Читать книгу Macay-Saga 1-3 - Manfred Rehor - Страница 8
ОглавлениеAuf dem Fluss
Am folgenden Morgen brachen die drei Reisenden gleich nach Sonnenaufgang auf. Sie marschierten zunächst einen halben Tag weiter nach Westen, kehrten dann auf ihrer eigenen Spur um, bis sie fast wieder am Ort des Hinterhalts waren, und machten dann, als es bereits wieder Abend wurde, einen Schwenk nach Süden, wobei sie darauf achteten, möglichst keine Spuren zu hinterlassen.
Während der ganzen Zeit fühlte Macay sich äußerst unbehaglich. Er misstraute dem Boden unter seinen Füßen, den Vögeln in der Luft und dem Gras, über das er ging. Ralls Demonstration der Macht des Nebelkontinents hatte tiefen Eindruck auf ihn gemacht. Immer wieder suchte er nach einer Erklärung für die Ereignisse vom Vorabend.
„Warum haben diese gefährlichen Pflanzen und Tiere nicht längst die Welt erobert?“, wollte er von Rall wissen.
„Fast alles, was auf dem Nebelkontinent heimisch ist, kann an keinem anderen Ort leben. Lassach, zum Beispiel, ist eine Sumpfpflanze, und Sümpfe gibt es auch im Kaiserreich. Aber wenn man Lassach-Pflanzen dorthin bringt, dann gehen sie ein. Ähnlich ist es mit den Tieren des Nebelkontinents. Umgekehrt gibt es weniger Probleme. Pflanzen und Tiere von den beiden anderen Kontinenten gedeihen hier meist ganz gut. Zum Glück. Sonst gäbe es weder Getreide noch die gewohnten Nutztiere. Die Ablehnung des Nebelkontinents bezieht sich nur auf Menschen. Seltsam, nicht wahr?“
„War das schon immer so?“
„Es gibt alte Geschichten, Erzählungen an den Lagerfeuern der Katzer und Echser. Glaubt man ihnen, dann war der Nebelkontinent der Ursprung aller drei Rassen, also auch von euch Menschen. Die Geschichte dieser Welt soll mit einer einzigen Stadt begonnen haben. Manche behaupten, das sei heute die Ruinenstadt, die südlich von Heimstadt im Alten Wald liegt. Dort hausen Kreaturen, die es nicht einmal in den dunkelsten Wäldern des Nebelkontinents mehr gibt.“
„So sagt man“, sagte Zzorg. Er schien nicht daran zu glauben.
„Die Bewohner der Ruinenstadt, deren ursprünglicher Name längst vergessen ist, sollen einstmals behauptet haben, sie seien als Kinder der Götter auf einer feurigen Leiter vom Himmel gestiegen, um diese Welt zu besiedeln. Es kam der Tag, wo sie glaubten, mächtiger als die Götter zu sein. Sie wollten unsterblich werden. Sie quälten die Natur, um ihre Ziele zu erreichen, aber sie haben den Bogen überspannt. Die Natur schlug zurück. All die tödlichen Lebewesen, die es hier gibt, entstanden, um den Allmachtsphantasien der Bewohner der Ruinenstadt Einhalt zu gebieten. Es kam zu einem fürchterlichen Kampf, bis schließlich die Menschen vom Nebelkontinent vertrieben waren. Katzer und Echser dagegen durften bleiben. So lauten die Sagen.“
„Werden wir durch die Ruinenstadt kommen?“
„Nein. Unser Weg führt uns weiter nördlich nach Heimstadt, der größten Siedlung auf dem Nebelkontinent. Von dort aus gehen wir auf geheimen Pfaden über das Gebirge. Übrigens, in der Ruinenstadt entspringt der Fluss Pil. Die Mythen erzählen, er sei deshalb so schmutzig, weil er immer noch den Unrat der alten Bewohner mit sich führt. Deshalb kann man aus dem Pil nicht trinken.“
Während Rall erzählte, erreichten sie bei hereinbrechender Dunkelheit wieder das Ufer des Pil. Sie machten ein Lager für die Nacht. Es war eine schlimme Nacht für Macay, der die erste Wache übernahm. Alle paar Minuten glaubte er, Schatten auf das Lager zukommen zu sehen. Angestrengt hörte er auf die Rufe der Nachttiere. Während Rall und Zzorg tief und fest schliefen, starb Macay tausend Tode. Auch als Rall die zweite Wache übernahm, konnte Macay lange nicht einschlafen, und sein kurzer Schlaf war von Alpträumen heimgesucht.
Am nächsten Tag marschierten sie am Ufer des Pil entlang.
„Warum bauen wir uns nicht ein Floß aus ein paar Baumstämmen und fahren auf dem Fluss?“, fragte Macay.
„Das ist der sichere Weg in den Tod. Das Wasser des Pil ist unberechenbar, es kann ein Holzboot zerfressen, als wäre es reine Säure. Was es vielleicht manchmal auch ist.“
„Aber wir sind doch bei Eszger durch eine Furt gewatet und es hat uns nichts ausgemacht.“
„Wir sind ja auch nicht aus Holz gemacht“, sagte Rall mit einem Tonfall, als erkläre er einem Kind zum hundertsten Male etwas eigentlich ganz Selbstverständliches. „Und es hat nur ein paar Sekunden gedauert.“
„Es ist ein Flößer in der Nähe“, sagte Zzorg und blieb stehen.
„Ein Flößer?“, fragte Macay. „Eben erzählt Rall, dass man sich mit Booten nicht auf den Fluss wagen darf, und du sagst, es gibt Flößer. Was denn nun?“
„Du wirst sehen“, antwortete Zzorg. Er setzte sich direkt an das Ufer und schien sich auf eine längere Wartezeit einzurichten.
Macay wollte sich neben ihn setzen, doch Rall zog ihn zwei Dutzend Schritte vom Flussufer weg, wo sie sich niederließen.
„Flößer sind Ausgestoßene der Echsenmenschen“, erklärte Rall leise. „Es gibt nur wenige auf dem Fluss. Die meisten davon am Oberlauf zwischen der Ruinenstadt und den Weidegründen von Heimstadt.“
„Warum sind sie Ausgestoßene?“
„Sie häuten sich nicht. Echsenmenschen häuten sich einmal im Jahr. Es ist eine Art religiöse Reinigung bei ihnen. Es gilt als schlimmste Schande, wenn sich einer nicht mehr häuten kann. Wahrscheinlich ist es nur eine Krankheit. Jedenfalls werden solche Echser aus den Siedlungen vertrieben. Sie dürfen keine anderen Echser mehr berühren und werden getötet, wenn sie es doch versuchen. Also haben sie sich eine eigene Existenz geschaffen, indem sie den Pil befahren, was niemand außer ihnen wagt.“
„Woher weiß Zzorg, dass so ein Flößer in der Nähe ist?“
„Er riecht ihn ein Dutzend Meilen weit. Aber sprich mit einem Flößer nie über den Gestank, es sind sehr stolze Leute. Sie werden für Transporte eingesetzt, weil sie auf dem Fluss schneller sind, als man Lasten auf Karren transportieren kann. Sie verhandeln nie mit Menschen oder uns Katzern. Sie bestehen darauf, dass ihre eigenen Artgenossen sich erniedrigen und sie um ihre Dienste bitten. Erst, wenn der Handel abgeschlossen ist, kommen wir ins Spiel. Denn ein Echser darf einen Flößer nicht direkt ansehen oder berühren, also müssen wir das Geld bezahlen. Vielleicht können wir es uns leisten, uns die ganze Strecke bis nach Heimstadt bringen zu lassen. Aber ich fürchte, so viel Gold haben wir nicht.“
„Hört sich an, als wären die Flößer ziemlich reich.“
„Ja. Es gibt Gerüchte, sie hätten im Laufe der Zeit sagenhafte Schätze angehäuft. Angeblich haben sie im Alten Wald eine Höhle, in der mehr Gold liegt, als in den Schatzkammern des Kaisers.“
Macay brannten noch tausend Fragen auf der Zunge, aber die heiße Mittagssonne machte ihn schläfrig. Er war kurz vor dem Einnicken, als der Wind einen ekligen Gestank zu ihm trug, der ihn ruckartig wieder wach werden ließ. So rochen Matrosen im Hafen seiner Heimatstadt Mersellen, die von Bord ihrer Schiffe kamen und sich drei Monate nicht gewaschen hatten. Der Gestank nahm weiter zu, bis Macay nach Luft schnappte.
„Der Flößer ist da“, sagte Rall.
Ungläubig starrte Macay auf den Fluss. Es sah aus, als würde eine Gestalt in einem Umhang über das Wasser schreiten. Erst beim Näherkommen erkannte Macay die beiden Stangen, die der Flößer in den Händen hielt. Sie hatten den Durchmesser junger Bäume und mussten sehr schwer sein. Trotzdem hielt der Flößer sie, als wären sie gewichtslos, und er bewegte sie abwechselnd vor und zurück, was den Eindruck des Gehens hervor rief. Sein Kopf wurde von einer großen Kapuze bedeckt, unter der nicht einmal die Spitze der Echsenschnauze zu erkennen war. Der Gestank wurde immer bestialischer, Macay begannen die Augen zu tränen.
Als der Flößer auf der Höhe von Zzorg war, stellte er seine Bewegungen ein. Macay stand auf, wischte sich die Augen aus und starrte hinüber auf das Floß. So etwas hatte er noch nie gesehen.
Es war eine braune Fläche, die nur wenige fingerbreit über die Wasseroberfläche ragte. Aber es bestand nicht aus Holz, sondern aus Fell. Aus Dutzenden mit dünnen Schnüren zusammengebundenen Fellbündeln oder Fellballons. Sie waren offenbar mit Luft gefüllt, damit sie schwammen. Der Flößer stand auf einer Spitze, die vorne herausragte. Wenn er sich mit Hilfe seiner Stöcke vorwärts bewegte, zog er das Floß hinter sich her. Das Floß war groß genug, um sechs bis acht Personen und ihr Gepäck zu befördern, aber im Moment lagen nur ein paar alte Lumpen und halb gefüllte Säcke darauf.
Der Flößer unterhielt sich in der zischenden, schnellen Sprache der Echsenmenschen mit Zzorg, ohne den Kopf zu ihm zu wenden. Auch Zzorg sah ihn nicht direkt an, sondern starrte den Fluss hinunter, als würde er dort etwas Interessantes sehen. Es dauerte eine ganze Weile, bis Zzorg schließlich aufstand und zu Rall und Macay kam. Der Flößer blieb weiter bewegungslos auf seinem Floß in der Mitte des Flusses stehen. Das Floß bewegte sich trotz der Strömung nicht von der Stelle.
„Er ist auf dem Weg nach Heimstadt. Was er flussabwärts zu suchen hatte, will er mir nicht sagen. Er verlangt vier Goldmünzen pro Tagesstrecke und Person. Bis Heimstadt sind es fünf Tage. Das macht sechzig Goldmünzen für uns alle.“
Rall sprang auf. „Das ist lächerlich! Das ist ein Vielfaches dessen, was diese Wucherer normalerweise verlangen.“
„Er sagt, es sei gefährlich, uns mitzunehmen. Jemand hat die Flößer davor gewarnt, uns zu helfen. Er würde es trotzdem tun, aber nur zu diesem Preis.“
„Verdammt, wir könnten zwei Wochen Reisezeit sparen, wenn er nicht so geldgierig wäre.“
„Wie viel Gold haben wir?“, wollte Macay wissen.
„Zwanzig Goldmünzen“, antwortete Rall. „Dafür nimmt er uns nicht einmal zwei Tage mit. Vielleicht können wir handeln. Komm mit.“
Sie gingen mit Zzorg zurück zum Ufer, und Zzorg begann erneut, sich mit dem Flößer zu unterhalten. „Nein. Er ist nicht bereit zu Zugeständnissen.“
Macay griff in seine Tasche und zog das Amulett heraus, das er nach dem Kampf mit den Kaiserlichen mitgenommen hatte. „Es ist aus Gold. Vielleicht ist es so viel wert.“
Sobald Macay das Amulett in der Hand hielt, ruckte der Kopf des Flößers herum, der bisher die Personen am Ufer nicht angesehen hatte. Er zischte etwas, hieb die Stangen in den Flussgrund und bewegte das große Floß schnell ans Ufer.
„Er will es sehen“, übersetzte Zzorg. „Gib es ihm.“
Zögernd ging Macay bis ans Wasser und streckte die Hand mit dem Amulett aus. Der Flößer schnappte es sich mit einer blitzartigen Bewegung. Macay sah für einen Moment die Hand des Echsenwesens. Sie war mit Geschwüren bedeckt und die Haut hing in Fetzen herunter. Gleichzeitig nahm der Gestank noch mehr zu. Macay taumelte zurück, während der Flößer das Amulett begutachtete.
Das Interesse des Flößers galt nicht dem Gold, sondern dem milchigen Edelstein, der fest in das Amulett eingefasst war. Er nahm den Edelstein aus seiner Fassung heraus, wobei es Macay ein Rätsel war, wie er das ohne Werkzeug schaffte, und hielt ihn hoch in die Sonne. Dann warf er das goldene Amulett abschätzig ins Wasser und ließ den Edelstein unter seinem Umhang verschwinden. Wieder sagte er etwas in Echsensprache.
„Zwanzig Gold und der Stein machen vier Tage, sagt er“, übersetzte Zzorg.
„Das ist schon besser, aber noch nicht genug“, sagte Rall.
„Rall, du hast noch die Krallen des Dämons, den wir in Eszger besiegt haben“, warf Macay ein. „Vielleicht sind sie ihm auch etwas wert.“
„Gute Idee.“ Rall kramte die Krallen aus seinem Gepäck und hielt eine davon dem Flößer hin.
Der untersuchte sie und stieß ein lautes Geräusch aus, das Macay mit seiner geringen Erfahrung mit Echsern für ein schallendes Lachen hielt.
„Er will wissen, wo ihr diesem Kinderschreck begegnet seid“, erklärte Zzorg. „Er meint den Dämon.“
Rall erzählte von Eszger, Zzorg übersetzte und der Flößer lachte erneut. Dann winkte er die drei auf das Floß hinter sich.
„Er findet es lustig, dass ihr diesen Dämon bekämpft habt, als wäre es ein wirklicher Gegner“, sagte Zzorg. „Wenn wir noch mehr so komischen Geschichten auf Lager haben, ist er bereit, uns bis Heimstadt mitzunehmen.“
Erleichtert händigte Rall dem Flößer die Krallen und die Goldstücke aus. Vorsichtig stieg er dann auf das Floß. Macay und Zzorg folgten ihm.
Macay kam sich vor, als würde er auf Ballons gehen. Das Floß war wackelig und bestand offenbar wirklich aus zusammengebundenen kleinen Fellsäcken, die mit Luft gefüllt waren. Als Macay sich vorsichtig darauf niederließ, wunderte er sich über die Wärme, die von dem Floß ausging. Er stellte zu seinem großen Unbehagen fest, dass der Gestank, der ihm so zusetzte, gar nicht von dem Flößer ausging, sondern vom Floß.
„Sind diese Tierhäute nicht richtig gegerbt?“, fragte er, nachdem der Flößer vom Ufer abgestoßen und das Floß in die Flussmitte gebracht hatte. „Sie stinken ja bestialisch.“
„Gegerbt?“ Rall und Zzorg sahen sich an, als würden sie nicht verstehen, von was Macay überhaupt sprach. „Oh, du meinst das hier?“ Rall strich mit der Hand über eines der Felle. „Ich glaube, da liegt ein Missverständnis vor.“
Er griff mit der Hand fest an das Ende eines der aufgeblasenen Fellbündel und zog etwas aus dem Boden des Floßes hoch, das sich als der Kopf eines kleinen Nagetieres herausstellte. Und das Tier lebte! Es schnappte mit seinen spitzen Vorderzähnen nach Ralls Hand und blitzte ihn aus kleinen Augen bösartig an. Schnell ließ Rall los. Der Kopf verschwand wieder nach unten.
„Das sind keine aufgeblasenen Felle. Das Floß besteht aus lebenden Ciam-Ratten. Sie werden gefangen und zusammengebunden. Sie plustern sich dann auf, um im Fluss nicht unterzugehen. Ihr Fell ist absolut unempfindlich gegen allen Schmutz des Flusses. Nachts füttert sie der Flößer, indem er Nahrung an einer seichten Stelle ins Wasser wirft und das Floß darüber steuert. Die Ratten können es dann mit ihren Schnauzen vom Grund aufnehmen.“
„So ein Floß ist sehr schnell“, fügte Zzorg hinzu, der es sich auf der warmen Fläche gemütlich gemacht hatte, „weil die Ratten mit den Füßen paddeln. Das tun sie nicht, um dem Flößer zu helfen, sondern aus Instinkt. Und ihr Herdentrieb verleitet sie dazu, ihrem Leitpaar nachzupaddeln. Das sind die beiden großen Ratten, auf denen der Flößer an der Spitze des Floßes steht.“
Macay hörte nicht mehr zu. Er hielt den Kopf über den Rand des Floßes und erbrach sich.
Nachdem Macay sich an den Gedanken gewöhnt hatte, auf dem Rücken von Ratten zu liegen, schlief er schnell ein. Es war wie auf einer Wärmdecke. Als er am Morgen aufwachte, aßen Rall und Zzorg bereits Trockenfleisch und Früchte, wozu sie selbstverständlich kein Pil-Wasser tranken, sondern sich aus ihren Vorratsflaschen bedienten.
Der Flößer stand schon wieder - oder immer noch? - auf den Rücken der beiden Leittiere und stakte mit seinen Stangen durch den Fluss. Er kümmerte sich nicht um seine Passagiere und änderte seine Position im Laufe des Tages nicht. Irgendwann musste auch er essen und seinen anderen Bedürfnissen nachkommen, aber während der ganzen Reise sah ihn Macay niemals dabei. Vielleicht wartete er dazu die tiefe Nacht ab, wenn keine Gefahr bestand, Zzorg zufällig anzusehen und so ein Verbot ihrer Rasse zu verletzten.
Während Rall und Zzorg die Reise meist im Liegen verbrachten, schlafend oder mit offenen Augen träumend, beobachtete Macay aufmerksam die Landschaft links und rechts des Flusses. Es war eine schöne Gegend mit Wiesen und Wäldern, aufgelockert durch Hügel. Vor ihnen, in Fahrtrichtung, türmten sich in der Ferne die Berge auf, die bei diesem schönen Wetter besonders gut zu sehen waren.
Was fehlte, waren Anzeichen menschlicher Aktivitäten - oder katzmenschlicher oder echsenmenschlicher. Macay sah weder Dörfer, noch bestellte Felder oder weidende Viehherden. Es war einfach eine leere Landschaft, die darauf zu warten schien, besiedelt zu werden. Und die sich mörderisch gegen jeden solchen Versuch zur Wehr setzten würde, wie Macay nun wusste.
Gegen Mittag kamen sie an eine Stelle, an der ein breiter Bach in den Pil mündete. Das klare Wasser zeichnete eine lange Spur in die Dreckfluten des Flusses, bis es sich endgültig mit ihm vermischte. Der Flößer steuerte sein Gefährt auf die Mündung des Bachs zu, und zum ersten Mal hörte Macay die Ciam-Ratten quieken. Offenbar behagte ihnen das saubere Wasser gar nicht.
Als sie die Mündung erreicht hatten, sprangen Macay, Rall und Zzorg vom Floß in den Bach und füllten ihre Wasserbehälter. Anschließend nahmen sie mehrere Wassersäcke, die dem Flößer gehörten, und füllten auch diese. Dann stiegen sie wieder auf das immer lauter protestierende Floß und die Reise ging weiter.
„Warum lebt hier niemand?“, fragte Macay irgendwann. „Ich meine, zumindest Katzer oder Echser oder ein paar gegen den Nebelkontinent immune Menschen könnten sich doch hier ansiedeln.“
„Es gibt zu wenige von uns“, klärte Rall ihn auf. „Es ist dir vielleicht schon in Eszger aufgefallen, wie wenige Kinder in dem Ort leben. Hier auf dem Nebelkontinent kommen weniger Kinder auf die Welt, als anderswo. Es ist eine der Schattenseiten dieses Kontinents. Darunter leiden alle, die hier leben. Selbst die Ratten vermehren sich nicht so schnell, wie im Kaiserreich oder auf dem Karolischen Kontinent. Auf jeder Fahrt sterben einige der Floßratten, das Floß wird immer kleiner. Mindestens einmal im Jahr ist deshalb der Flößer wochenlang damit beschäftigt, neue Ratten zu fangen.“
„Und warum lassen die Ratten sich das gefallen? Ich meine, sie beißen uns nicht und sie versuchen auch nicht, mit ihren scharfen Zähnen die Stricke zu durchtrennen. Stattdessen ducken sie ihre Köpfe weg, bis man sie nicht mehr sieht.“
„Sie fühlen sich wohl und geborgen. Ratte drückt sich an Ratte, sie folgen immer ihrem Leitpaar, werden gut gefüttert und vom Flößer vor den meisten Gefahren des freien Lebens geschützt. Da verhalten sie sich nicht viel anders als die Menschen in den Städten des Kaiserreichs. Sie sind unfrei, aber sie ziehen diese Geborgenheit einem Leben in Freiheit vor.“
Der Flößer stieß zum ersten Mal seit Beginn der Fahrt einen Zischlaut aus. Er wandte seinen Passagieren jedoch weiter den Rücken zu und gab nicht zu erkennen, was ihn zu dem Laut bewegt hatte.
Zzorg, der in der warmen Sonne gedöst hatte, richtete sich abrupt auf. „Gefahr!“, sagte er. Er griff zu seinen Waffen und sah sich aufmerksam um. Die Landschaft an beiden Ufern war jedoch unverändert friedlich und menschenleer. Rall nahm seinen Bogen und Macay zog sein Kurzschwert aus der Scheide.
Der Flößer zischte noch einmal. Zzorgs Kopf ruckte hoch. Am Horizont, von Süden kommend, war ein Vogelschwarm zu sehen. Er zog in großer Höhe in Keilform dahin. Macay konnte nicht abschätzen, wie groß die Vögel wirklich waren; auf den ersten Blick hätte er sie für Gänse gehalten.
„Was ist das?“, wollte Macay wissen, da seine Begleiter nur schweigend nach oben starrten.
„Ein Schwarm Grells. Sie leben auf den Vogelinseln, im Meer südöstlich des Nebelkontinents. Man sieht sie nur selten im Inland. Zum Glück. Es sind Bestien, die alles angreifen, was fressbar ist. Manchmal kommen diese Vögel ins Inland, wenn es nicht genug Futter im Meer gibt.“
„Kann man sie bekämpfen?“
„Nein. Wenn sie kommen, versteckt man sich im dichtesten Wald. Sie mögen Wälder nicht. Oder man bleibt im Haus, wenn man eines hat. Wobei erzählt wird, dass sie sogar schon Holzdächer durchbohrt haben sollen. Aber das glaube ich nicht. Wir stehen hier auf dem Floß mitten im Fluss wie auf einem Präsentierteller. Wir müssen schnellstmöglich ans Ufer und dann rennen, was wir können, um den Wald dort drüben zu erreichen. Aber es wird verdammt knapp werden.“
Der Flößer hatte andere Pläne. Mit einem warnenden Zischen brachte er Zzorg dazu, sich abzuwenden und zum Ende des Floßes zu gehen. Dann wandte sich der Flößer um und zeigte auf einen schmutzigen Haufen, der unter den Futtersäcken lag. Wieder zischte er etwas.
Zzorg, der ihnen nun den Rücken zuwandte und die Vögel im Auge behielt, übersetzte: „Wir sollen die Decke nehmen und sie über das ganze Floß ausbreiten. Dann legen wir uns flach darunter. Die Decke wird uns vor den Grellvögeln schützen.“
Macay und Rall zogen die Decke hervor. Sie war aus einem dünnen, weichen Leder gefertigt. Tatsächlich hatte sie die Dicke und Struktur menschlicher Haut, wie Macay schaudern bemerkte, während er half, sie auszubreiten.
Sie krochen darunter, kontrollierten noch einmal, dass nirgends ein Spalt war, der sie verraten konnte, und warteten schweigend ab.
Es waren ungemütliche Minuten. Der Flößer verbot jedes Gespräch. Macay konnte nicht einmal fragen, wie eine so dünne Decke sie gegen diese fürchterlichen Vögel schützen sollte. Die Luft war zum Schneiden, weil sich die Ausdünstungen der Ratten unter der Decke sammelten. Macay war kurz davor, aufzuspringen, um frische Luft zu schnappen, egal wie groß die Gefahr war, als ein Brummen und Rauschen vernehmbar wurde. Das Geräusch wurde lauter, übertönt noch von vereinzelten Vogelschreien. Leichte Schläge trafen die Decke, als würden die Vögel sie im Vorbeifliegen mit den Flügeln leicht streifen. Die Vogelschreie wurden zahlreicher, der Lärm immer lauter. Die Floßratten begannen panisch zu quieken. Ruckartige Bewegungen des Floßes ließen Macay daran zweifeln, dass sie überleben würden.
Dann ließen die Vogelschreie nach, das Rauschen wurde leiser und die Ratten verstummten. Die Reisenden warteten noch einige Minuten, dann lugte der Flößer vorsichtig unter der Decke vor. Die Gefahr war vorüber. Er schlug die Decke zurück und kehrte zurück an seinen Platz an der Spitze des Floßes.
Macay und seine Gefährten krochen heraus. An der hinteren linken Ecke des Floßes war die Decke während des Angriffs der Vögel offenbar verrutscht, so dass die Ratten dort den Angriffen ausgesetzt gewesen waren. Deshalb hatten sie auch so panisch geschrien. Schaudernd betrachtete Macay die Opfer. Von fünf oder sechs Ratten waren nur noch Fellfetzen und blutige Reste zu sehen. Zzorg schnitt sie los und ließ sie in den Fluten versinken.
Die Decke war über und über mit Vogelkot besudelt. Der Flößer, der ihnen längst wieder den Rücken zuwandte, sagte etwas. Zzorg nahm daraufhin die Decke, befestigte einen der Zipfel am Floß und warf sie in die Fluten, so dass sie hinter dem Floß hergeschleppt und durch die ätzenden Wasser des Pil gereinigt wurde.
„Dort hinten sind sie“, sagte Rall. Er deutete nach Norden. Der Vogelschwarm war deutlich zu erkennen. „Verdammt, sie kreisen! Hoffentlich kehren sie nicht um.“
Der Flößer gab zischend eine lange Erklärung ab. Zzorg hörte aufmerksam zu und übersetzte dann: „Die Vögel jagen Menschen. Etwas muss sie an der Küste aufgestört haben, denn normalerweise gibt es im Meer um diese Jahreszeit genügend Futter. Aber Menschen sind Leckerbissen für sie, ebenso wie Pferde. Man sagt, der Nebelkontinent könne die Grells zu Hilfe rufen, wie andere Tiere auch. Der Flößer glaubt, dort hinten sei eine große Anzahl berittener Menschen. Das kann nur eine kaiserliche Streitmacht sein.“ Zzorg unterbrach sich und zeigte mit dem Arm nach Norden. „Seht, sie stürzen sich auf ihre Opfer.“
Macay beobachtete, wie der kreisende Schwarm sich in einzelne Punkte auflöste, die fast senkrecht nach unten rasten. Er glaubte, die Schreie der Opfer zu hören, aber das war sicherlich nur Einbildung.
Leise wandte sich Rall an Macay: „Es scheint, wir haben großes Glück gehabt. Auf dem Landweg hätten uns die Kaiserlichen zu Pferde längst eingeholt. Wir müssen uns vorsehen. Leider haben wir kein Gold mehr, mit dem wir den Flößer anspornen können.“
Doch das war gar nicht nötig. Das Floß legte eine Geschwindigkeit vor, die es bisher nicht gehabt hatte. Auch der Flößer schien das Bedürfnis zu verspüren, diese Gegend so schnell wie möglich zu verlassen.
An diesem Abend beobachtete Macay die Fütterung des Floßes. Der Flößer steuerte eine Sandbank an, die knapp unter der Wasseroberfläche lag, und schüttete dann aus einem Sack ein grobkörniges Futter in den Fluss.
„Getreidereste, altes Brot und ähnliches, verbacken mit Fleischresten. Das Ganze gemahlen, getrocknet und in dichten Säcken gelagert. Es hält wochenlang und ist sehr nahrhaft“, übersetzte Zzorg, nachdem er eine entsprechende Frage Macays an den Flößer gestellt hatte.
Das Floß bewegte sich schnell über die Stelle, an der das Futter im Wasser gelandet war. Es folgten einige heftige, schwankende Bewegungen, die Macay beinahe umgeworfen hätten, während die Ratten die Köpfe noch tiefer als sonst duckten und unter Wasser nach dem Futter schnappten. Dabei wurde Macay einer der Hauptvorteile des Floßes klar: Es hatte nur einen Tiefgang von wenigen Handbreit, konnte also über Untiefen problemlos hinwegschwimmen. Und es konnte, dank der vielen paddelnden Rattenbeine, sogar auf der Stelle wenden.
Nach der Fütterung, die rund eine halbe Stunde dauerte, weil der Flößer mehrmals Futter in den Fluss warf, fuhren sie noch ein Stück stromaufwärts.
„Das Rattenfutter im Wasser könnte ungebetene Gäste anlocken“, erklärte Zzorg. Der Flößer schien gesprächiger als früher. Wenn Zzorg eine Frage Macays übersetzte, antwortete der Echsenmensch in der Kutte sofort und ausführlich.
Die Nacht verbrachten sie auf dem Floß. Das Letzte, was Macay gegen den Sternenhimmel sah, war die Silhouette des Flößers, und morgens war dessen Schatten das Erste, was er in den Strahlen der aufgehenden Sonne wahrnahm.
Am folgenden Tag gab es noch einmal Aufregung, als die Grellvögel nach ihrem Festmahl zurück zu ihren Nistplätzen vor der Küste flogen. Sie nahmen jedoch eine östlichere Route als beim Herweg, so dass sie keine Gefahr für das Floß darstellten.
Die Strömung nahm zu, weil das Flussbett sich verengte. Aber der Pil führte immer noch genauso viel Wasser wie an der Stelle, wo er in den Dschungel hineinfloss.
„Auch bei Heimstadt ist der Fluss nicht wesentlich schmaler, obwohl es viel näher an seiner Quelle liegt. Man sagt, der Pil entspringe nicht wirklich in der Nähe der Ruinenstadt, sondern trete dort nur ans Tageslicht“, erzählte Rall, der den halben Tag mit Zzorg gewürfelt hatte - um Goldstücke, die sie gar nicht besaßen. Da das Spiel einigermaßen ausgeglichen verlief, war das aber sowieso egal. „Angeblich entspringt er hoch im Norden, und zwar unterhalb des Gebirges, unter dem er dann nach Süden fließt. In der Nähe der Ruinenstadt teilt sich das Gebirge in zwei Höhenzüge. Dort soll der Fluss an die Oberfläche treten. Ob es stimmt, weiß ich nicht.“
Der Flößer zischte etwas und Zzorg übersetzte: „Es stimmt. Flößer sind vor vielen Jahren sogar ein Stück weit in den unterirdischen Fluss hineingefahren. Sie sind nie zurückgekehrt.“
„He, seit wann versteht der, was wir reden?“, rief Macay überrascht.
Rall blieb gelassen. „Er traut uns noch weniger als wir ihm“, sagte er. „Also hat er sich bisher dumm gestellt. Hätte ich an seiner Stelle auch getan.“
Macay war da anderer Ansicht und beobachtete den Flößer nun mit großem Misstrauen. Der wandte der Gruppe jedoch weiter stoisch den Rücken zu und stakte mit seinen Stecken unermüdlich den Fluss hinauf.