Читать книгу Macay-Saga 1-3 - Manfred Rehor - Страница 11

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Das Gefängnis

Am folgenden Morgen wurde die Zeitung in aller Frühe gedruckt und, nachdem die Druckerschwärze getrocknet war, geschnitten und gefaltet. Dann machte sich Macay mit einem großen Stapel auf dem Arm auf den Weg, um sie an die Abonnenten auszuliefern. Elkmar gab ihm dazu einen Zettel mit den Namen und Anschriften der Leute. Da für die Zeitung nur alle sechs Monate bezahlt werden musste, brauchte Macay nicht kassieren. Er bekam ab und zu eine Münze als Trinkgeld zugesteckt, manchmal auch etwas zu essen. Drei Mal kehrte er in die Druckerei zurück, um weitere Exemplare zu holen. Erst am späten Abend war er mit dem Verteilen fertig.

Und dann fuhr ihm im letzten Moment vor dem Einschlafen plötzlich der eisige Schreck durch die Glieder: Er hatte völlig vergessen, sich bei Zzorg draußen vor der Stadt wie vereinbart zu melden. Am liebsten wäre Macay aufgesprungen und los gerannt. Aber wie er inzwischen wusste, waren die Stadttore nachts geschlossen.

Am nächsten Morgen verließ er gleich nach Sonnenaufgang die Stadt. Er überzeugte sich, dass er nicht beobachtet oder verfolgt wurde, dann ging er zu dem Treffpunkt, den er mit Zzorg ausgemacht hatte. Wie erwartet war Zzorg nicht da. Allerdings gab es auch keine Spuren eines Kampfes. Zzorg war also vermutlich noch in der Nähe und nicht den Kaiserlichen oder den Leuten des Bürgermeisters in die Hände gefallen. Besorgt und beschämt kehrte Macay in die Stadt zurück.

An diesem Tag ging er mit einem Stapel Zeitungen durch die Stadt und verkaufte die Exemplare einzeln an Passanten. Die Zeitungen wurden vorher von Elkmar abgezählt, und jedes Mal, wenn Macay in die Druckerei zurückkam, musste er das eingenommene Geld abliefern. Der Drucker rechnete dann nach. Blieb etwas übrig, so durfte Macay es als Trinkgeld behalten. Zu seinem Glück war das fast immer der Fall. Zwei Tage machte er das, und als er schließlich fertig war, hatte er einen kleinen Beutel voller Münzen beisammen.

Elkmar druckte derweil weitere Auflagen des ‚Stadtboten‘. Diese Exemplare wurden von Reisenden zu den Bergwerkssiedlungen und in die größeren Dörfer in der Umgebung von Heimstadt gebracht. „Die Zeitung verkauft sich besser als je zuvor“, sagte er händereibend, als die letzten Exemplare weg waren. „Die Menschen sind hungrig nach Neuigkeiten. Daraus kann man schließen, dass sie nicht sehr zufrieden sind mit der allgemeinen Entwicklung. Und das heißt, mit dem Bürgermeister.“

Macay war durch das Verteilen der Zeitungen zu einem bekannten Gesicht in der Stadt geworden. Menschen grüßten ihn in den Gassen und immer wieder wurde er sogar gefragt, ob es etwas Neues gebe, zum Beispiel über Zzorg und Rall. Leider musste er diese Fragen immer verneinen. Auch zu seinem eigenen Bedauern.

Er kehrte noch einmal zu dem Treffpunkt zurück, den er mit Zzorg ausgemacht hatte, wieder erfolglos. Öfter aus der Stadt zu gehen, wagte er nicht, um die Stadtwachen nicht misstrauisch zu machen. Macay blieb nun nichts anderes übrig, als sich voll auf die Frage zu konzentrieren, ob Rall wirklich im Gefängnis saß und wie er ihn gegebenenfalls befreien konnte - und zwar ohne Zzorgs Hilfe.

Saika, das blonde Mädchen, sah Macay in dieser Zeit nicht mehr, auch auf seinen Botengängen durch die Stadt nicht. Er hielt zwar die Augen offen, aber sie schien aus der Stadt verschwunden zu sein. Schließlich fragte er Elkmar nach ihr.

„Sie wird sich melden, wenn sie mit dir reden möchte“, sagte der nur und wandte sich wieder seiner Druckerpresse zu.

Macay ging also Tag für Tag seiner Arbeit nach und unterhielt sich mit Elkmar über die Geschichte von Heimstadt. Er ließ sich die Gerüchte erzählen, die über die verschiedenen Gegenden des Nebelkontinents in Umlauf waren. Auch über die Zukunftsaussichten des Kontinents sprachen sie, falls die Kaiserlichen wirklich ein Elixier hatten, das ihn ungefährlich machte.

Eines Abends, Macay hatte sich schon in seinen Verschlag zurückgezogen, stand Saika vor ihm. Macay sprang auf und bestürmte sie mit Fragen. Doch sie legte den Finger auf die Lippen und bedeutete ihm, ihr zu folgen.

Sie gingen durch die dunkle Stadt, in der nur noch Liebespaare und angetrunkene Kneipenbesucher unterwegs waren, bis vor das Rathaus. Dort waren im ersten Stock die Fenster erleuchtet. Saika streifte ihren dunklen Umhang über und gab auch Macay einen. So getarnt drückten sie sich in einen dunklen Hauseingang.

„Heute Nacht soll im Gefängnis etwas geschehen“, flüsterte Saika. „Der Bürgermeister hat Besuch. Fremde sollen heimlich in die Stadt gekommen sein und sich jetzt im Rathaus aufhalten. Wollen mal schauen, was sie vorhaben.“

Sie brauchten nicht lange zu warten. Die Tür des Rathauses öffnete sich und zwei Wachmänner kamen heraus. Ihnen folgten der Bürgermeister und zwei vermummte Gestalten. Die Wachmänner entzündeten Fackeln, dann gingen die fünf Personen wie eine kleine Prozession die Straße entlang zur südlichen Stadtmauer, wo sich das Gefängnis befand.

Macay und Saika folgten ihnen in einigem Abstand. Am Gefängnis angekommen, suchten sie sich ein Versteck, von dem aus sie den Eingang beobachten konnten. Der Bürgermeister und seine Begleiter verschwanden durch das Gefängnistor.

„Und nun?“, wollte Macay wissen. „Irgendwann werden sie wieder herauskommen und dann war‘s das.“

„Warte ab“, sagte Saika nur.

In ihrer Nähe ertönte ein leiser Pfiff. Saika antwortete ebenfalls mit einem Pfiff. Aus einer Gasse kamen gleich darauf mehrere Betrunkene gewankt, die Flaschen in den Händen hielten und laut grölten. Sie gingen auf die Wachen vor dem Gefängnis zu und versuchten, denen die Flaschen aufzudrängen. Die Wachen lehnten aber stur ab. Ein Streit entwickelte sich.

„Los, jetzt sind wir dran!“, sagte Saika zu Macay. Sie schlich entlang der Hauswände auf den Eingang des Gefängnisses zu. Dabei duckte sie sich und zog die Kapuze ihres Umhangs so tief ins Gesicht, dass kein heller Fleck mehr an ihr zu sehen war.

In drei Schritten Abstand hatte selbst Macay Mühe, sie zu erkennen. Er folgte ihr so vorsichtig wie möglich.

Der Streit vor dem Gefängnistor eskalierte zu einer handfesten Keilerei. Macay und Saika konnten deshalb unbeobachtet durch das Tor flitzen, das hinter dem Bürgermeister nicht wieder abgeschlossen worden war. Sie gelangten in einen düsteren Innenhof.

„Hier oben sind nur die Büros und die Aufenthaltsräume der Wachen“, flüsterte Saika. „Die Kerker sind alle unterirdisch. Dort drüben steht übrigens der Galgen.“

Schaudernd starrte Macay durch die Dunkelheit auf die Silhouette des Holzgerüsts, an dem die Schlinge langsam im Wind baumelte.

„Früher hat man die Leute draußen vor dem Stadttor aufgeknüpft“, erzählte Saika, während sie sich in dem stillen Innenhof umsah. „Aber das hat manchmal Ärger gegeben, deshalb macht man es jetzt hier im Verborgenen. Dort drüben!“ Sie deutete auf ein erleuchtetes Fenster in einem Gebäude, das direkt an die Stadtmauer angebaut war. Es war niedrig, langgezogen und hatte mehrere Türen.

„Beachte die Mauer, die über das Dach hinausragt“, sagte Saika. „Sie ist rissig. Die Stadtmauer von Heimstadt ist rund drei Schritte dick, aber sie wurde nicht von gelernten Handwerkern erbaut. Deshalb muss sie immer wieder nachgebessert werden.“

„Warum erzählst du mir das jetzt, wo wir jeden Moment entdeckt werden können?“, fragte Macay genervt.

„Dummkopf. Denk darüber nach. Weiter jetzt.“

Macay verkniff sich eine Antwort. Unbemerkt erreichten sie das erleuchtete Fenster. Macay warf einen Blick hinein und sahen einen gefesselten und ziemlich wüst zugerichteten Katzmenschen, vor dem der Bürgermeister, mehrere Wachleute und die beiden Unbekannten standen.

„Rall“, rutschte es Macay laut heraus.

„Leise!“, fuhr Saika ihn an. „Ich will nicht wegen dir am Galgen enden.“

Leider konnten sie durch das verschlossene Fenster nicht hören, was drinnen besprochen wurde. Ganz vorsichtig näherte sich Saika der Eingangstür und versuchte sie zu öffnen. Es gelang ihr, aber im nächsten Moment hörten sie den Bürgermeister und seine Begleiter kommen. Wieselflink rannte Saika in eine dunkle Ecke.

Macay, der nicht schnell genug reagierte, warf sich zu Boden und drückte sich fest gegen die Wand des Gebäudes. Wenn niemand direkt in seine Richtung sah, konnte er hoffen, unbemerkt zu bleiben.

Zu seinem Glück gingen die beiden Wachmänner mit den Fackeln schnell voraus zum Tor. Bürgermeister Dickmann blieb dagegen stehen und unterhielt sich mit den beiden Vermummten.

„Er ist stur“, sagte der Bürgermeister. „Kein Wort über seine Komplizen oder ihre Absichten.“

„Foltert ihn“, forderte einer der beiden Vermummten mit tiefer Stimme.

„Schon geschehen, jedenfalls ein wenig. Mehr wage ich nicht anzuordnen. Wenn er stirbt und es kommt heraus, könnte mich das mein Amt kosten. Schließlich ist er trotz allem berühmt auf dem Nebelkontinent.“

„Tötet ihn, falls notwendig“, widersprach die tiefe Stimme. „Was er uns nicht sagen will, kann uns Zzorg sagen.“

„Dazu müssten wir ihn erst haben.“ Dem Bürgermeister war hörbar unwohl bei den brutalen Vorschlägen dieses Mannes.

„Morgen geht er uns in die Falle.“ Das klang wie eine Feststellung, an der es nichts zu rütteln gab.

„Nehmt ihr die beiden dann mit?“

„Nein. Es ist sicherer, sie hier im Kerker zu lassen. Sie bleiben, bis wir auch den Jungen haben. Dann sehen wir weiter.“

„Und sorgen Sie dafür, dass hier mehr Wachen sind“, mischte sich nun eine andere Stimme ein. „Rall und Zzorg sind gefährlich.“

Diese Stimme kannte Macay. Er überlegte, wo er sie schon einmal gehört hatte. Nicht hier in der Stadt, es musste länger her sein. Wer war das gewesen? Macay grübelte so lange über diese Frage, dass ihm der Rest des Gesprächs entging. Der Bürgermeister und seine Begleiter gingen weiter zum Tor, wo die Wachmänner mit den Fackeln warteten, und verließen dann das Gefängnis.

Saika rannte zu Macay. „Los, hinterher. Sonst werden wir hier eingesperrt.“

Sie erreichten das Tor des Gefängnisses gerade, als davor die Wächter strammstanden.

Der Bürgermeister musterte die Wachleute. „Wie seht ihr denn aus!“, schnauzte er sie an. „Saubere, ordentliche Uniform ist Vorschrift im Dienst.“

„Es kam zu einem Zwischenfall mit einigen Trunkenbolden, Herr Bürgermeister“, verteidigten sie sich. „Wir konnten sie vertreiben, aber das ging nicht ohne Handgreiflichkeiten ab.“

„Betrunkene, die sich mit Wachleuten anlegen. Wie tief ist diese Stadt gesunken“, seufzte der Bürgermeister. Dann gingen er und die anderen weiter.

Drinnen im Hof des Gefängnisses flüsterte Saika Macay ins Ohr: „Wir müssen sehr schnell sein, wenn wir hier rauskommen wollen. Wenn ich sage ‚Los!‘, dann rennst du durch das Tor und draußen in die erste Gasse rechts. Dort suchst du dir ein Versteck. Ich komme zu dir, sobald es sicher ist. Bereit?“

„Bereit.“

Macay beobachtete, wie der Bürgermeister und seine Begleiter in einer der Gassen verschwanden. Als er weg war, schimpften die Wachen vor dem Tor über ihren Vorgesetzten und seine Überheblichkeit. Dann begannen sie, das schwere Tor zu schließen.

„Los!“, rief Saika.

Macay spurtete hinter ihr her durch den Spalt, den das Tor noch offen war, vorbei an den überraschten Wachleuten. Der Wachmann auf seiner Seite war geistesgegenwärtig genug, nach ihm zu greifen. Er bekam den Umhang zu fassen und zerriss ihn. Macay machte sich frei und rannte, so schnell er konnte, weiter. Er erreichte die schmale Gasse, in die Saika ihn geschickt hatte, und rannte sie entlang, bis er einen dunklen Hofeingang sah. Er blieb stehen und horchte. Jemand war hinter ihm her. Leise, aber schnell, ging Macay in den Innenhof und versteckte sich hinter einigen leeren Körben, die hier standen. Gleich darauf rannte jemand am Hofeingang vorbei.

Macay blieb in seinem Versteck, bis ein Schatten durch die Hofeinfahrt kam und direkt auf ihn zu steuerte. Er machte sich bereit, noch einmal davon zu rennen, doch es war nicht nötig. Es war Saika.

„Du hast den Umhang aus Dunkelseide verloren“, sagte sie anklagend. „Was glaubst du, was so ein Kleidungsstück wert ist? Zwanzig Goldstücke! Wenn man es überhaupt kaufen kann. Nur alle paar Jahre kommen Händler von der Südspitze und bieten solche Stoffe an.“

„Tut mir leid“, beschwichtigte Macay sie. „War keine Absicht. Woher hast du gewusst, wo ich bin?“

„Ich kenne jeden Winkel in dieser Stadt. Wenn man hier vorbei kommt, ist dies das erste brauchbare Versteck. Du kannst froh sein, dass die Wachen dumme Kerle sind.“

„Schon gut. Was machen wir jetzt?“

„Wir gehen zurück zu Elkmar und wecken ihn. Es wird Zeit, unser Vorgehen abzustimmen.“

„Werden uns die Wachen nicht auflauern?“

„Kaum. Wenn wir Glück haben, tun sie morgen sogar so, als wäre nichts gewesen. Im Gefängnis sind noch alle Gefangenen da, also sind wir keine geflohenen Häftlinge. Wenn die Wachen dem Bürgermeister gestehen müssen, dass Fremde im Gefängnis waren, reißt er ihnen den Kopf ab. Nein, ich bin fast sicher, sie halten den Mund und niemand erfährt von unserem Ausflug.“

„Wer bist du eigentlich in Wirklichkeit?“, fragte Macay beeindruckt, während er neben ihr her durch die dunkle Stadt ging.

„Habe ich dir schon gesagt: Saika.“

„Nein, ich meine, was machst du hier in der Stadt? Du spionierst nachts in teuren Umhängen aus Dunkelseide den Leuten nach und hilfst mir, im Gefängnis nach Rall zu sehen. Du musst doch etwas Besonderes sein.“

„Darüber reden wir, wenn wir bei Elkmar sind. Konntest du einen der Männer erkennen, die in Begleitung des Bürgermeisters waren?“

„Die Stimme von einem der beiden kommt mir bekannt vor. Aber ich kann sie im Moment nicht zuordnen.“

„Dann denk darüber nach. Es ist wichtig. Der mit der tiefen Stimme könnte ein kaiserlicher Offizier sein, aber ich bin mir nicht sicher. Fast hatte ich den Eindruck …“ Saika schwieg.

„Was? Welchen Eindruck?“

„Fast hatte ich den Eindruck, es sei ein Adeliger aus dem Kaiserreich.“

„Unmöglich. Adelige reisen nur mit großem Gefolge und würden sich nie in eine so gefährliche Gegend wie den Nebelkontinent wagen.“

„Richtig. Aber seine Art, sich zu bewegen, seine Größe, die Stimme; ich bin mir fast sicher.“

„Woher weißt du, wie Adelige sich bewegen und wie sie sprechen?“, fragte Macay verblüfft.

„Ich bin weit rumgekommen in der Welt“, behauptete Saika. „Und ich täusche mich nur selten, wenn es um Menschen geht.“

Die Erinnerung an die Adeligen, die er in seiner Heimat nur von Ferne gesehen hatte, störte etwas in Macays Gedächtnis auf. Plötzlich wusste er, wo er die Stimme des einen Unbekannten gehört hatte: Sie gehörte dem Adligen Alambar D‘Rhan, der im Gerichtssaal in Mersellen das Urteil über ihn und seine Schwester gesprochen hatte!

„Du hast recht“, sagte er zu Saika. „Es sind Adlige.“ Er erzählte ihr von seiner Gerichtsverhandlung.

„Dein Richter folgt dir bis auf den Nebelkontinent?“, fragte sie ungläubig zurück. „Ich weiß nicht, was ich davon halten soll.“

Das wusste auch Macay nicht. Während sie weitergingen, grübelte er über die Frage nach, was an ihm wohl so besonders sein konnte. Er kam zu keinem Ergebnis.

Sie erreichten die Druckerei und durchquerten Macays Verschlag, von dem eine Tür ins Innere des Hauses führte. Im Obergeschoss weckten sie den alten Elkmar, der nicht überrascht war, mitten in der Nacht Gäste zu haben. Elkmar machte Tee, sie setzten sich um einen Tisch und begannen, ihm die Ereignisse der Nacht zu erzählen.

„Und, ach ja“, sagte Saika schließlich, „Macay möchte wissen, wer ich bin.“

Elkmar grinste und antwortete: „Nun gut, dann sage es ihm.“

„Ich bin Elkmars Tochter. Und eine Diebin“, sagte Saika, als wäre es das Selbstverständlichste von der Welt.

„So etwas habe ich mir schon gedacht“, sagte Macay. „Wir haben auch Diebe in Mersellen. Sie sind nicht sehr beliebt.“

Saika lachte. „Das ist hier nicht anders. Aber im Gegensatz zu den Dieben im Kaiserreich haben wir es uns nicht nur zur Aufgabe gemacht, den Reichen ein wenig von ihrer Last abzunehmen, sondern auch, den normalen Menschen bei ihrem mühseligen Leben zu helfen.“

„Wie soll das denn gehen?“

„Indem wir die Obrigkeit beschäftigen und so in Schach halten“, behauptete Saika stolz.

Elkmar ergänzte: „Solange Bürgermeister und Wache glauben, es gebe viele Diebe in der Stadt, haben sie einen Feind, gegen den sie kämpfen können. Wenn es die Diebe nicht mehr gibt, wird der Bürgermeister mehr Zeit haben, sich politischen Dingen zuzuwenden. Und das kann nicht gutgehen.“

„Seit Bürgermeister Dickmann im Amt ist, funktioniert das allerdings nicht mehr so gut wie früher“, fügte Saika hinzu. „Er kümmert sich nicht um Kleinigkeiten wie Diebe. Die Kaiserlichen haben ihm versprochen, Verwalter des Nebelkontinents zu werden.“

„Verwalter? Es gibt Verwalter von Provinzen im Kaiserreich, aber es sind alles Adelige“, erklärte Macay verblüfft. „Ich kann mir nicht vorstellen, dass der Kaiser einem normalen Menschen eine solche Ehre erweist. Schon gar nicht einem Bürgermeister.“

„Das weißt du, das wissen wir, aber der dicke Dickmann will eben etwas Anderes glauben. Und er ist bereit, alles zu tun, um sein Ziel zu erreichen.“

„Und deine Rolle, Elkmar?“

„Ich gebe Ratschläge, wenn man mich fragt“, antwortete Elkmar bescheiden. „Ich helfe, wenn jemand in Bedrängnis ist und meine geringen Mittel und Fähigkeiten ihm von Nutzen sein können.“

„Aha.“ Macay konnte mit dieser Antwort nichts anfangen. „Saika, warum hast du mir geholfen, als du mich damals nachts getroffen hast?“

„Unsere Begegnung war kein Zufall. Als ich dich auf dem Marktplatz sah, hatte ich den Verdacht, du könntest der Begleiter von Rall und Zzorg sein. Wir wussten schon vor dem Bürgermeister von eurer Reise durch den Nebelkontinent.“

„Woher?“

„Die Organisation der Diebe ist in allen Siedlungen vertreten. Und Tauben mit einem Zettelchen am Bein fliegen schneller, als je ein Floß den Pil hinauffahren kann. Eszger hat uns von dem Überfall der Kaiserlichen ebenso unterrichtet, wie über das Auftauchen von Rall und dir. Selbstverständlich haben wir das für uns behalten. Man muss nicht alles ausplaudern, was man weiß, sondern es geschickt für die eigenen Zwecke einsetzen.“

Macay lehnte sich gähnend zurück und fragte: „Welche Zwecke?“

„Absetzung des Bürgermeisters und Vertreibung der Kaiserlichen vom Nebelkontinent.“

„Da habt ihr viel vor.“

„Richtig. Und der erste Schritt dazu ist, Rall aus dem Kerker zu befreien. Dann müssen wir Zzorg finden. Mit diesen beiden sollte es möglich sein, unser Ziel zu erreichen.“

„Wir sind eigentlich auf dem Weg zur Westküste, zu den Karoliern“, sagte Macay.

„Das hat Rall dir erzählt. Aber Zzorg und Rall haben schneller als du bemerkt, was Sache ist.“

„Nämlich?“

„Mit dir stimmt etwas nicht. Seit du aus dem Lager an der Küste geflohen bist - und auch davon haben wir recht schnell erfahren -, sind die Kaiserlichen hinter dir her, als wärst du ein ganz besonders wichtiger Mensch.“

„Sie sind hinter mir her, weil sie jeden Flüchtling jagen.“

„Sie versuchen, Flüchtlinge zu fangen, das stimmt. Wobei fast alle, die aus den Lagern fliehen, vom Nebelkontinent getötet werden, sobald sie den Dschungelgürtel an der Küste hinter sich lassen. Aber seit wann werden hinter einem kleinen Dieb, der aus einem Lager ausbricht, ganze Trupps von Soldaten her geschickt werden? Nein, die Kaiserlichen wollen etwas von dir.“

„Ich habe aber nichts.“

„Wenn es nicht um etwas geht, das du besitzt“, sagte Elkmar, „dann geht es um etwas, das du bist.“

„Ich bin nichts Besonderes.“

„Vielleicht hast du Eigenschaften oder Talente, von denen du selbst nichts weißt. Aber es ist müßig, darüber zu spekulieren. Wichtig ist zunächst, Rall zu befreien, damit ihr drei euren Weg fortsetzen könnt, hinein in den Alten Wald.“

„Wieso in den Alten Wald? Wir wollen ...“

Elkmar unterbrach ihn. „Besprich das mit Zzorg und Rall, wenn ihr wieder beisammen seid.“

„Schön, wenn du meinst“, gab Macay sich erst einmal geschlagen. „Aber wie bekommen wir Rall frei?“

„Ich habe da schon einen Plan“, behauptete Saika. „Wir brechen ins Gefängnis ein.“ Sie begann, ihren Plan zu erklären.

Die Vorbereitungen für die Befreiungsaktion dauerten zwei Tage. Dabei war der entscheidende Teil der Arbeit einer Gruppe von Dieben vorbehalten, die Macay nur einmal kurz zu sehen bekam. Es waren ein knappes Dutzend Gestalten, darunter offenbar auch Katzer und Echser. Diese Gruppe hatte den Auftrag, von außen ins Gefängnis einzubrechen.

„Wir nutzen dazu den schlechten Zustand der Stadtmauer“, erklärte Saika. „Die vielen Ritzen und losen Steine bieten genügend Halt für Kletterpflanzen.“

Unter den versammelten Gestalten gab es leise Proteste.

„Ich weiß, das ist nicht ungefährlich“, gab Saika zu. „Aber wir müssen es riskieren. Während ihr so tut, als würdet ihr das Gefängnis von außen stürmen, befreien wir Rall und machen uns aus dem Staub.“

„Wir werden es tun“, sagte nach einer gemurmelten Beratung einer der Diebe. „Einer der Unseren ist auch gefangen und muss befreit werden.“

Damit ging die Versammlung auseinander. Saika und Macay kehrten in Elkmars Druckerei zurück.

„Warum sollen sie nur so tun als ob?“, fragte Macay unterwegs.

„Das soll die Wachen ablenken“, erwiderte Saika. Sie erklärte Macay zum ersten Mal den echten Ausbruchsplan: In den Ausläufern des Alten Walds, der sich bis fast an die Stadt heran erstreckte, wurden einige Triebe einer extrem gefährlichen Kletterpflanze geholt. Diese fleischfressende Pflanze wuchs dort an Bäumen empor auf der Suche nach Vogelnestern, Eichhörnchen und ähnlichem Getier. Da es Jagdpflanzen waren, konnten sie sich, wenn es darauf ankam, sehr schnell bewegen. Ihre Ausläufer wurden dann zu messerscharfen Peitschenschnüren, die das Opfer glatt zerteilen konnten, worauf die Blätter das Blut aufsaugten. Macay erinnerte sich schaudernd an das tödliche Gras in der Ebene.

Die Triebe dieser Pflanzen waren ein hervorragendes Werkzeug. Der Plan sah vor, sie außerhalb der Mauer einzupflanzen und dann die Mauer mit frischem Tierblut zu bestreichen. Dadurch wurden die Pflanzen zu besonders schnellem Wachstum angestachelt. Ihre Triebe würden sich an Mauerspalten und Ritzen entlang nach oben ziehen, in der Hoffnung, dort Beute zu finden. Dann konnte man die Pflanzen, indem man ihnen ein paar Tierkadaver zum Fraß vorwarf, ruhigstellen und sie als Kletterhilfe benutzen.

Saikas Idee war es nun, solche Triebe vor der Stadtmauer im Süden, also außerhalb des Gefängnisses, einzupflanzen, um auf die Mauerkrone zu gelangen. Dort oben sollten dann einige Diebe einen Riesenradau veranstalten, als sei eine ganze Horde Bewaffneter dabei, in das Gefängnis einzudringen. Natürlich war das gefährlich, da die Wachen mit Pfeil und Bogen ausgerüstet waren und sicherlich gut damit umzugehen wussten.

Diese Zeit der Verwirrung würden Saika und Macay nutzen, um die eigentliche Befreiungsaktion zu starten. Nur zu zweit, wie ihm Saika versicherte, denn mehr Leute waren gar nicht nötig, jemanden aus dem Kerker zu holen, solange die Wachen abgelenkt waren.

Am Tag vor dem geplanten Ereignis, als schon zwei von Saikas Freunden im Wald unterwegs waren, um die notwendigen Triebe zu besorgen, kam ein kleiner Junge in die Werkstatt von Elkmar gerannt und schrie: „Die Kaiserlichen kommen!“ Bevor man ihn fragen konnte, was er damit meinte, rannte er schon weiter.

Besorgt machten sich Macay, Saika und Elkmar auf den Weg zum östlichen Stadttor, wohin auch viele andere Einwohner strömten. In einer großen Menschenmenge stehend mussten sie zusehen, wie durch das Tor einige berittene Kämpfer kamen, die zwar keinerlei Abzeichen oder sonstige Hinweise ihrer Herkunft trugen, aber zweifellos zu den kaiserlichen Truppen gehörten. In ihrer Mitte ging Zzorg: gefesselt, geknebelt und aus mehreren Wunden blutend.

Begleitet von vielen Menschen brachten die Kaiserlichen Zzorg zum Gefängnis, in das er unter Schlägen und Beschimpfungen der Wachen geführt wurde. Diese Behandlung führte zu erheblicher Unruhe unter den Zuschauern, war ihnen Zzorg doch, soweit sie ihn schon kannten, als aufrechter Kämpfer für die gute Sache bekannt. Auch Elkmars Zeitungsartikel über das Heldenduo Zzorg und Rall mochte geholfen haben, die Menschen misstrauisch gegen diese Vorführung eines angeblichen Verbrechers zu machen.

Der Bürgermeister sah sich genötigt, die Menge zur Ruhe aufzufordern. „Es wird alles erklärt werden, liebe Mitbürgerinnen und Mitbürger“, schrie er und wedelte mit den Armen. „Dieser Echsenmann ist ein Verbrecher!“

Es dauerte eine Weile, bis er sich Gehör verschaffen konnte. „Es wird ein gerechtes Verfahren geben“, behauptete er dann. „Morgen Abend wird er öffentlich vor Gericht gestellt, und dann werden alle erfahren, welcher Taten gegen die Interessen Heimstadts er bezichtigt wird. Geht jetzt nach Hause. Die kaiserlichen Soldaten werden darüber wachen, dass euch nichts geschieht. Morgen ist der Prozess. Öffentlich auf dem Marktplatz.“

Die Menge begann, sich murrend zu zerstreuen. Macay war zu verblüfft, um wegzugehen. Elkmar packte ihn am Arm und zog ihn mit sich.

„Was für Verbrechen soll Zzorg denn begangen haben?“, fragte er Elkmar und Saika, als er wieder klar denken konnte.

„Ich weiß es nicht. Aber auf der Reise von Eszger hierher können viele Dinge geschehen sein, die man zu Verbrechen umdeuten kann“, antwortete Elkmar. „Kämpfe gegen Kaiserliche, zum Beispiel.“

„Das waren aber keine Verbrechen von uns, sondern ...“

Elkmar unterbrach ihn: „Man wird ihm solche Vorfälle zumindest vorhalten. Aber wenn Saikas Plan Erfolg hat, brauchen wir uns keine Gedanken darüber zu machen. Dann ist Zzorg morgen früh frei, genauso wie Rall.“

Gegen Mittag lagen mehrere Triebe von Kletterpflanzen in Säcken verpackt außerhalb der Stadtmauer bereit. Ein Katzmensch war verletzt worden bei dem Versuch, Triebe abzuschneiden, aber die Verletzung war zum Glück nicht schwer. Wegen Zzorgs Verhaftung musste die Aktion noch vor Hereinbrechen des Abends beginnen, einen Tag früher als geplant. Die Triebe brauchten zum Anwachsen Sonnenlicht. Waren sie erst einmal in der Erde verwurzelt, wuchsen sie auch nachts weiter - schließlich war das ihre bevorzugte Jagdzeit im Wald.

Elkmar nahm Macay beiseite. „Wenn eure Flucht gelingt, woran ich nicht zweifle, dann werdet ihr in den Alten Wald gelangen. Ich kann dir leider nicht viel über diesen Wald erzählen, außer Spukgeschichten, die wenig hilfreich sind. Aber ihr werdet irgendwann auf die Ruinenstadt stoßen. Meidet sie, wenn ihr könnt. Ihr könnt die südlichen Pässe nutzen, um das Gebirge zu überqueren. Aber es soll auch einen Tunnel geben, der irgendwo in der Nähe der Ruinenstadt beginnt und unter dem ganzen Gebirge hindurchführt. Falls ihr seinen Eingang findet, ist das wahrscheinlich die sicherste Möglichkeit, um zur Westküste zu gelangen.“

„Ist schon einmal jemand durch diesen Tunnel gegangen?“

„Nicht, dass ich wüsste. Die Geschichte über den Tunnel gehört zu den Erzählungen, die in Umlauf sind, ohne dass man weiß, woher sie kommen. Ich persönlich glaube, es sind uralte Überlieferungen aus einer Zeit, als die Ruinenstadt noch bewohnt war. Aber Genaueres kann dir niemand sagen.“

„Falls wir durch den Tunnel gehen, werden ich Ihnen aus Port Hadlan eine Nachricht schicken und berichten, wie es war.“

„Sehr schön, den Bericht werde ich dann in der Zeitung abdrucken. Noch etwas Wichtiges: In einem Versteck im Alten Wald liegen Waffen und Vorräte für euch bereit.“ Elkmar schilderte die Lage des Verstecks. Dann stand er auf und streckte die Hand aus. „Auf Wiedersehen, Macay. Und viel Glück!“

Macay hatte einen Kloß im Hals, als er sich von Elkmar verabschiedete. Aber Saika drängte. Sie und Macay mussten sich beeilen, um rechtzeitig an Ort und Stelle zu sein, wenn im Morgengrauen der Scheinangriff über die Stadtmauer begann.

Im Schutze eines neuen Umhangs aus Dunkelseide, den Saika ihm mitgebracht hatte, folgte Macay ihr durch die Stadt bis zu einem Gebäude in der Nähe des Gefängnisses. Von hier aus starteten sie die Befreiungsaktion.

„Die Kerker des Gefängnisses liegen unterirdisch“, erklärte Saika. „Deshalb werden wir auch unter der Erde versuchen, die Gefangenen zu befreien.“

„Einen Tunnel graben?“

„So etwas Ähnliches. Du wirst schon sehen. Komm jetzt mit in den Keller.“

Sie kletterten durch eine Falltür in den Untergrund. Dort fanden sie gewöhnliche Kellerräume vor, in denen Vorräte und Gerümpel lagerten. Doch in einer Ecke, gut getarnt, führte ein Loch in der Kellerwand in einen Gang. Das Loch war klein, Macay hatte Mühe, sich hindurchzupressen. Der Gang dahinter erlaubte nur, sich auf Knien rutschend vorwärts zu bewegen. Es ging schräg nach unten. Wie weit, vermochte Macay nicht abzuschätzen. Dann sagte Saika, die vor ihm war, leise: „Vorsicht, fallenlassen.“

Im nächsten Moment spürte Macay, wie seine tastenden Hände ins Leere griffen, und er fiel. Nicht tief, aber ungelenk, weil er nicht darauf vorbereitet war. Entsprechend schmerzhaft war die Landung.

„Jetzt können wir Licht machen“, sagte Saika. Sie entzündete eine Öllampe und half Macay auf die Beine.

Der Tunnel, in dem sie standen, war übermannshoch und breit genug, um bequem darin zu gehen. Er war jedoch im Querschnitt wesentlich schmaler als hoch, so dass nicht zwei Menschen nebeneinander stehen konnten. Die Wände bestanden aus Sand und Kies, waren aber glatt, als wäre eine durchsichtige Glasur auf sie aufgetragen worden.

„Wo sind wir?“, fragte Macay, während er sich umsah.

„In den Gängen eines Morrows. Aber keine Angst, er ist tot. Wir können uns also frei bewegen. Zumindest, solange kein lebender Morrow die Gänge entdeckt und in Besitz nehmen will.“

„Was ist ein Morrow?“

„Stell dir eine glibberige, schwarze Blase vor, die genau in diesen Gang passt. Seine Haut scheidet Säure aus, die glättet die Wände. Der Morrow hat keine bestimmte Form, sondern passt sich an die Erfordernisse an. Er kann Arme und Hände ausbilden, wenn er sie braucht, er kann sich aber auch vorübergehend so dünn machen, dass er wie eine lange, schwarze Schlange durch das dünnste Loch passt.“

„Und er ist vermutlich, wie alles auf dem Nebelkontinent, extrem gefährlich“, sagte Macay, während er hinter Saika herging.

„Wie man es nimmt. Er ist eigentlich Aasfresser. Wenn ein größeres Tier auf der Erdoberfläche stirbt, kommt der Morrow hoch, bildet Greifarme und frisst den Kadaver. Aber wenn er Hunger hat, greift er schon mal von sich aus an. Und natürlich wird er ziemlich wütend, wenn er jemanden in seinen Gängen erwischt.“

„Er kommt wie ein schwarzer, kalter Schatten aus der Erde.“

„Ja, genau. Hast du schon einen gesehen?“

„Ich glaube, ja. Als mir Rall demonstriert hat, wie der Nebelkontinent auf unerwünschte Menschen reagiert.“ Macay schüttelte sich und wechselte das Thema. „Führt dieser Gang zum Gefängnis? Dann müssten wir doch eigentlich schon da sein.“

„Nein, wir sind tiefer. Die Kerkerzellen befinden sich über uns.“ Saika zeigte zur Decke. „Wir gehen zu einer Stelle, an der dieser Gang bis an den Boden des Gefängnisses heranreicht. Dort hat der Morrow einmal einen gestorbenen Gefangenen erspürt und ein Loch in den Boden des Gefängnisses gefräst.“

„Und dort brechen wir durch?“

„Der Handwerker, der damals das Loch des Morrows wieder zugemauert hat, ist ein Freund von mir. Er hat es so gemacht, dass man es von unten leicht aufstemmen kann.“

„Und wenn oben Wachen stehen?“

„Die verscheuchen wir. Damit.“ Saika zog einen faustgroßen Lederbeutel aus ihrer Umhängetasche, an dessen Öffnung ein kleines Holzteil befestigt war. Sie drückte die Luft aus dem Beutel, und das Holzteil erzeugte einen tiefen, beunruhigenden Ton. „Der Ruf eines Morrows. Wir werden es später noch einmal benutzen. Jetzt sorgen wir erst einmal dafür, dass oben jeder, der sich in der Nähe aufhält, alles stehen und liegen lässt und davon läuft.“

Saika blies Luft in den Ledersack und ließ dann etliche Male den durchdringenden Laut ertönen.

„So, das dürfte genügen. Wenn die oben nicht taub sind, haben sie es gehört.“ Sie nahm eine kleine Hacke, die in dem Gang bereitstand, und schlug damit gegen die Stelle an der Decke, die kein Gestein, sondern Mauerwerk zeigte. Es war eine mühsame Arbeit, weil sie über Kopf schlagen musste, aber sie ließ nicht zu, dass Macay ihr half. Schließlich entstand ein Loch. Ein weiterer, wohl gezielter Schlag, und Steine regneten herunter.

Mit einem Sprung brachte Saika sich in Sicherheit. „Das war der schwierige Teil“, sagte sie. „Jetzt wird‘s einfach. Hilf mir hoch.“

Macay half ihr, nach oben durch das Loch zu klettern. Anschließend streckte Saika den Arm herunter und zog ihn zu sich hoch. Sie war erstaunlich kräftig, es schien sie nicht einmal anzustrengen.

Sie befanden sich in einer engen Zelle. „Hoffentlich hat niemand den Krach gehört, den du gemacht hast“, sagte Macay besorgt.

„Wenn alles geklappt hat, läuft oben gerade der Scheinangriff über die Mauer. Und falls doch ein Wächter hier unten gewesen sein sollte, dann rennt er jetzt um sein Leben, weil er meint, ein Morrow sei dabei, wieder durchzubrechen.“

„Ist die Tür verschlossen?“

„Glaube ich nicht. Es ist eine leere Zelle.“ Saika löschte die Öllampe und probierte die Tür. Tatsächlich ließ sie sich öffnen.

Draußen war ein Gang, an dessen Wänden Öllampen hingen. Ein Dutzend Türen führten in andere Kerkerzellen und eine Gittertür am Ende des Ganges aus dem Kerker heraus.

Saika zog einen Dietrich heraus und öffnete eine Tür nach der anderen. Einige Zellen waren leer, in anderen saßen Gefangene, die Saika aufforderte, im Gang zu warten, bis alle befreit war. Macay erkannte den Katzer wieder, der sich auf dem Marktplatz als Taschendieb betätigt hatte. Auch Rall und Zzorg waren schließlich frei.

Saika wandte sich an die befreiten Gefangenen: „Los, alle runter. Und unten wartet ihr auf mich verstanden?“

Das ließ sich keiner zweimal sagen. Einer nach dem Anderen verschwanden sie durch das Loch. Nur Zzorg hatte Probleme, denn seine Echsenschultern waren zu breit. Aber mit ein paar kräftigen Fausthieben vergrößerte er das Loch und dann war auch er unten. Als sie selbst folgen wollten, hörten Macay und Saika von draußen laute Rufe. Stiefelschritte kamen näher.

„Hört sich so an, als wäre der Scheinangriff abgewehrt worden und die Wachen kommen zurück“, sagte Saika. „Das wird knapp.“

Durch die Gittertür am Ende des Ganges sahen sie die ersten Wächter kommen. Die blieben verblüfft stehen, als sie Unbekannte in ihrem Gefängnis sahen. Aber sie erholten sich schnell von der Überraschung. Sie gaben Alarm, zogen ihre Waffen und stürzten vorwärts.

Saika und Macay sprangen durch das Loch.

„Sie kommen!“, schrie Saika unten im Gang. „Alle mir nach.“

Sie rannten durch den Morrow-Bau, bis sie an eine Abzweigung kamen.

„Macay, Rall, Zzorg: Ihr geht nach links“, sagte Saika. „Der Gang führt nach oben. An seinem Ende findet ihr einen Ausgang, der in den Ausläufern des Alten Walds liegt. Alle anderen folgen mir nach rechts. Wir kommen im Keller eines Hauses in der Stadt heraus. Habt ihr das verstanden?“

Die Gefangenen nickten. Macay wollte Saika für die Rettung seiner Freunde danken, aber er hörte hinter sich, wie Leute durch den Gang rannten. Die Wachen waren offenbar todesmutig ebenfalls in den Tunnel des Morrows gesprungen.

Saika holte den Lederbeutel hervor, mit dem man das Geräusch eines Morrows nachmachen konnte, blies ihn auf und drückte ihn kräftig wieder aus. Das Getrappel im Gang kam zum Stillstand. Aber dann hörten sie eine Männerstimme: „Das kann kein Morrow sein, sonst hätte er die Gefangenen längst gefressen. Die wollen uns hereinlegen. Mir nach, die holen wir uns.“

„Los, verschwinden wir“, rief Rall.

„Moment noch“, sagte Saika. Sie ließ den Ruf des Morrows noch einmal ertönen, sehr laut diesmal.

Leiser, aber vernehmbar, kam durch das Erdreich eine Antwort.

„Unter uns verläuft der Gang eines anderen Morrows. Ich wette, der wird gleich kommen und nachsehen, wer hier nach ihm ruft. Rennt um euer Leben!“

Panisch vor Schreck rannten die Gefangenen davon. Saika umarmte Macay: „Tschüs, Macay. Wir sehen uns bestimmt eines Tages wieder.“ Dann rannte sie hinter den Gefangenen her.

Hinter einer Biegung tauchten die ersten Wachen auf. Gleichzeitig rumorte der Boden unter den Füßen von Macay.

„Weg hier!“, schrie er, und sie rannten, so schnell sie konnten, den linken Gang entlang.

„Dort sind sie!“, hörten er die Wachen hinter sich. Alles Weitere ging in einem lauten Poltern unter, dem noch lauter die Rufe eines Morrows folgten.

Und dann, während Macay, Rall und Zzorg weiter rannten, hörten sie die schrecklichen Todesschreie der Wachen.

Die drei Flüchtlinge erreichten das Ende des Ganges. Oben in der Decke war ein Loch, das durch Äste und Blätter verdeckt war. Rall schnellte nach oben, als hätte er eine Sprungfeder unter den Füßen. Er holte erst Macay und dann Zzorg zu sich hoch, dann rannten sie durch den morgendlich kühlen Wald weiter, was nicht ohne Stolpern und Stürze abging.

Als Macay sich umdrehte, sah er aus dem Loch, durch das sie gekommen waren, eine schwarze Masse hervorquellen. Wie erstarrt blieb er stehen. Aber gleich darauf verschwand der Morrow wieder.

„Das war knapp“, sagte Rall. „Wie konnte das Mädchen das nur tun?“

„Die Wachen sind jedenfalls beseitigt“, gab Macay zu bedenken.

„Und der Morrow ist satt“, fügte Zzorg hinzu. „Wir müssen weg von hier, bevor Suchtrupps kommen.“

„In der Nähe sind Vorräte und Waffen für uns versteckt“, berichtete Macay. „Holen wir sie.“

Sie fanden ein Lager, in dem genügend haltbare Lebensmittel für einen mehrtägigen Marsch bereitlagen, dazu Waffen aus bestem Stahl, vom Dolch über ein Kurzschwert bis zum Zweihänder. Außerdem ein Bogen und Pfeile.

„Donnerwetter“, fuhr es Rall heraus. „Die haben wirklich an nichts gespart. Das werden wir kaum schleppen können.“

„Gib her“, sagte Zzorg und hob den großen Ledersack, in dem die meisten Dinge lagen, als hätte der kein Gewicht. Er warf sich den Sack über den Rücken und marschierte los.

Achselzuckend folgten ihm Rall und Macay.

Macay-Saga 1-3

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