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Kapitel 5

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»Sieh hier das edle Herz, das

bricht.«

»Gut Nacht, du liebenswerter Prinz!

Mögen Schwärme von Engeln unter

himmlischem Gesang deinen Schlaf in

Ruhe wiegen!«

Shakespeare, Hamlet

Ein heftiges Fieber, von Delirien begleitet, verließ den Freiherrn nicht mehr; man hatte sein Bett in dem großen runden Gemach untergebracht, in welchem Alexis den Kranken an seinem dreizehnten Geburtstage gesehen hatte; damals war er noch so lustig gewesen. Von hier aus konnte er gleichzeitig auf das Meer und die Hafenmole und von der andern Seite her auf die Wiesen und Wälder blicken. Manchmal begann er zu sprechen, aber seine Worte trugen nicht mehr das Siegel der hohen Gedanken, die ihn während der letzten Wochen heimgesucht und geläutert hatten. Unter gewaltigen Verwünschungen gegen ein unsichtbares Wesen, das seiner spottete, wiederholte er ununterbrochen, er sei der größte Tonkünstler des Jahrhunderts und der mächtigste Grandseigneur der ganzen Welt. Dann, plötzlich beruhigt, befahl er seinem Kutscher, ihn in eine Kneipe zu führen oder seine Pferde zur Jagd zu satteln. Er bat um Schreibpapier, um alle Machthaber Europas zu seiner Hochzeit mit der Schwester des Herzogs von Parma zu Tisch zu laden; er war außer sich vor Schreck, weil er eine Spielschuld nicht begleichen konnte, er nahm das neben seinem Bett liegende Papiermesser und zückte es gegen sich, wie einen Revolver. Er sandte Boten aus, um sich zu erkundigen, ob der Schutzmann, den er in der vergangenen Nacht niedergeschlagen hatte, nicht gestorben sei, und rief lachend einer Person, deren Hand er zu halten glaubte, unzüchtige Worte zu. Die mächtigen, wachehaltenden Engel, die man Wille und Gedanke nennt, waren nicht mehr da, um die bösen Geister seiner Sinnlichkeit und die schmutzigen Dünste seines Gedächtnisses in den Schatten zurückzuzwingen. Nach drei Tagen erwachte er gegen fünf Uhr wie aus einem bösen Traum, für den man nichts kann, dessen man sich aber dumpf erinnert. Er erkundigte sich danach, ob Freunde oder Verwandte bei ihm gewesen seien in diesen Stunden, in denen er nur dem niedersten Teil seines Selbst, dem ältesten und totesten, Ausdruck gegeben hatte, und bat, falls er nochmals vom Fieberwahn befallen würde, alle sofort hinauszuschicken und nur dann wieder hereinzulassen, wenn er das Bewusstsein wiedererlangt habe.

Er blickte um sich durch das Zimmer und betrachtete lächelnd seine schwarze Katze, die, auf eine Chinavase geklettert, mit einer Chrysantheme spielte und an der Blume roch mit der Geste eines Komödianten. Er ließ alle hinausgehen und unterhielt sich lange mit dem Priester, der bei ihm wachte. Doch weigerte er sich, das heilige Sakrament zu nehmen, und bat den Arzt, dem Priester zu sagen, der Magen sei nicht mehr imstande, die Hostie zu vertragen. Nach einer Stunde ließ er seine Schwägerin und Jean Galéas herbeirufen. Er sagte: »Ich habe mich in Gottes Willen ergeben, ich bin glücklich, zu sterben und vor ihm zu erscheinen.« Die Luft war so milde, dass man die Fenster öffnete, die auf das Meer hinausgingen, ohne dass sie es spiegeln durften, und da der Wind zu heftig war, ließ man die gegenüberliegenden geschlossen, vor denen die Wiesen und die Wälder sich ausbreiteten.

Baldassar ließ sein Bett an das offene Fenster schieben. Ein Boot lief aus, gezogen von Matrosen, die auf der Mole das Schleppseil hinter sich her zerrten. Ein hübscher Schiffsjunge von ungefähr fünfzehn Jahren stand vornübergebeugt am äußersten Rande; bei jeder Welle dachte man, er müsste ins Wasser fallen, doch er stand fest auf seinen kräftigen Beinen. Er spannte das Netz, um die Fische heranzuziehen, und klemmte eine Pfeife zwischen seine Lippen, die der Wind mit Salz würzte. Und derselbe Wind, der die Segel spannte, kühlte Baldassars Wangen und wirbelte ein Stück Papier im Zimmer umher. Baldassar wandte den Kopf fort, um das fröhliche Bild der Freuden nicht mehr sehen zu müssen, die er leidenschaftlich geliebt hatte und nun nicht mehr genießen sollte. Er sah nach dem Hafen; ein Dreimaster machte sich segelfertig.

»Das ist das Schiff, das nach Indien geht«, sagte Jean Galéas.

Baldassar konnte die Menschen nicht erkennen, die auf dem Verdeck mit Tüchern winkten, aber er ahnte die Sehnsucht nach Unbekanntem, die in ihren Augen leuchtete; sie hatten noch so viel Leben vor sich, sie konnten noch so vieles erkennen und fühlen. Man lichtete den Anker, ein Schrei brach los, und das Boot bewegte sich wiegend auf dem dunklen Meer, hin nach dem Okzident, wo eine goldene Dämmerung kleine Boote und Wolken in einer gemeinsamen Hülle umfasste und von wo dem Reisenden unwiderstehliche, geheimnisvolle Versprechen zugeflüstert wurden.

Baldassar ließ die Fenster auf dieser Seite des runden Saales schließen und die andern öffnen, die auf Wiesen und Wälder blickten. Er betrachtete die Felder. Immer noch hörte er den Abschiedsschrei, den die Leute auf dem Dreimaster ausgestoßen hatten, und sah den Schiffsjungen, die Pfeife zwischen den Zähnen, der seine Netze auswarf.

Die Hand Baldassars bewegte sich im Fieber.

Plötzlich hörte er einen silbernen Ton, kaum recht zu vernehmen und tief heimlich wie das Schlagen eines Herzens. Es war das Läuten der Glocken in einem sehr weit entfernten Dorfe, das dank der an diesem Abend außergewöhnlich klaren Luft und der günstigen Brise viele Meilen weit über Täler und Flüsse hierher geschwebt war, um bis zu ihm zu gelangen und von seinem sicheren Ohr aufgenommen zu werden. Es war eine alte und doch sehr nahe Stimme; und nun hörte er sein Herz in tiefstem Einklang mit ihrem harmonischen Aufschwung schlagen, stockend, wenn sie den Ton einzuziehen schien, dann ausatmend mit ihm, schwer und getragen erst und dann schwächer und schwächer. Zu allen Zeiten seines Lebens hatte ihn, seitdem er einmal den fernen Klang der Glocken gehört hatte, ihr sanftes Tönen bezwungen, er erinnerte sich der milden Weise des Abends; wieder war er ein kleiner Junge, der durch die abendlichen Felder in das Schloss zurückkehrt.

In diesem Augenblick ließ der Arzt alle ans Bett treten und sagte:

»Es ist das Ende!«

Baldassar ruhte mit geschlossenen Augen. Sein Herz lauschte den Glocken, die seine vom nahen Tode verschlossenen Ohren nicht mehr vernahmen. Er sah seine Mutter, wie sie ihn küsste, wenn er heimkam, und ihn dann abends ins Bett legte, die seine Füße zwischen ihren Händen wärmte und bei ihm blieb, wenn er nicht einschlafen konnte; er erinnerte sich seines Robinson Crusoe und der Abende im Garten, wenn seine Schwester sang, der Worte seines Erziehers, der voraussagte, er würde ein berühmter Musiker werden, und der Rührung seiner Mutter, die sie vergebens zu verbergen suchte. Nun war keine Zeit mehr, die leidenschaftlichen hohen Erwartungen seiner Mutter und seiner Schwester, die er grausam getäuscht hatte, zu verwirklichen. Er sah die große Linde wieder, unter der er sich verlobt hatte, und den Tag, an dem er seine Verlobung gelöst – und nur seine Mutter hatte es verstanden, ihn zu trösten. Er glaubte seine alte Pflegerin zu umarmen und seine erste Geige im Arm zu haben. Dies alles sah er in einer lichterfüllten, traurigen, sanften Ferne wieder, es war eine Ferne wie die, auf welche die Fenster nach dem Felde blickten, ohne sie zu sehen.

Er sah dies alles wieder, und trotzdem waren noch nicht zwei Sekunden vergangen, seitdem der Arzt sich über sein Herz gebeugt und gesagt hatte: »Es ist das Ende!«

Er richtete sich auf und sagte:

»Es ist zu Ende!«

Alexis, seine Mutter und Jean Galéas und der Herzog von Parma, der eben gekommen war, knieten nieder. Die Dienstboten weinten im Vorraum hinter der offenen Tür.

[Oktober 1894]

Die Übersetzungen von Ernst Weiß

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