Читать книгу Macay-Saga 1-3 - Manfred Rehor - Страница 7

Оглавление

Der Händler

Ein Händler kam nach Eszger. Das war nichts Besonderes, Händler kamen nun wieder fast jeden Tag. Sie reisten von kleinen Marktflecken im Norden an, wo die Katzmenschen filigrane Handarbeit anzufertigen in der Lage waren, die teuer verkauft wurden, oder aus dem Süden, wo Echsenmenschen Lederwaren und Getreide produzierten. Seltener kamen welche aus dem Westen. Dort lebten in Heimstadt und im Gebirge Menschen, die sich auf die Metallverarbeitung verstanden. Sie lieferten Waffen und Rüstungen, aber auch Werkzeuge und landwirtschaftliche Geräte.

All das sammelte sich im Schnittpunkt dieser drei Regionen, und das war Eszger. Sogar getrocknete Fische und dekorative Muscheln von der Westküste, wo die Karolier siedelten, wurden auf dem Markt angeboten und erzielten hohe Preise. Nur von der Ostküste, die in der Hand der Kaiserlichen war, kamen keinerlei Produkte.

Der alte Händler, der an diesem Morgen eintraf, machte einen heruntergekommenen Eindruck. Seine Waren trug ein Maulesel, den er hinter sich herzog. Eigentlich waren dies wertvolle Tiere, aber dieses war noch älter und schäbiger als sein Besitzer. Es hinkte und brach unter den zwei leichten Säcken, die es zu tragen hatte, fast zusammen.

Der Händler, der sich Possag nannte, meldete sich ordnungsgemäß bei der Marktaufsicht von Eszger an und eröffnete einen Stand mit billigen Waren. Sein dichter Bart und eine schmutzige Kutte, deren Kapuze weit in die Stirn hing, verdeckten sein Gesicht und seinen Körper, doch das fiel niemandem als ungewöhnlich auf.

Die Menschen gingen achtlos an ihm vorüber, denn was er zu bieten hatte, mochte in irgendeinem abgelegenen Dorf verkäuflich sein, aber nicht in Eszger. Es waren rostige Metallwaren, halb stumpfe Spiegel, einfach Spielsachen aus Holz und ähnliche Dinge ohne großen Wert. Possag saß den ganzen Tag schweigend hinter seinem Angebot, ohne etwas zu verkaufen.

Am Abend packte er sein Bündel zusammen und ging in den billigsten Gasthof. Er setzte sich in eine dunkle Ecke, bestellte ein Glas von dem in Eszger üblichen Dünnbier und beobachtete die anderen Gäste. Ein angetrunkener junger Mann, der ein großer Angeber zu sein schien, fiel ihm auf. Possag sprach ihn an. Bald darauf wechselte ein kleiner Gegenstand den Besitzer, wofür der junge Mann Possag etliche Münzen gab. Dann verschwand der Mann und Possag bestellte zufrieden noch ein Glas.

Eine halbe Stunde später kam der junge Mann wieder. Seine Augen glänzten, seine Laune war die beste und er hatte zwei Freunde mitgebracht. Sie setzten sich zu Possag und er unterhielt sich lange mit ihnen. Auch sie erhielten etwas, zahlten dafür und gingen.

Bald entwickelte sich ein reger Verkehr in der dunklen Ecke. Es war, als habe sich die Nachricht von Possags Anwesenheit wie ein Lauffeuer in der Stadt verbreitet. Als der Wirt am frühen Morgen die letzten Gäste davonjagte, hatte Possag ein kleines Vermögen verdient. Zufrieden mietete er ein Zimmer und legte sich schlafen.

In den folgenden Tagen wurden Possags Kunden immer zahlreicher. Doch eines Abends, als er vom Marktplatz kam und zu dem Gasthaus wollte, lief er Macay über den Weg. Possag duckte sich noch tiefer unter seine Kapuze und drückte sich an Macay vorbei. Der Zufall wollte es, dass Possag dabei einem anderen Passanten in den Weg lief. Der Mann schimpfte und Possag sagte: „Entschuldigung!“

Diese hohe, heisere Stimme kannte Macay. „Ballaram!“, rief er.

Possag machte wortlos kehrt und rannte davon. Macay spurtete hinterher, erwischte ihn am Umhang und brachte ihn zu Fall. Possag rappelte sich wieder auf. Sein üppig wuchernder Bart war verrutscht, Ballarams Gesicht war nun zu erkennen.

Macay war so verblüfft, dass er für einen Moment unbeweglich stehenblieb. Das nutzte Ballaram für einen kräftigen Tritt gegen Macays Schienbein. Macay fiel hin, Ballaram verschwand er in der Dunkelheit.

Eine Stunde später saß Macay mit Rall und Zzorg bei Mirjam im Haus des Rats.

Macay war immer noch fassungslos. „Wieso treibt sich Ballaram verkleidet hier in der Stadt herum?“, fragte er Rall.

„Als Spitzel der Kaiserlichen, das ist wohl klar. Sie müssen ihn freigelassen und hierher gebracht haben.“

„Aber er war auf meiner Seite! Er hat mir geholfen und sogar seine Karte geschenkt ...“ Macay stutzte, dann sagte er: „Was ist, wenn er die Karte auch von den Kaiserlichen hat?“

„Dann war deine Flucht aus dem Lager von den Kaiserlichen beabsichtigt“, antwortete Rall.

„Und der Kopfgeldjäger, der hinter uns her war?“

„Vielleicht hat die Leitung des Gefangenenlagers nicht gewusst, dass man dich absichtlich fliehen lässt. Das muss alles auf dem Kaiserlichen Kontinent geplant worden sein.“

„Das ist doch Unsinn“, ereiferte sich Macay. „Warum sollte man so etwas mit mir machen? Ich bin niemand Besonderes. Man hat meine Schwester und mich dabei erwischt, wie wir Brot geklaut haben. Weil wir Hunger hatten. Das war schon alles.“

„Offensichtlich nicht. Da muss mehr dahinterstecken. Ballarams Karte weist den Weg bis Heimstadt in der Mitte des Kontinents. Aus irgendwelchen Gründen wollen die Kaiserlichen, dass du dorthin gehst.“

„Also werde ich das nicht tun.“

„Oh, doch, wir werden nach Heimstadt gehen.“

„Aber warum?“

Zzorg zischte: „Wie willst du sonst herausfinden, was hinter alledem steckt?“

„Richtig“, unterstützte ihn Rall. „Außerdem liegt es auf dem kürzesten Weg, der zur Westküste führt.“

„Es ist schlimm genug, wenn sich ein Lassach-Händler in die Stadt einschleicht“, mischte sich Mirjam ein. „Er hat ein Dutzend unserer Einwohner abhängig gemacht. Rall, ich bitte dich, diese armen Seelen - falls möglich - von ihrer Sucht zu heilen. Alle, deren wir habhaft werden konnten, sind in den Arrestzellen eingesperrt.“

„Lassach? Seit Jahren hat niemand mehr dieses verdammte Zeug ins Inland gebracht“, sagte Rall. „Die Kaiserlichen achten sehr darauf, dass niemand dem Adel seine liebste Droge wegnimmt. Die Herstellung ist sehr aufwendig und teuer. Die Arbeitslager liefern kaum genug Rohstoff, um die Bedürfnisse des kaiserlichen Adels zu befriedigen. Was das bedeutet, ist wohl klar.“

Mirjam und Zzorg nickten, doch Macay musste nachfragen. „Mir nicht. Was denn?“

„Possags - oder besser: Ballarams Lassach-Paste wurde absichtlich auf den Nebelkontinent gebracht. Nur einen Grund dafür kann ich mir noch nicht vorstellen.“

„Befragen wir die Süchtigen“, schlug Mirjam vor. „Vielleicht können wir aus denen etwas heraus bekommen.“

Sie gingen zu den Arrestzellen, wo die Lassach-Opfer ein bejammernswerteres Bild abgaben: Sie waren verschmutzt, verwirrt und bettelten, man solle ihnen etwas von der Paste geben. Sie waren bereit, jeden Preis dafür zu bezahlen, wenn sie nur aus diesem Elend erlöst würden. Und mit Elend meinten sie nicht etwa die Zustände in der Arrestzelle, sondern das Leben ohne den Stoff, von dem man sie in so kurzer Zeit völlig abhängig gemacht hatte.

Rall wandte seine Fähigkeiten an und konnte zumindest einige von ihnen ruhig stellen und befragen. Die Antworten ließen Schlimmes befürchten: Ballaram hatte bei seinen Verkaufsgesprächen gezielt Erkundigungen über Fremde in der Stadt eingezogen. Er hatte von Macay, Rall und Zzorg erfahren und angeboten, demjenigen eine Dosis Lassach zu schenken, der ihm etwas über die Pläne der Drei verraten konnte. Da jeder in Eszger von ihrer Absicht gehört hatte, zur Westküste zu gehen, wusste das nun auch Ballaram.

„Es besteht höchste Gefahr“, sagte Zzorg. „Wir müssen sofort abreisen.“

„Du hast recht“, bestätigte Rall. „Wir brechen morgen in aller Frühe auf. Und wir werden nicht wie geplant direkt nach Westen gehen. Ich schlage vor, wir wenden uns zunächst nach Südwesten, wo wir durch das Gebiet der Echsenmenschen kommen. Sie sind verschwiegen. Unsere Chancen, von den Kaiserlichen nicht entdeckt zu werden, sind dort höher.“

„Ich bin dankbar, dass ihr das so seht“, gab Mirjam zu. „Denn so schwer es mir fällt, dies unseren Rettern zu sagen: Jeder Tag, den ihr in Eszger verbringt, stellt eine Gefahr für die Stadt dar.“

„So sehe ich das auch. Macay, bist du einverstanden?“

„Ja. Wir reisen morgen früh ab.“ Macay wollte nicht zugeben, wie sehr ihn das Zusammentreffen mit Ballaram erschreckt hatte.

Sie brachen im Morgengrauen auf. Macay, Rall und Zzorg waren gut ausgestattet mit Waffen und Proviant. Als Wasservorrat genügte jedem eine Feldflasche am Gürtel, denn in den nächsten Tagen würden sie viele Bäche und Quelltümpel finden, in denen es trinkbares Wasser gab.

Verabschiedet wurden sie von Mirjam, die sie ein paar Schritte hinaus aus dem Nordtor begleitete. „Ihr werdet immer willkommen sein in Eszger“, sagte sie feierlich. „Eure Taten sollen nie vergessen werden.“

„Vielen Dank. Wir werden sicherlich die Gastfreundschaft dieses Ortes auch künftig zu schätzen wissen“, entgegnete Rall in eben solchem Tonfall. „Es tut mir leid, nun zu gehen, bevor ein Heiler eingetroffen ist, der euch zur Seite steht.“

„In wenigen Tagen wird einer eintreffen. Jung, aber bereits erfahren. Macht euch deshalb also keine Sorgen.“

„Sehr gut. Das wird uns eine Beruhigung sein auf unserem Weg.“

Macay wurde ungeduldig. Im Stillen fragte er sich, was dieses förmliche Gerede eigentlich sollte.

Rall rückte seinen Rucksack zurecht und fuhr fort: „Wir werden auf dem kürzesten Weg gen Westen ziehen, um über das Mittelgebirge Port Hadlan zu erreichen, bevor der Sommer richtig heiß wird.“

Macay wollte ihm widersprechen, denn sie hatten ja ausgemacht, nach Südwesten zu gehen, um möglichen Häschern der Kaiserlichen zu entkommen.

Doch Rall warf ihm einen warnenden Blick zu. Dann wies er mit einer kleinen Bewegung der Augen nach rechts. Dort stand ein Baum, umgeben von ein paar Büschen und hohem Gras. Mehr war in der Morgendämmerung nicht zu erkennen.

Während sich Mirjam und Rall weiter in gestelztem Ton unterhielten und Zzorg schweigend danebenstand, als ginge ihn das alles nichts an, behielt Macay unauffällig den Baum im Auge. Nach einer Weile glaubte er eine Bewegung zu sehen, und als er sich darauf konzentrierte, nahm er schließlich die Konturen eines menschlichen Kopfes wahr. Dort verbarg sich ein Mann, der die Abschiedsszene belauschte! Warum gingen Rall und Zzorg nicht gegen den Lauscher vor, der vermutlich ein Spitzel der Kaiserlichen war?

Macay hätte am liebsten sein Kurzschwert gezogen und den Mann zur Rede gestellt. Doch Rall war offenbar anderer Ansicht. Er sprach weiter davon, schnell nach Westen zu ziehen. Er wollte für den Lauscher eine falsche Spur legen.

So war Macay nicht mehr überrascht, als sie zu guter Letzt Mirjam noch einmal zuwinkten und nach Westen marschierten. Schweigend gingen sie gut eine Stunde auf die Berge zu, bevor Macay vorschlug, nun könnten sie nach Süden schwenken.

„Nein“, sagte Rall. „Wir gehen weiter nach Westen, bis wir wissen, was der Gegner plant.“

„Wer war dieser Spion?“

„Ballaram“, antwortete Rall. „Sein Geruch war unverkennbar.“

„Was!“, schrie Macay. Er drehte sich um und wollte zurückrennen.

Rall hielt ihn fest. „Lass ihn. Er wird den Kaiserlichen alles so berichten, wie wir es gesagt haben. Das kann ein Vorteil für uns sein.“

„Aber wir könnten versuchen, aus ihm herauszubekommen, wer ihn geschickt hat!“, protestierte Macay.

„Nein. Zu gefährlich. Er ist sicherlich nicht alleine hier. Wahrscheinlich lagern irgendwo in der Nähe von Eszger bereits Kaiserliche, die ihn vorausgeschickt haben.“

„Dann müssen wird Mirjam warnen.“

„Sie weiß es bereits. Zu dieser Stunde wird Eszger schon wieder evakuiert. Die Bewohner ziehen sich in den Wald zurück, nur ein paar Bewaffnete werden versuchen, den Ort zu schützen. Hoffentlich lassen die Kaiserlichen Eszger in Ruhe, wenn sie von Ballaram erfahren, dass wir nicht mehr dort sind.“

Macay sah sich um. Die Morgensonne schien hell auf den unbefestigten Weg. Hinter ihnen waren keine Verfolger auszumachen. Nichts bewegte sich in ihrer Umgebung außer den Vögeln in der Luft.

„Sie werden nicht von hinten kommen“, sagte Rall. „Ich vermute, die Kaiserlichen haben einen Stoßtrupp hier in der Nähe. Klein, gut bewaffnet und mit schnellen Pferden ausgestattet. Wenn ich der Anführer dieses Stoßtrupps wäre, würde ich die Flüchtlinge ungesehen überholen und eine Falle für sie aufbauen.“

„Warum biegen wir dann nicht gleich nach Süden ab?“, wollte Macay wissen. Die Gelassenheit, mit der Rall von den kaiserlichen Soldaten sprach, ärgerte ihn.

Zzorg antwortete an Ralls Stelle: „Wir wollen ihrer Falle nicht ausweichen.“

„Ihr wollt absichtlich ...“ Macay verschlug es die Sprache. Er blieb stehen und sah seine beiden Begleiter mit großen Augen an.

„Genau. Wir sind stark genug, um mit ihnen fertig zu werden“ Rall zeigte nach vorne. „Wir gehen weiter, bis die Kaiserlichen uns auflauern. Dann müssen wir nicht nach ihnen suchen. Sie überfallen uns, wir überwältigen sie, fragen sie aus und setzen dann unseren Weg in aller Ruhe Richtung Südwesten fort, wo wir vor ihresgleichen sicherer sind.“

Da musste Macay erst einmal schlucken.

Wenig später war es so weit. Sie verließen eine Grasebene und stiegen einen Hügel hoch, der mit Büschen und Bäumen bewachsen war. Plötzlich blieb Rall stehen und ließ seinen Rucksack von den Schultern gleiten. Zzorg stellte sich auf seinen kurzen O-Beinen besonders breit hin und machte ein paar ausgreifende Bewegungen mit den Armen. Rall begann, etwas vor sich hinzumurren, das Macay nicht verstehen konnte.

„Was ist?“, fragte Macay. Er bekam keine Antwort, also tat er es seinen Begleitern nach und legte sein Gepäck auf den Boden. Unsicher zog er das Schwert und sah sich um. Er konnte keinen Feind erkennen.

Plötzlich tat sich etwas in einer Baumgruppe, unter der viel Gestrüpp wucherte. Sie lag außer Pfeilschussweite vor ihnen. Männer wurden erkennbar, von denen einige stolperten, als wären sie betrunken. Sie rannten auf die drei Reisenden zu, und als sie nahe genug waren, spannten sie ihre Bogen und schossen.

„Sie sind verwirrt“, sagte Rall. „Mein Spruch hat gewirkt. Zzorg, du bist dran.“

Zzorg hielt seine Hände halboffen vor den Bauch, die Handflächen nach vorne verdreht, als würde er einen Ball halten. Eine feurige Kugel verließ seine Hände. Sie fuhr zwischen die Bogenschützen und explodierte. Die Männer fielen mit brennender Bekleidung zu Boden oder rannten schreiend weg. Eine zweite Feuerkugel raste direkt in die Baumgruppe und entzündete das Holz der Bäume. Weitere Männer rannten heraus.

Rall murmelte wieder seine Beschwörungen. Macay konnte dem Kampf nur fassungslos zusehen.

Die Kaiserlichen suchten ihr Heil in der Flucht. Jedenfalls zunächst. Plötzlich wendete sich das Blatt. Mitten aus der brennenden Baumgruppe heraus raste ein eisiger Blitz, der direkt vor Macay in den Boden fuhr und ihn beiseite schleuderte. Die Kälte, die davon ausging, raubte ihm den Atem, brannte gnadenlos auf seiner Haut und ließ seine Glieder für einen Moment wie erfroren erstarren. Es dauerte, bis er sich wieder aufrappeln konnte.

„Verdammt, ein Magier!“, hörte er Rall sagen.

Schon fuhr der nächste Eisblitz zwischen sie. Diesmal traf es Zzorg, der taumelte, aber stehenblieb. Er konzentrierte sich. Wieder verließ eine Feuerkugel seine Hände. Diesmal war sie aber deutlich kleiner als die ersten beiden. Offenbar verließen den Echsenmenschen seine Kräfte. Die Kugel schlug zwischen den Bäumen ein. Genau im richtigen Moment, denn ein weiterer Eisblitz wurde abgelenkt und zischte folgenlos an Macay vorbei.

Während Zzorg sich auf den nächsten Zauber vorbereitete, spannte Rall seinen Bogen - er hatte als Einziger von den Dreien eine solche Waffe mitgenommen - und zielte mitten zwischen die Bäume. Zzorg ließ eine Feuerkugel fliegen, winzig diesmal im Vergleich zu der ersten, kaum größer als eine Murmel, und als sie die Bäume erreichte, schoss Rall einen Pfeil hinterher. Ein lauter Schrei bewies, dass er getroffen hatte.

Macay hielt es nicht länger. Seine Wut siegte über den Verstand. Er rannte mit gezogenem Kurzschwert auf die Baumgruppe zu. Ralls Pfeil und eine weitere kleine Feuerkugel zischten an ihm vorbei.

Zwischen einigen Büschen stand Macay plötzlich dem feindlichen Magier gegenüber. Es war ein hagerer, kleiner Mann mit Glatze, der einen hellen Umhang trug. Als er seinen bewaffneten Gegner vor sich sah, erschrak er nicht, sondern grinste nur.

Während Macay noch zögerte, den scheinbar Unbewaffneten mit dem Schwert anzugreifen, breitete der Magier seine Arme aus und zog sie dann ruckartig wieder an den Körper.

Macay glaubte, sein Brustkorb werde zerquetscht. Sein Herz pumpte aberwitzig schnell, ihm wurde schwindelig, aber er konnte sich auf den Beinen halten. Mit dem bisschen Kraft, das ihm noch blieb, schlug er mit dem Kurzschwert auf den Magier ein. In derselben Sekunde beendete einer von Ralls Pfeilen das Leben des Kaiserlichen.

Macay brauchte ein paar Minuten, bis er wieder ganz bei Sinnen war. Als er sich umsah, waren Rall und Zzorg bei ihm. Zzorg stand neben drei weiteren Toten: Einer war verbrannt, einer von einem Schwertstreich niedergestreckt und dem Dritten ragte ein Pfeil aus dem Hals.

Macay fuhr herum, als er in der Nähe Pferdegetrappel hörte.

„Sie flüchten“, zischte Zzorg verärgert. „So etwas darf sich Elitetruppe nennen. Lächerlich.“

Rall wandte sich an Macay. Schon seine Körperhaltung machte klar, was er von Macays Vorstürmen hielt: „Junge, du wirst diese Reise nicht überleben, wenn du weiter so unvernünftig handelst. Zzorg und ich haben schon viele Kämpfe dieser Art überstanden. Bleib hinter uns, wenn es gefährlich wird, verstanden?“

„Er ist mutig“, zischte Zzorg.

„Mutige Dummköpfe sind ganz schnell tote Dummköpfe“, erwiderte Rall erregt.

„Schon gut“, sagte Macay. „Tut mir leid. Ich weiß auch nicht, was über mich gekommen ist. Passiert nicht wieder; versprochen.“ Dabei ahnte er, dass es die Anspannung der Tage seit der Flucht war, die sich entladen hatte. Er fühlte sich nun erschöpft, aber zufrieden und ruhiger als bisher.

Rall gab sich damit zufrieden. Sie untersuchten die Umgebung nach Fallen, fanden aber keine. An der Stelle am hinteren Rand des Gehölzes, wo die Pferde angebunden gewesen waren, entdeckten sie reichlich Blutspuren und ein paar zurückgelassene Ausrüstungsgegenstände, die ihnen aber nicht von Nutzen waren.

Sie kehrten zu den Toten zurück. Es waren drei kräftige Männer in Lederrüstungen und der Magier. Keiner von ihnen trug ein Abzeichen oder sonst etwas, das auf seine Herkunft hindeutete. Bei dem Magier fanden sie allerdings ein schweres, goldenes Amulett.

„Ein Glücksbringer der Kaiserlichen. Uns würde das Amulett nur Unglück bringen“, sagte Rall und warf es achtlos hinter sich.

Macay ging hin und hob es auf. Es war eine Art großer Münze mit einem Wappen. In der Mitte steckte ein milchiger, kreisrunder Edelstein. Macay steckte das Amulett ein und nahm sich vor, es im nächsten Ort, den sie erreichten, zu verkaufen.

„Merkwürdig“, sagte Rall. „Ein menschlicher Magier wird normalerweise nur mit einer gut ausgestatteten, großen Kriegerschar losgeschickt, weil er sich - abgesehen von seinen magischen Fähigkeiten - nicht verteidigen kann.“

„Sie sind geflohen“, sagte Zzorg. Das schien ihn wie eine persönliche Beleidigung zu treffen.

„Das ist es ja. Kaiserliche Elitetruppen werden so gedrillt, dass sie niemals fliehen. Also sind das womöglich keine Elitetruppen. Kann der Kaiser inzwischen normale Soldaten auf den Nebelkontinent schicken? Womöglich haben sie ein Mittel, um den Gefahren des Kontinents zu entgegen. Das wäre schlimm.“

„Ich verstehe immer noch nicht, warum dieses Land so gefährlich sein soll“, sagte Macay. „Gut, es gab im Dschungel ein paar Tiere, denen ich nicht gerne wieder begegnen möchte, und vermutlich andere, von denen ich nichts weiß. Aber hier ist es doch so friedlich wie in einem großen Garten.“

Rall und Zzorg lachten. Es hörte sich nicht gut an. „Du hättest alleine vermutlich nicht einmal den kurzen Weg vom Rand des Dschungels bis nach Eszger überlebt“, behauptete Rall.

„Ich verstehe nicht, warum“, beharrte Macay.

„Der Nebelkontinent ist anders. Dieses Land lebt“, begann Rall in einem Ton, als sei es eine große Offenbarung. Er setzte sich und klopfte mit der Hand auf die Erde. „Nicht in dem Sinne, wie du es vom Kontinent des Kaisers kennst, und auch nicht so, wie man in der Karolischen Republik von Leben spricht. Alles, was du um dich herum siehst, lebt.“

Unsicher sah sich Macay um. Er saß in einem Gestrüpp mit Bäumen und Büschen. Durch die Lücken konnte er hinaussehen auf die hügelige, grüne Landschaft, über der langsam die Sonne unterging. Außer ein paar Vögeln in der Luft sah er nichts Besonderes.

Rall fuhr fort: „Uns, die wir vom Nebelkontinent stammen, und einigen der Menschen, die von den anderen beiden Kontinenten hierher gekommen sind, gewährt der Kontinent Schutz. Deshalb bist du sicher, solange du in Begleitung von Zzorg oder mir bist, oder anderen von unserer Rasse. Sobald du alleine unterwegs bist, wird der Nebelkontinent entscheiden, ob er dich auf seiner Oberfläche dulden möchte. Und die Antwort lautet sehr oft ‚Nein‘. Bei Bewohnern vom Kontinent des Kaisers noch häufiger als bei Karoliern. Der Dschungelstreifen an der Küste stellt eine Grenzzone dar, deshalb konntest du dort alleine überleben. Natürlich kann es sein, dass der Nebelkontinent dich anerkannt hätte, und du wärst hier durch die Landschaft marschiert, ohne etwas Auffälliges zu bemerken. Aber das wollen wir nicht riskieren.“

„Und der Kopfgeldjäger, die kaiserlichen Truppen, die menschlichen Bewohner von Eszger?“

„Für jeden, den du lebend hier gesehen hast, sind Dutzende gestorben. Es ist Glück oder Veranlagung, die manche Menschen hier überleben lässt, wir wissen es nicht. Und auch du wirst nicht wissen, ob du darüber verfügst, bis du es versuchst, und dann steht die Wahrscheinlichkeit schlechter als zehn zu eins.“

„Aber wo ist die Gefahr?“ Macay stand auf und drehte sich einmal um seine Achse. „Ich sehe sie beim besten Willen nicht.“

„Dort“, sagte Rall und deutete auf einen Baum in der Nähe. „Und über dir im Blätterdach. Draußen im Gras. Die Vögel, die oben am Abendhimmel nach Insekten jagen, sind mörderisch. Die Insekten, die sie fressen, töten dich in Sekunden. Alles am Nebelkontinent ist tödlich. Sogar dieser Apfel könnte in dem Moment, wo du hineinbeißen willst, entscheiden, dass er ein Gift enthalten möchte, das dich umbringt.“ Er warf Macay den Apfel zu.

Der starrte ihn an, als hätte er noch nie einen Apfel gesehen. Dann zog er sein Schwert und schnitt den Apfel vorsichtig in zwei Hälften. „Er hat sich nicht gewehrt und er sieht nicht giftig aus“, sagte er und biss in eine der Hälfte hinein. Sie schmeckte ausgesprochen gut.

Rall seufzte. „Du verstehst es immer noch nicht. Zzorg?“

Der Echsenmann kam heran und baute sich vor Macay auf. „Der Nebelkontinent denkt“, sagte er. „Das ist die einfachste Erklärung. Alles, was es hier gibt, denkt. Der Apfel hat eben gedacht, verdammt, ein Mensch aus dem Kaiserreich will mich essen; aber es sind zwei Wesen des Nebelkontinents in der Nähe, die mit ihm befreundet sind, also wird das schon in Ordnung gehen. Und er hat beschlossen, sich von dir ohne Gegenwehr essen zu lassen.“

„Das ist doch lächerlich!“, rief Macay. Er warf die Reste des Apfels von sich.

„Lächerlich? Hör zu: Die Bäume ziehen ihre Wurzeln aus dem Boden und gehen dir nach, um dich mit ihren Ästen zu erwürgen. Die Singvögel stürzen sich aus dem Himmel herunter auf dich und hacken dir mit eisenharten Schnäbeln die Augen aus, während sich ätzende Säure aus ihren Krallen in deine Haut frisst“, sagte Rall mit einer Stimme, als rezitiere er eine uralte Prophezeiung. „Die Biene jagt mit ihrem Stachel ein tödliches Gift in deinen Hals. Der Boden unter deinen Füßen tut sich auf und Gestalten von unsäglichem Horror kommen hervor, um dich bei lebendigem Leibe in kleine Fetzen zu zerreißen.“

„Hör auf!“ Macay fühlte sich so ungemütlich wie zu der Zeit, als ihm seine Mutter abends Geschichten vom Schwarzen Mann erzählt hatte, um ihn für seine Streiche zu bestrafen. Man wird da in eine Stimmung gebracht, in der einen tatsächlich schon ein leises Rascheln zu Tode erschreckt und man in jedem Schatten ein Monster vermutet.

„Du bist nicht überzeugt“, sagte Rall. „Das werden wir ändern. Hilf mir, die Leichen hinaus ins Freie zu tragen.“

Überrascht von dem plötzlichen Themenwechsel packte Macay mit an, auch wenn ihm dabei übel wurde. Sie legten die Körper nebeneinander mitten ins Gras, zwei Dutzend Schritte von dem Gestrüpp entfernt, in dem der Hinterhalt gewesen war. Noch war genügend Tageslicht vorhanden, um gut sehen zu können, was vor sich ging. Macay kehrte mit Rall und Zzorg in den Schutz der Baumgruppe zurück.

„Ich werde nun etwas tun, was nicht immer funktioniert“, begann Rall. „Es ist ein besonderer Zauber, bei dem man den Nebelkontinent beschwört. Dadurch kann man auch solchen Menschen den Schutz entziehen, denen er aus unbekannten Gründen bisher nicht geschadet hat. Das werde ich nun mit diesen Toten versuchen.“

Er begann, Beschwörungen vor sich hinzumurmeln und kleine Gesten mit den Händen zu machen. Allmählich verwandelte sich sein Singsang in ein tiefes, gleichmäßiges Brummen, das die ganze Landschaft auszufüllen schien.

Macay starrte auf die Körper, die im Gras lagen. Nichts Besonderes geschah. Oder doch? War das Gras um die Toten herum wirklich so hoch gewesen? Macay sah genauer hin. Das Gras wuchs! Mit unglaublicher Geschwindigkeit wurden die Grashalme länger. Dann begannen sie, schlängelnde Bewegungen auszuführen wie Seegras in der Strömung. Das alles geschah nur unmittelbar in der Umgebung der Toten. Plötzlich peitschten die eben noch ruhig schwankenden Grashalme so schnell hin und her, dass das Auge ihren Bewegungen nicht mehr folgen konnte. Nur schemenhaft sah der entsetzte Macay, wie die Halme in die Leiber der Toten fuhren und diese in Sekunden zerstückelten.

Ein Rumpeln wie die Ausläufer eines fernen Erdbebens erschütterte die Gegend. Die Grashalme fielen um, als wären sie von einer Sense abgemäht worden. Der Erdboden öffnete sich und etwas unglaublich Großes, Tiefschwarzes entstand. Es war mehr als mannhoch, konturlos, machte aber einen sehr lebendigen Eindruck, als es sich über die Überreste der Kaiserlichen beugte. Wie ein Tintenfleck zerlief die Schwärze über diesem Gebiet.

Dann war alles vorbei. Die Abendsonne schien auf eine friedliche Landschaft. Schwalben jagten durch die Luft, der Wind raschelte im Laub.

Zögernd folgte Macay seinen beiden Gefährten zu der Stelle, an der sie die Leichen abgelegt hatten. Sie war erkennbar an dem jungen, frischen Gras, das hier wuchs. Dazwischen lagen lange, welke Halme. Zögernd ging Macay um die Fläche herum. Es waren keine Reste von den Toten geblieben.

„Was war das?“, fragte er stockend.

„Der Nebelkontinent“, antwortete Zzorg mit einer Stimme, als würde ihm gleich die Geduld ausgehen.

Sie gingen zurück unter die Bäume und richteten sich für die Nacht ein. Macay sprach den ganzen Abend kein Wort mehr.

Macay-Saga 1-3

Подняться наверх