfindungsstoffliches Gegenüber besitze. Überall gebe es dieses Gegenüber des aufmerksam hinschauenden Bewusstseins. Fehlte jedoch dieses Gegenüber, bliebe allein die Schau, könnte ein Gehalt frei sich entfaltend möglicherweise sein Wesen darbieten. Dafür jedoch bedürfe es normalerweise eines Trainings, mit dessen Hilfe das Bewusstsein „die störenden Seinschichten zu durchstoßen“32 vermag. Die so geartete Einsicht trüge dann den Charakter der Offenbarung, eines nicht erzwingbaren Erscheinens. Vom Bewusstsein angetroffene Gehalte liehen sich diesem nicht. Sie neigten ob Ihrer Identifizierbarkeit und ihres objektiven Charakters der Beobachtung zu. Prägnante Gehalte liehen sich dieser Art der Betrachtung in ausgezeichneter Weise und deuteten auf eine wesentlich andere Haltung eines Einsicht suchenden Bewusstseins. Sie neigten der Intuition zu.
Vor aller Spezialisierung durch die Art des erschauten Gehalts ist Intuition ein offenes, hinnehmendes, zur Sache ohne viele Umstände, ohne die trübenden und abblassenden Zonen des Grübelns, Vergleichens, Abwägens sich aufschwingendes Verhalten. Die Sinne sind geöffnet, um widerstandslos die Fülle des Seins eindringen zu lassen. Der Mensch vertraut dem natürlichen Licht seiner Vernunft nicht weniger wie der Evidenz seines Gewissens und seines Empfindens. […] Rein werden in der Anschauung ist sein Ziel, Mittel dazu das Erkraften des durch alle Sinne, durch Instinkt, Gefühl und Gewissen hindurchtretenden geistigen Blickstrahles. […] Dagegen Beobachtung beherrscht von der Achtsamkeit. Der Beobachtende gibt Obacht auf das Objekt, er nimmt sich in acht, Grenzen, die ihm gezogen sind, nicht zu überschreiten.33
Während die Beobachtung sich an vorgegebenen Kriterien orientierte, ließe die Intuition „nur die Evidenz sprechen“34. Wir treffen in diesen Modellen grundsätzlich unterschiedliche Arten des Verständnisses der Anwendung menschlicher Einsichtsmöglichkeiten an. Plessner ordnet diese Haltungen denn auch den historischen philosophischen Strömungen des Intuitionismus und des Kritizismus zu. Jedoch weder die „negative Einheit der Sinne im Intuitionismus“35 bergsonischer Prägung mit ihrer Wurzel im élan vital, noch der kantische Kritizismus mit seinem Schematismus und seiner „funktionalistischen Erkenntnistheorie“36 könnten eine Antwort auf das Rätsel der Gegenständlichkeit der Welt oder der Einheit der Sinne herbeiführen. Nach Plessner liegt dies an deren einseitiger Orientierung an den Naturwissenschaften. Sein Lösungsvorschlag ruft daher die Geisteswissenschaften auf, an deren Erfahrungen im Sinne der schon bekannten indirekten Fragestellung eine Antwort gelingen soll:
Wie lässt sich die kulturphilosophische Seite des Problems so mit der naturphilosophischen innerlich verbinden, daß die Beantwortung in der einen Richtung die Antwort in der anderen von selbst mit sich führt?
Das ist nur möglich, wenn wir die bisher geübte einseitige Beurteilung des ganzen Problems nach den Maßstäben des anschauenden Bewusstseins aufgeben und ihm, da auf dem alten Wege ein Weiterkommen unmöglich ist, das deutende Bewußtsein zugrunde legen, der Wirklichkeit der Sinne die Einheit des Sinnes.37
Unser Verhältnis zu den Dingen der Welt lasse sich nicht auf die einfache Gegenwart der Dinge in unserem Bewusstsein reduzieren, sondern es gebe zugleich noch eine andere Weise unserer Verbundenheit mit der Welt, und diese sei das Verständnis.
Gleichberechtigt mit dem präsentativen ist das repräsentative Bewusstsein, mit der Richtung auf Phänomene die Richtung auf Sinn und Bedeutung.38
Mit diesem Schritt verlässt Plessner die schwankenden Untersuchungen der Psyche und unternimmt den Schritt ins Objektive, die „Formen der faktischen Kultur“39, in denen er einen Garant, ein Organon der geistigen Möglichkeiten des Menschen entdeckt. Damit auch tritt methodisch die Untersuchung in eine neue Phase ein und schreitet voran: von der prinzipiellen Beschreibung der Phänomene und deren Einordnung in das sich mitteilende Schema der Dreiteilung, in die Interpretation der vorliegenden Sinngehalte des Verständnisses mit ihrer Verkörperung in den Werken der Kultur. Plessner betritt mit dieser Kombination der wissenschaftlichen Verfahren sein ureigenes Terrain, das der hermeneutischen Phänomenologie:
Allerdings wird Plessner dann hier im Rahmen seiner Hermeneutik des Lebens den rein deskriptiven Ansatz im Hinblick auf einen deskriptiv-hermeneutischen Ansatz im Sinne einer ‚hermeneutischen Phänomenologie‘ erweitern.40
Im Unterschied zu Prietowicz sehe ich allerdings diese methodische Erweiterung schon hier in seiner Die Einheit der Sinne am Werk. Denn was ist die Einarbeitung der „Wesen und Arten des Verstehens“41 in das vorher ausgearbeitete Schema der Sinnesmodalitäten anderes, als eine Auslegung, also eine Interpretation, der Bedingungen der Möglichkeit eben jener Schemata, in denen die Gegenstände des Bewusstseins auftreten? Allerdings muss die deutende Phase dieser Analyse den Charakter der Evidenz besitzen, damit sie als Fundament und Bedingung der Möglichkeit des Erkenntnisaktes wirksam werden kann. Von daher bleibt vorerst das methodische Hauptgewicht auf der phänomenologischen Beschreibung des Gegenstandes, ganz im Sinne Plessners: „Unter dem Eindruck der Sache selbst, […] der Wahrnehmung eines Vorgangs muss jede empirische Forschung ihre Arbeit beginnen.“42 Nun handelt es sich aber bei der Untersuchung nicht um empirische Forschung, sondern um eine „normwissenschaftliche Untersuchung des menschlichen Geistes“43, womit auf der einen Seite der korrekten Aufnahme der Tatsachen sowie der kritischen Einordung dieser, auf der anderen der Legitimität der Methode Genüge getan wurde.
Verständnis ist, ohne vom Dasein des Verstandenen abhängig zu sein, die Verbundenheit mit einem Sinngehalt durch das Vergegenwärtigen eines wie auch immer gearteten Inhalts in repräsentativer Form. […] Die repräsentative Haltung differenziert sich nach dem gleichen Prinzip wie die präsentative Anschauung.44
Der antreffenden Anschauung wird nun das Schema als Form des Gehalts zugewiesen, der innewerdenden Anschauung, das Syntagma und der füllenden Anschauung das Thema. Ihnen werden jeweils Wissenschaft, Sprache und Schrift sowie Kunst als die kulturellen Gestalten zugeordnet, welche in ihrer spezifischen Ausprägung Exempla der Anwendung der Anschauungs- bzw. Auffassungsreihen darstellen. An ihnen lieβen sich in hervorragender Weise die „Möglichkeitsfundamente des konkreten verstehenden Bewusstseins, nicht Inhaltselemente“45 ablesen. In Mathematik, Sprache und Schrift und Musik – genauer: absoluter Musik – als den reinen Ausprägungen für Handeln, Kundgabe und Ausdruck finde die Einteilung des Sinnenverstehens ihre exemplarischen Gegenstände:
Stetig verengt sich bei konstant bleibender auffassender Haltung das geistige Blickfeld vom puren Erfassen der Anschauungsgehalte im Licht des bloßen „Als“ zur Auffassung „als etwas“ und zuletzt „als dieses“.46
Thematisch werden Erscheinungen aller Dinge erfasst und „der synoptischen Kraft des Geistes kann nichts in der Welt, nicht er selbst Widerstand leisten.“47
Sie treten damit unter die ästhetische Wertgebung des Gegensatzes vom Hässlichen und Schönen, ohne dass damit ein Etwas schon als ein bestimmtes Etwas erfasst wäre. Es bleibt bei der Vereinzelung der Erscheinung, die unterste Stufe der Sinngebung im reinen „Alscharakter“48 und der freien Deutung überlassen. Erst wenn die Stellvertretungsfunktion der syntagmatischen Stufe eintritt, Zeichen und Bedeutungen sich bemerkbar machten, werde die Erscheinung präzisiert, stelle zu ihrem Sinn sich ein Meinen mit ein, gehe über sie hinaus und weise doch wieder auf sie zurück. Auf dieser Stufe werde der Streit um Meinungen oder die Einhelligkeit intuitiv erfasst, sei nicht objektiv entscheidbar oder zwingend. Erst wenn die letzte Einschränkung der Beliebigkeit des Meinens auf der schematischen Stufe mit der Bestimmung des Begriffs erreicht sei, würden Urteile bestimmt, gehe die Freiheit der Deutung des Sinnes verloren. Erst dann, mit der Bestimmung des Erlebnisgegenstandes „als dieses“49, werde die Auseinandersetzung über wahr oder falsch objektiv entscheidbar. Diese stetige „Verengung des Blickfeldes der Auffassung des Bewusstseins“50, welche auch auf eine „immer größeren Eindeutigkeit des Sinnes und des Sinnverständnisses zustrebt“51, finde ihre Parallele im „Anwachsen der Gerichtetheit in der Bewegung“52. In thematischer Sinngebung forme der Schauspieler den Körper, verständlich für den Zuschauer, zu einem Ausdruck. Die „proportionierende Formung“53 des Leibes vergegenständliche den zu kommunizierenden Sinn. Die „stimmgebende Geste des Verlautens“54 stehe am Beginn der „syntagmatischen Sinnform des Bedeutens“55. Doch erst wenn Zeichenhaftigkeit erreicht werde, näherten wir uns der Sprache. Erst wenn mit den Zeichen ein gedachter Sinn verknüpft werden könne, komme Interindividualität ins Spiel, und neben den ursprünglichen Erscheinungen und Erlebnissen könne Sinn unabhängig von diesen kundgetan werden. Es werde eine Zwischenzone erkennbar, in welcher der Übergang vom echten Ausdruck – wie z.B. dem Schreck – in „stimmlicher Entladung einer Erregung“56 zum symbolischen Gebrauch eines akustisch geformten Zeichens sich überlappe. Plessner verweist dabei auf Herder und Humboldt, spricht sich jedoch gegen eine wie auch immer geartete Sprachursprungsthese z.B. aus einer Verlautung des erschrockenen Urmenschen aus. Vielmehr verweist er auf einen physiologisch-haptischen Zusammenhang zwischen Laut – sprich Stimmbänder und Atmung – und Gemütsbewegung hin, welcher sich neben der Geste und ob seiner Glieder- und Formbarkeit der künstlichen Symbolik leihe. Diese Charakteristik des sprachfähigen Materials, also Formbarkeit und Gliederbarkeit, ermögliche erst die präzisierende Funktion von Sprache und Schrift. Denn sie könne dem im „psychischen Sein“57 sich spiegelnden Erlebnis angepasst werden. Diese Tätigkeit wiederum, ihrerseits verstanden im Haltungsbild der Handlung, leite zur nächsten Stufe, der schematischen über, auf welcher der Gegenstand „als dieser“ begrifflich bestimmt „motivierte Bewegung“58 durch Entschluss ermögliche. Sei es, dass ein sprachlicher Ausdruck gesucht oder dass ein Zweck bestimmt werde, dem dann entsprechend motivierte Handlungen nachfolgten. Im besonderen Maße sei es die Technik, eine „Nutzanwendung wissenschaftlicher Einsichten“59, welche die entsprechende Haltung des Leibes auf einen genauen, in der Zukunft liegenden Gegenstand bestimme. Ermöglicht werde diese klare Zielgerichtetheit durch die Bestimmung dieses Gegenstandes und der Mittel zu seiner Erreichung als ein dieses. Verbindet man die in diesen Reihen zum Ausdruck kommenden Beziehungen „zwischen Sinn und Haltung, Geist und Leib“60, so kann man die „Verschmelzung“61 geistiger und sinnlicher Größen konstatieren: „Versinnlichung des Geistes, Vergeistigung des Sinnlichen nach einem neuen Gesetz, das auf unsere Frage nach der sinngemäßen Notwendigkeit unserer Sinnesorgane eine befriedigende Antwort erteilt.“62