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Kapitel 4
ОглавлениеMorgen, und morgen, und dann wieder morgen,
Kriecht so mit kleinem Schritt von Tag zu Tag
Zur letzten Silb' auf unserm Lebensblatt;
Und alle unsre Gestern führten Narrn
Den Pfad des stäub'gen Tods. – Aus! kleines Licht! –
Leben ist nur ein wandelnd Schattenbild,
Ein armer Komödiant, der spreizt und knirscht
Sein Stündchen auf der Bühn' und dann nicht mehr
Vernommen wird; ein Märchen ist's, erzählt
Von einem Dummkopf, voller Klang und Wut,
Das nichts bedeutet. –
Shakespeare, Macbeth
Die Aufregung und die Ermüdung Baldassars während der Krankheit seiner Schwägerin hatten den Lauf seines Leidens beschleunigt. Er hatte soeben von seinem Beichtvater erfahren, dass er nur noch einen Monat zu leben habe; es war zehn Uhr morgens, und es regnete in Strömen. Ein Wagen hielt vor dem Schloss. Es war die Herzogin Oliviane. Einst hatte er sich kunstvoll die Szene seines Todes ausgeschmückt:
»... Es wird ein heller Abend sein. Die Sonne ist gerade untergegangen, und das Meer, welches man durch die Zweige der Apfelbäume erblickt, wird malvenfarben sein. Kleine rosenrote und blaue Wölkchen werden am Horizont schweben, so zart ...«
Es war zehn Uhr morgens, der Himmel niedrig und schmutzig, der Regen goss in Strömen, als die Herzogin Oliviane kam. Er war ermüdet durch seine Krankheit, bereits einer höheren Welt ganz hingegeben; da fühlte er die Anmut der Dinge nicht, die ihm früher als der höchste Preis, als der Zauber und der feinste Triumph des Lebens erschienen waren. So ließ er der Herzogin sagen, er sei zu schwach. Sie wollte darauf bestehen, aber er mochte sie nicht empfangen. Es geschah nicht einmal aus dem Gefühl der Pflicht; sie bedeutete ihm nichts mehr. Schnell war es dem Tode gelungen, diese Sklavenbande zu lösen, die er vor einigen Wochen noch gefürchtet hatte. Er versuchte an sie zu denken, aber sah nichts vor sich erscheinen; denn die Augen seiner Phantasie und seiner Eitelkeit waren geschlossen.
Trotzdem konnte kurz vor seinem Tode eine Bemerkung über einen Ball bei der Herzogin von Bohême seine wütende Eifersucht erwecken. Denn auf diesem Ball sollte Pia mit Castruccio, der am folgenden Tag nach Dänemark fuhr, den Kotillon führen. Er bat, man möge Pia kommen lassen; seine Schwägerin war nicht ganz dafür. Er glaubte, man wolle ihn verhindern, sie zu sehen, man verfolge ihn, er geriet in Wut, und um ihn nicht zu quälen, ließ man sie sofort holen.
Als sie ankam, war er vollkommen ruhig, aber tief traurig. Er zog sie an sein Bett und sprach sofort von dem Ball der Herzogin von Bohême. Er sagte ihr:
»Wir beide waren nicht verwandt, Sie werden nicht um mich Trauer tragen, aber ich habe doch eine Bitte an Sie: Gehen Sie nicht zu diesem Ball, versprechen Sie mir das.« Sie sahen sich in die Augen, zeigten einander ihre Seelen, die aus den Kreisen ihrer Augensterne strahlten, ihr leidenschaftliches Gefühl, das auch der Tod nicht hatte vereinen können.
Er verstand ihr Zögern, zog die Lippen schmerzlich zusammen und sagte sanft: »Bitte, versprechen Sie nichts! Sie müssen ein Versprechen halten, wenn Sie es einem Sterbenden gegeben haben. Wenn Sie Ihrer nicht sicher sind, versprechen Sie nichts!«
»Ich kann es Ihnen nicht versprechen, ich habe ihn seit zwei Monaten nicht gesehen und werde ihn vielleicht nie wiedersehen; ich werde mich in Zeit und Ewigkeit nicht darüber trösten können, dass ich nicht auf diesem Ball war.«
»Sie haben recht, da Sie ihn lieben, da man sterben kann ... und da Sie noch in Ihrer ganzen Jugendkraft leben ... Aber – doch sollen Sie etwas für mich tun; von der Zeit, die Sie auf diesem Ball verbringen, sparen Sie für mich die Minuten ab, die Sie, um nicht aufzufallen, mit mir dort hätten verbringen müssen. Laden Sie meine Seele ein, ein paar Augenblicke Ihrer zu gedenken, und ich bitte Sie um einen Gedanken an mich.«
»Ich wage kaum, es Ihnen zu versprechen, der Ball ist so kurz. Ich will ihn nicht einen Augenblick verlassen, kaum reicht die Zeit für mich, ihn zu sehen. Ich werde Ihnen an allen folgenden Tagen einen Augenblick schenken.«
»Sie können es nicht, Sie werden mich vergessen; aber wenn ... nach einem Jahr, oder vielleicht schon früher, ein trauriges Buch, ein Regenabend Sie an mich erinnert, welche Wohltat würden Sie mir damit erweisen. Ich werde Sie nie, nie mehr wiedersehen können ... nur in meiner Seele, und dann müssen wir in der gleichen Minute aneinander denken. Ich werde immer an Sie denken, damit die Tore meiner Seele Ihnen immer offenstehen, wenn Sie eintreten wollten. Aber wird die Erwartete lange auf sich warten lassen? Die Blumen auf meinem Grabe werden im Novemberregen verfault sein, und der Juni wird sie verbrannt haben, und noch immer wird meine Seele vor Ungeduld weinen. Ach, ich hoffe, dass eines Tages der Anblick eines Erinnerungszeichens oder die Wiederkehr eines Jahrestages oder der natürliche Fluss Ihrer Gedanken Ihr Gedächtnis in die Nähe meiner Zärtlichkeit leiten wird. Dann wird es sein, als hätte ich Sie gehört, erblickt, eine Zauberhand wird rings Blumen streuen, um Sie zu empfangen. Denken Sie an den Toten. Aber ach! Wie kann ich hoffen, dass der Tod und Ihr Ernst das fertig bringen, was das Leben mit seinen Gluten, was unsere Tränen und unsere guten Einfälle, was unsere Lippen nicht vermocht haben.«