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Die Weltlust

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Die Menschen in der großen Welt waren so mittelmäßig, dass Violante bloß da sein musste, um sie fast alle in ihr Nichts zurückzustoßen. Die exklusivsten Aristokraten, die ungebärdigsten Künstler folgten ihrer Schleppe und brachten ihr ihre Huldigung entgegen. Wenn jemand Geist hatte, war sie es, sie hatte den feinsten Geschmack, die herrlichste Haltung und alles, was die unerhörte Vollendung ihrer Erscheinung zum Ausdruck brachte. Sie brachte Komödien in Mode, nicht anders als Parfüms und Toiletten. Die Schneiderinnen, die Literaten, die Friseure lagen auf den Knien vor ihr und bettelten um ihre Protektion. Die berühmteste Modistin Österreichs erbat sich den Titel ihrer Lieferantin, der allerberühmteste Prinz Europas erbat sich den Titel eines Geliebten. Sie hielt es für ihre Pflicht, beiden ihre Bitte abschlägig zu bescheiden, die, erfüllt, ihre Eleganz auf immer als das Vollkommenste in seiner Art bestätigt hätte. Unter den vielen jungen Leuten, die sich um den Eintritt in Violantes Salon heiß bewarben, zeichnete sich Laurence durch besonders dringendes Bemühen aus. Einmal hatte er ihr viel Kummer bereitet, man kann es verstehen, dass er ihr jetzt infolgedessen widerlich war. Er zeigte sich als niedriges Subjekt, und dieser Umstand trennte sie stärker als früher seine Geringschätzung. »Ich habe ja kein Recht, entrüstet zu sein«, sagte sie, »was ich an ihm geliebt habe, war eine große Seele. Dabei habe ich doch seine Gemeinheit stets gefühlt, ohne dass ich es mir zu gestehen wagte. Es hinderte mich nicht, ihn zu lieben, aber das Ideal einer hohen Seele stand mir dennoch vor Augen. Ich bildete mir ein, man könnte gemein sein und dabei doch liebenswert. Hat man aber einmal aufgehört, der Herzensstimme zu folgen, dann zieht man natürlich vornehme Naturen vor. Wie sonderbar war diese Leidenschaft für einen minderwertigen Menschen, die ganz vom Gehirn kam und die durch keine Verwirrung der Sinne entschuldigt werden konnte! Platonische Liebe wiegt nicht schwer.« Wir werden sehen, dass Violante wenig später zu der Überzeugung kam, dass die sinnliche Liebe noch leichter wiege.

Augustin kam zu Besuch und wollte sie zurückführen.

»Sie haben ein wahres Königreich erobert. Ist das nicht genug? Warum werden Sie nicht noch einmal die Violante von einst?«

»Ich hätte es schon erobert, Augustin? Nein, ich bin gerade dabei. Lass‘ mir wenigstens noch ein paar Monate Zeit!«

Ein Ereignis, dass Augustin nicht hatte voraussehen können, entband Violante für einige Zeit der Verpflichtung, an die Heimreise zu denken. Sie hatte zwanzig allerhöchste Hoheiten, ebenso viele souveräne Prinzen und einen Mann von Genie zurückgewiesen, die alle um ihre Hand angehalten hatten, nun heiratete sie den Herzog von Böhmen, einen Mann der außerordentlichsten Anmut und Besitzer von fünf Millionen Dukaten. Am Abend der Hochzeit kam die Nachricht, Honoré sei zurückgekommen, und diese Nachricht hätte die Verbindung beinahe zum Scheitern gebracht. Aber ein Übel, das Honore befallen hatte, verunstaltete ihn, und seine Vertraulichkeiten ließen Violante nun schaudern. Sie weinte bittere Tränen über die Vergänglichkeit ihrer Wünsche und Begierden, die einst so feurig hingezogen worden waren zu der Jugendblüte eines Körpers, der jetzt in seiner Herrlichkeit und Kraft auf immer zerstört war. Die Herzogin von Böhmen fuhr fort zu bezaubern, wie es die Violante von Steyer getan. Das unermessliche Besitztum des Herzogs war gerade gut genug, einen würdigen Rahmen, um das einzigartige Kunstwerk zu bilden, das ihre Person darstellte. Aus einem Kunstwerk verwandelte sie sich in einen Luxusartikel, kraft jener nur zu natürlichen Neigung aller Dinge auf Erden, zum Geringeren herabzusinken, sobald der edle Aufschwung nicht ausreicht, ihren Schwerpunkt sozusagen über sich selbst zu erheben. Augustin konnte es nicht fassen, was er über sie hörte. Er schrieb ihr:

»Weshalb spricht die Herzogin ohne Unterlass von Dingen, die einer Violante von Herzensgrund verhasst waren?«

»Warum? Weil ich mit meinem eigenartigen Wesen nicht gefallen konnte, mochte es tausendmal über die andern erhaben sein, denn diese Eigenheiten waren denen, die in der großen Welt leben, unverständlich und antipathisch. Aber ich langweile mich, guter Augustin!«

Er kam, um sie zu besuchen, und erklärte ihr, warum sie sich langweile.

»Ihr Interesse für die Musik, für die Betrachtung, für das Wohltun, für die Einsamkeit, für das Leben auf dem Lande, all das ist bei Ihnen ausgeschaltet. Ihr einziges Lebensziel ist der Erfolg, Ihr einziger Halt das Vergnügen. Aber man findet das Glück nur darin, zu tun, was man liebt, und nur dort, wohin es den Menschen aus dem Herzensgrunde zieht.«

»Wie kannst du das wissen, der du doch nie gelebt hast?« fragte Violante.

»Ich habe nachgedacht, und darin besteht das Leben«, antwortete Augustin, »aber ich hoffe, dass auch Sie bald dieses inhaltsleere Leben satthaben werden.«

Violante langweilte sich mehr und mehr, heiter war sie nie mehr. Die tiefe Unsittlichkeit der Welt, die ihr bis jetzt gleichgültig gewesen war, warf ihren Schatten auf sie und verletzte sie schmerzlich, so wie die furchtbare Härte der Jahreszeiten einen Körper niederzwingen kann, dem eine Krankheit die Kraft zum Widerstand geraubt hat. Eines Tages ging sie allein in einer verlassenen Allee spazieren, da stieg aus einem Wagen, den sie nicht beachtet hatte, eine Frau und kam gerade auf sie los. Sie sprach sie an, fragte sie, ob sie Violante von Böhmen sei, und erzählte, sie sei die Freundin ihrer Mutter. Sie habe sich danach gesehnt, die kleine Violante wiederzusehen, die sie einst auf ihren Knien gehalten habe. Sie umarmte Violante sehr aufgeregt, nahm sie um die Taille und begann sie so stürmisch zu küssen, dass Violante, ohne Adieu zu sagen, sich in vollem Laufe retten musste. Am nächsten Abend begab sich Violante zu einem Fest, das der Herzogin von Misène zu Ehren gegeben wurde. Dort erkannte sie in der Herzogin die furchtbare Dame vom Tage vorher. Eine vornehme alte Dame, die bis dahin hoch in Violantes Achtung gestanden hatte, fragte sie: »Wollen Sie, dass ich Sie der Herzogin von Misène vorstelle?«

»Nein«, sagte Violante.

»Wozu die Angst«, sagte die alte Witwe, »ich bin überzeugt, dass Sie ihr gefallen werden. Sie liebt junge Frauen ganz außerordentlich.«

Als Violante schied, hatte sie zwei tödliche Feindinnen mehr, die Fürstin und die alte Witwe, die sie überall als ein Ungeheuer voll Überheblichkeit und Verderbtheit hinstellten. Violante begriff den Zusammenhang, weinte über sich und über die Bosheit der Frauen. Was die Männer betrifft, war sie über sie schon lange im Klaren. Von nun an konnte man sie jeden Abend zu ihrem Mann sagen hören: »Wir wollen übermorgen nach meinem alten Steyer abreisen und es nicht mehr verlassen.«

Dann erlebte sie ein Fest, das sie mehr freute als die früheren; sie bekam eine Toilette, in der sie schöner aussah als je zuvor. Es gibt aber ein tiefes Bedürfnis, in der freien Phantasie zu leben, in seiner eigenen Schöpfung sich auszugeben, allein und kraft des Gedankens sein Leben sich zu zimmern. Dies Bedürfnis wurde nicht befriedigt, sie konnte sich ihm nicht widmen, nicht ergeben, und doch war und blieb dies für sie das Hindernis, in der großen Welt auch nur den Schatten einer wahren Freude zu finden. Aber dieses Bedürfnis war noch keine lebenswichtige Notwendigkeit, deshalb war es nicht stark genug, ihr Leben von Grund aus zu wandeln, noch auch brachte es sie zum radikalen, endgültigen Verzicht auf das weltliche Leben, es führte sie nicht ihrer eigentlichen Bestimmung und ihrem Sinne entgegen. So zeigte sie auch weiterhin das luxuriöse und doch verzweifelte Dasein einer Natur, die, für das Unendliche bestimmt, sich nach und nach im Geringeren, ja im Nichtigen verzehrt. Nichts zeugte nun mehr von ihrer edlen Bestimmung, die ihr täglich ferner entglitt, als nur der Schatten einer tiefen Melancholie.

Ein großes Seelenerlebnis der reinen Nächstenliebe hätte ihr Herz wie eine Flut geläutert, hätte die allzu menschlichen Härten gemildert, die ein weltlich gesinntes Herz versteinern, aber diese Flut wurde durch die tausend Dämme des Egoismus, der Koketterie, des Ehrgeizes ferngehalten. Die Güte gefiel ihr nur als Mode, als Eleganz. Sie wehrte sich nicht gegen gute Taten in Form von Geld, sie ließ sich ihre Nächstenliebe sogar Zeit und Mühe kosten, aber ein Teil ihres Selbst war abgeschlossen, denn er gehörte ihr nicht mehr an. Noch las oder träumte sie morgens in ihrem Bette, aber schon war ihr geistiges Leben verfälscht, denn es haftete nur an der Außenseite der Dinge, und wenn sie sich selbst ansah, geschah es nicht, um tiefer zu werden, sondern um sich sinnlich zu bewundern, mit sich wie vor einem Spiegel zu kokettieren. Und hatte man ihr einen Besuch angekündigt, so fand sie nicht die Willensstärke, um ihrer Träumerei oder ihrem Buche zuliebe ihn abzuweisen. Sie war so weit gekommen, dass sie die Natur nur noch mit verderbten Sinnen genießen konnte, der Zauber der Jahreszeiten war nur noch dazu da, um ihre Eleganz abzustimmen, um sie raffinierter zu durchduften. Der Zauber des Winters lag in der Lust wollüstigen Fröstelns, die Fröhlichkeit der Jagd verdeckte ihren Augen alle Schwermut des Herbstes. Manchmal ging sie allein in den Wald, um die echte Quelle wahrer Freuden wiederzufinden. Aber es waren nur elegante Toiletten, die sie unter dem schattigen Blätterdach spazieren führte. Die Freude an der Eleganz vergiftete die Freude an der Einsamkeit und an dem Träumen.

»Wollen wir morgen abreisen?« fragte der Herzog.

»Übermorgen«, sagte Violante.

Dann hörte der Herzog auf zu fragen. Augustin beklagte sich, Violante schrieb ihm: »Lass‘ mich erst ein wenig älter werden, dann komme ich zurück.«

»Ah«, antwortete Augustin, »was Sie den Menschen hier geben, ist Ihre Jugend. Sie werden nie in Ihr Steyer zurückkommen.«

Sie kam nie zurück. Solange sie jung war, blieb sie in der großen Welt, um die Herrschaft der Eleganz zu üben, deren Königin sie in so jungen Jahren geworden war. Als sie alterte, blieb sie, um sie zu verteidigen. Vergebens. Sie verlor sie. Und noch auf dem Sterbebette hatte sie es nicht aufgegeben, sie wiederzugewinnen. Augustin hatte mit ihrem Ekel gerechnet, aber nicht mit einer Macht, die, wird sie anfangs von der Eitelkeit genährt, allem obsiegt, dem Ekel, der Verachtung, selbst der Langeweile: es ist die Gewohnheit.

[August 1892]

Fragmente einer italienischen Komödie

»So wie der Krebs, der Widder, der Skorpion, die Waage ihren niedern Sinn verlieren als Zeichen des Tierkreises, so kann man die eigenen Fehler ohne Zorn in den Schattenbildern ferner Personen erkennen.«

Die Übersetzungen von Ernst Weiß

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