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Kap 6

Die Reichsgräfin von Grainau-Solms war eine ungewöhnliche Frau. Trotz ihres Alters von 89 Jahren mit jeder Bewegung eine Dame. Gunther war nach dem Avis durch die Pflegerin eingetreten und hatte, als die Gräfin sich zur Begrüßung von ihrem Lehnstuhl erheben wollte, herzlich gebeten, doch bitte sitzen bleiben zu wollen.

Frau Schütz hatte sich kurz nach dem Befinden und den Wünschen der alten Dame erkundigt und dann respektvoll zurückgezogen.

„Bitte nehmen Sie hier neben mir Platz", bat ihn die Gräfin. „ Ich kann nicht mehr so gut sehen und möchte den neuen Eigentümer des Hauses doch ein wenig genauer in mein Bewusstsein aufnehmen.“ Gunther glaubte dabei eine Spur von Trauer in ihren Worten zu hören. Er nahm auf dem ihm angebotenen Stuhl Platz und bat, ohne längere Vorrede auf sein Anliegen kommen zu dürfen.

„Ich habe von dem großen Leid erfahren, dass ihnen widerfahren ist", begann er, „und bin mir bewusst, welche schicksalhafte Bedeutung ein Eigentümerwechsel für Sie haben muss. Mein Anliegen ist, von ihnen ihre Vorstellungen über ihre eigene, weitere Zukunft zu erfahren und, wenn sie es zulassen, auch über ihre finanzielle Situation zur Absicherung ihres Lebensabends.“ Gunther war sich im Unklaren, ob es richtig sei, nach dem ‚Lebensabend‘ zu fragen, aber seinen Schwerpunkt legte er auf die ‚Absicherung‘, und dies machte er auch deutlich.

„Was die Absicherung meines Lebensabend anlangt, wie sie sagen, habe ich noch immer keine abschließenden Vorstellungen, da ich das Ergebnis der Versteigerung nicht kenne. Die Rücksprache mit unserer Bank steht noch aus. Ich bitte Sie also diesbezüglich noch ein paar Tage zu warten. Frau Schütz wird sie anrufen und mit ihnen ein zweites Gespräch vereinbaren, wenn es ihnen genehm ist.“

Sie hatte Gunther nach dem Ergebnis der Auktion nicht gefragt, wie es ihr Erziehung und Takt geboten, ihn aber veranlasste, darauf direkt einzugehen.

„Ich habe auf das höchste Eingangsgebot geboten, das die Forderungen der Banken abdeckt. Das Anwesen ist jetzt schuldenfrei. Ein höheres Gebot hat es im Saal nicht gegeben.“

Ihre Enttäuschung darüber war zu spüren. Sie schwieg eine kurze Weile. Sagte dann aber mit fester Stimme: „Ich werde dann jetzt wohl unseren Wald verkaufen, der nicht im Bieterverfahren zum Verkauf stand. Das wird für ein bescheidenes Leben ausreichen. Die Versicherungen und Zuwendungen der Kanzlei meines Sohnes sind in dem Jahr seit dem Unglück aufgebraucht worden, durch ausstehende Forderungen, die nicht mehr durch Bankkredit gesichert waren.“ Sie schwieg wieder einen Moment und sprach dann weiter: „Der Bürgermeister von Kranichfeld hat mir angeboten, ein nicht zu kleines Zimmer für mich in der Stadt zu finden, dass es mir auch möglich macht, meine ‚Hilfe‘ weiter zu behalten. Ich bin leider darauf angewiesen.“

Sie wechselte das Thema und sah Gunther dabei fast bittend an. „Das ist meine größte Sorge. Ich habe deshalb die große Bitte an jeden künftigen Eigentümer, die Eheleute Schützt weiter zu beschäftigen. Herr Albrecht Schütz ist ein ausgemacht gewissenhafter und zuverlässiger Hausmeister, handwerklich sehr geschickt. Die meisten kleinen Reparaturen, Maurer-und Malerarbeiten macht er selbst. Er hat den Beruf eines Autoelektrikers gelernt. Das ist für die Wartung der komplizierten und verzweigten Elektro-Anlagen hier im Haus von unschätzbarem Wert.“

Die alte Dame hatte sich beim Vortrag ihres Anliegens sichtbar engagiert und blieb bei diesem Thema. „Das würde mir auch erlauben, Frau Hanna Schützt weiter als ‚Hilfe‘ zu haben, solange sie hier im Haus nicht voll gebraucht wird."

„Das wird im nächsten halben Jahr mein Problem sein“, sagte Gunther. „Ich möchte sehr offen mit ihnen darüber sprechen. Ich habe für die Kaufsumme nur ein Viertel auf der Bank, 400 T € wird, so hoffe ich, der Verkauf meines Hauses, in dem ich 50 Jahre gelebt habe, bringen. Als Bürgschaft für die Bank werden die Tantiemen-Verträge meiner Bücher, die ich geschrieben habe, herhalten müssen. Da bleibt mir für das nächste halbe Jahr nur eine Leibrente zum eigenen Verbrauch, die ich noch aus meinem Berufsleben beziehe, Personal kann ich in dieser Zeit nicht beschäftigen. Frau Schütz hat in ihrer Küche das Anliegen schon angesprochen und ich will das Gespräch nach meinem Besuch hier mit ihr noch weiterführen und nach einem Weg suchen."

Gunther legt eine Pause ein und fuhr dann fort: „Sie verargen mir nicht, dass ich so freimütig über Geld spreche. Ich werde dies in den nächsten Tagen in meiner Bank noch detaillierter tun müssen. Hier spreche ich darüber, um Sie von der Wahrhaftigkeit meiner Möglichkeiten zu überzeugen.

Wenn sich mit der Familie Schütz ein Moratorium finden ließe, das von deren Seite das ‚Selbstersparte‘ und von meiner Seite die Wohnungsmiete, Strom und Heizung umfassen könnten, will ich gern die Weiterbeschäftigung zusagen. Ich denke für sechs Monate, bis die Überweisungen meines amerikanischen Verlegers auf meinem Konto sind, sollte das möglich sein. “

Gräfin Grainau war sichtlich erleichtert. „Die Offenlegung ihrer Vermögenslage war ehrlich und in diesem Zusammenhang auch moralisch angebracht; ich bin Ihnen dankbar dafür. Ich denke in der Tat auch, dass ein solches Moratorium möglich ist", sagte sie und Gunther hatte das Gefühl, als wolle sie seine Hand nehmen. Das bewog ihn, ohne Überleitung, das Gespräch auf das weitere Schicksal der Gräfin selbst zu lenken.

„Wenn sich die Zukunft der Familie Schütz so wie angedacht regeln lässt, wäre es töricht, wenn sie selbst sich eine Wohnung in Kranichfeld nehmen würden", sagte Gunther.

„ Ich möchte Ihnen anbieten, als mein Gast hier im Schloss in ihrer gewohnten Umgebung zu bleiben, so wie es ja auch von ihrem Sohn gedacht war.“ Damit hatte Gunther das Maß ihrer Zurückhaltung überschritten und die Gräfin nahm seine Hand und war nahe daran, Tränen zu vergießen.

„Ihre persönliche ‚Hilfe‘ hat so Tag und Nacht den kürzesten Weg zu ihnen und ich die Beruhigung, dass Sie gut betreut sind“, setze Gunther hinzu und übersah geflissentlich, wie tief sein Angebot die alte Frau bewegt hatte. „ Ich werde für meine Frau und mich den westlichen Wohnturm ausbauen lassen und die notwendigen Räume daneben. Das wird einige Zeit in Anspruch nehmen, aber die benötige ich auch, um mein Wohnhaus zu veräußern und das Mobiliar in Etappen hierher zu schaffen.

Besonders für meine Bücher muss ich eine Bibliothek einrichten und Wandregale anfertigen lassen, denn meine Buchregale sind im Haus fest eingebaut.“

Jetzt war für die Gräfin der Augenblick gekommen, ihrer Dankbarkeit ihrerseits in einer Geste der Zuneigung Ausdruck zu geben. „ Das müssen Sie nicht", antwortete sie. „Die Bibliothek meines Sohnes grenzt über ein weiteres Zimmer, das Küche und Frühstückszimmer für Sie sein könnte, - so wollte sich jedenfalls mein Sohn seine Wohnung dort einrichten - an den West-Turm. Die Bibliothek umfasst ca. 4000 Bände und hat Platz, noch einmal so viele Bücher aufzunehmen. Wenn ihnen das ausreicht, möchte ich die Bibliothek meines Sohnes Ihnen übereignen, als mein Willkommensgruß in unserer ‚Wohngemeinschaft‘.

Jetzt lächelte sie das erste Mal und ihre Freude war sichtlich, auch ein Geschenk von Bedeutung machen zu können.

„Das wäre ein tolles Geschenk! Danke vielmals“, sagte Gunther, „ich werde heute nur mal einen Blick hineinwerfen, um zu sehen, welchen Umfang an Büchern ich den Regalen noch zumuten kann. Denn, wenn ich das Zimmer betrete, komme ich vor Stunden nicht wieder heraus und die Familie Schütz wartet auf mich.

Von dem Angebot der Gräfin war Gunther überwältigt. Normalerweise hätte er viel emotionaler darauf reagiert, aber die Fülle der ihm an diesem Tag zugewachsenen Kleinodien hatte ihn offenbar mental überfordert. Die eingerichtete Bibliothek mit ihren Regalen hatte er ja wohl mit dem Haus erworben, aber die 4000 Bände darin, das war ein Schatz, der ihm jetzt zugefallen war.

Er stand auf, um sich zu verabschieden.

Die Gräfin entschuldigte sich im Nachhinein, dass sie keinen Tee hatte servieren lassen und beteuerte aufrichtig, wie schön die Begegnung und das Gespräch für sie gewesen seien. Sie werde sich jetzt einen Sherry genehmigen, setzte sie lächelnd hinzu. Und Gunther verließ sie in dem erhebenden Gefühl, eine dankbare Freundin gewonnen zu haben.

Wir aber, die wir stark sind, sollen der Schwachen Unvermögen tragen und nicht uns selbst zu Gefallen leben

Römer 15,1

Wer andrer Not löst, ist der Erlöste.

Lao-Tse,

Meine irdischen und himmlischen Wege

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