Читать книгу Macay-Saga 1-3 - Manfred Rehor - Страница 5
ОглавлениеMacay flieht
Seit Stunden lag Macay wach und wartete auf die Morgendämmerung. Seine Anspannung steigerte sich, als die ersten Lichtstrahlen durch die Fenster drangen. Um ihn herum erwachten die anderen Gefangenen.
Macay stand auf, streckte sich und ging zwischen den niedrigen Bettgestellen umher. Die anderen in der Hütte kümmerten sich nicht um ihn. Er war erst fünfzehn, sie nahmen ihn nicht für voll. Aufmerksam beobachtete er sie. Als keiner zu ihm hinsah, ließ er mit einer schnellen Handbewegung ein rostiges Messer unter seinem Hemd verschwinden. Ein wertvoller Gegenstand hier im Lager auf dem Nebelkontinent.
Laute Trommelschläge trieben zur Eile an. Die Häftlinge zogen murrend ihre Arbeitskleidung über und trotteten zur Tür. Doch erst, als die Wache draußen den Befehl dazu gab, gingen sie hinaus auf den Vorplatz.
Mit klopfendem Herzen wartete Macay, bis er sich als Letzter noch in der Hütte befand. Ballaram stand in der Tür und winkte ihn zu sich.
„Wenn ich könnte, würde ich auch abhauen“, sagte der alte Mann. Seine Stimme war hoch und heiser, wie bei einem erkälteten Kind - eine Folge der langen Jahre, die er schon in diesem Lager im Sumpf lebte. „Bist du wirklich dazu entschlossen?“
„Du hast gesagt, dass die Kaiserlichen meine Schwester nach Port Hadlan gebracht haben. Ich muss sie finden, bevor sie an die Karolier verkauft wird.“
„Mach dich bereit. Ich lenke die Wachen ab. Viel Glück!“ Ballaram schloss die Tür hinter sich.
Macay ging zur Rückwand der Hütte, drückte zwei lockere Bretter beiseite und zwängte sich durch den Spalt. So weit war alles gutgegangen. Nun hieß es, die endlosen Minuten zu warten, bis die gebrüllten Befehle der Wächter den Beginn des Morgenappells verkündeten.
Noch einmal überprüfte Macay seine wenigen Besitztümer, die er in einem wasserdichten, gewachsten Leinenbeutel unter dem weiten Hemd versteckt trug. Außer dem Messer waren das drei Zündelhölzer, einige Stücke Trockenfleisch und Brot, sowie das Wertvollste, was es im ganzen Lager gab: eine Karte des Nebelkontinents. Die Karte hatte Ballaram ihm geschenkt. Alle anderen Dinge hatte Macay in den letzten Tagen seinen Leidensgenossen gestohlen. Mit schlechtem Gewissen und unter Lebensgefahr, denn die Sitten unter den Gefangenen waren rau. Aber es ging nicht anders, wenn er die Flucht wagen wollte.
Das Abzählen der Gefangenen begann. Macay hörte, wie Ballaram über irgendetwas laut schimpfte. Wenn Macay Glück hatte, achteten jetzt weder die Wächter, noch die anderen Gefangenen auf die Gatter, die zu den Feldern führten.
Macay holte tief Luft und spurtete quer über den von der Morgensonne beschienen Sandplatz hinter der Hütte. Am Gatter sprang er hoch. Vor Aufregung griff er daneben und wäre beinahe abgerutscht, aber er schaffte es, sich nach oben zu ziehen und auf der anderen Seite herunterfallen zu lassen. Ein heftiger Schmerz durchzuckte seinen Knöchel. Humpelnd rannte er den festen Weg entlang zum Rand des ersten Sumpffeldes.
Geschafft! Er ließ sich fallen und robbte zwischen den hüfthohen Pflanzen am Boden entlang. Die länglichen Blätter der Lassach-Sträucher hatten gezackte Kanten, scharf wie Rasiermesser. In den letzten Wochen hatte Macay gelernt, sich zwischen ihnen zu bewegen, ohne allzu viele Verletzungen zu erleiden. Er mied auch die Wasserlöcher im Sumpf, in denen ein unvorsichtiger Arbeiter versinken konnte, und die Nester der großen Blutegel, die immer hungrig nach menschlichem Blut waren.
Aus dem Lager hörte er lautes Geschrei: Man hatte sein Fehlen bemerkt! Hinter den Sträuchern stand Macay auf und hinkte durch den Sumpf bis zu einem Feld nahe dem Rand des Dschungels.
Er kannte die Prozedur, die ablief, wenn ein Gefangener verschwand: Die Wächter trieben die Zwangsarbeiter wie jeden Tag auf die Felder, kehrten dann aber zurück ins Lager, um es gründlich zu durchsuchen. Fast immer fanden sie den Flüchtling versteckt irgendwo in der Nähe des Lagertores, wo er vergebens darauf hoffte, in die Freiheit zu gelangen.
In Sichtweite des gut getarnten Durchschlupfs, den er heimlich unter den Zaun gegraben hatte, wartete Macay ab. Es fiel ihm schwer, seine Ungeduld zu bezwingen, aber es wäre ein Fehler gewesen, gleich in den Dschungel zu fliehen. Die Hunde würden sofort seine Spur finden.
Macay sah aus seinem Versteck heraus, wie die ersten Arbeiterkolonnen eintrafen. Die bewaffneten Wachleute kehrten wie erhofft zurück ins Lager und überließen die Aufsicht den Vorarbeitern. Macay hasste diese Gefangenen, die sich Vorteile verschafften, indem sie halfen, ihre Mitgefangenen zu unterdrücken.
In Macays Nähe machten sich die ersten Arbeiter aus seiner Gruppe zu schaffen. Heute begannen sie mit der Ernte der kleinen, trockenen Früchte. Wenn alles gutging, würde keiner zu den alten Büschen kommen, hinter denen er lag.
Diese auszureißen war eine notwendige, aber teuflisch schmerzhafte Arbeit, die niemand freiwillig auf sich nahm. Macay hatte sich die letzten Tage damit abgeben müssen; das hatte ihm viele Schnittwunden eingebracht, aber auch die Chance, sich lange unbeobachtet beim Zaun aufzuhalten. Er hatte diese Zeit gut genutzt. Nahe dem Durchschlupf hatte er mit bloßen Händen eine tiefe Kuhle in dem sumpfigen Boden gewühlt, die nun mit brackigem Wasser vollgelaufen war.
Vorarbeiter in Macays Gruppe war der alte Sem, der schlecht sah und faul war. Er machte es sich gerne auf dem trockenen Weg gemütlich, wenn keine Wächter in der Nähe waren. Sem würde ihn nicht entdecken, da war sich Macay sicher.
Der Schreck fuhr ihm in die Glieder, als nicht Sem, sondern ein Katzmensch namens Rall mit der Peitsche knallend neben seiner Gruppe herging. Dieser Katzer war erst vor einigen Tagen aus einem anderen Lager hierher verlegt worden. In der kurzen Zeit hatte er sich durch sein überhebliches Wesen eine Menge Feinde gemacht. Katzmenschen galten als durchtrieben und sie hatten einen guten Geruchssinn. Macay in seinem Versteck konnte nur das Beste hoffen.
Quälende drei Stunden lang beobachtete Macay die Arbeiter. Bebend vor Wut erlebte er mit, wie Rall den behinderten Sukur mit der Peitsche schlug, weil der wieder einmal mit der Arbeitsleistung der anderen nicht mithalten konnte. Die Ungerechtigkeit war himmelschreiend, aber er konnte Sukur diesmal nicht helfen.
Hundegebell ließ Macay zusammenzucken. Die Wächter, die den Flüchtling im Lager nicht entdecken konnten, gingen nun mit den gefürchteten Wolfshunden an dem Zaun entlang, der die Sumpffelder vom Dschungel abgrenzte. Dies war der gefährlichste Moment in Macays Plan. Er überwand seinen Ekel vor der stinkenden Brühe und seine Angst vor Parasiten und glitt in die vorbereitete Kuhle. Langsam versank er in dem schlammigen Wasser. Nur seine Nase ragte zwischen Blättern versteckt heraus, als die Wächter mit ihren Hunden außerhalb des Zauns die Stelle passierten.
Obwohl seine Ohren unter der Wasseroberfläche waren, hörte er, wie die Hunde anschlugen. Macay konnte nur hoffen, dass jetzt die anderen Arbeiter den Wächtern erklärten, Macay habe in den letzten Tagen hier gearbeitet. Kein Wunder also, wenn die Hunde seine Witterung fanden. Hoffentlich ließen sich die Wächter davon überzeugen und gingen weiter.
Das Hundegebell hörte auf, doch Macay blieb unter Wasser. An seiner Wade spürte er einen Stich und dann ein unangenehmes Brennen. Vorsichtig tastete er mit der Hand nach der Stelle. Ein Riesenblutegel hatte sich dort festgebissen. Macay musste einen Panikanfall unterdrücken. Er kannte diese langen, unförmigen Gebilde gut genug, um zu wissen, dass er sich in Lebensgefahr befand. Wo ein Egel Nahrung fand, sammelten sich bald Dutzende - das war der sichere Tod ihres Opfers.
Als er einen zweiten und dritten Stich spürte, gab er sein sicher geglaubtes Versteck auf. Er kroch langsam aus dem Schlammwasser zu einer trockenen Stelle unter den alten Büschen. Vorsichtig entfernte er die Egel. Die Wunden, die er sich dabei selbst zufügen musste, würden noch eine Weile bluten, aber daran konnte er jetzt nichts ändern. Es würde ihn nicht umbringen und das Ertragen von Schmerzen hatte er im Lager gelernt.
Erschöpft lag Macay bis zum späten Nachmittag unter den Büschen und versuchte, wach zu bleiben. Immer wieder schreckte er hoch, wenn jemand in seine Richtung kam, aber er wurde nicht entdeckt. Erleichtert hörte er schließlich Trommelschläge aus dem Lager. Das war das Zeichen für das Arbeitsende.
Die Arbeiter machten sich auf den Rückweg. Wie immer vergaß Sukur, sein Werkzeug mitzunehmen. Rall war neu in der Funktion des Vorarbeiters und achtete nicht darauf. Er würde Ärger deswegen bekommen, und das geschah ihm recht. Aber Macay konnte sich nicht darüber freuen. Man würde den Katzer zurückschicken, um die Sachen zu holen! Macay stöhnte auf und fluchte hinter Rall her. Nun musste er noch länger warten, bis er unter dem Zaun hindurch fliehen konnte.
Tatsächlich kam Rall nach ein paar Minuten wieder und suchte nach Sukurs Sachen. Als er sie fand, bückte er sich jedoch nicht danach, sondern sah sich verstohlen um. Macay fragte sich, was los war, da jagte Rall schon aus dem Stand heraus los. In langen Sätzen, wie sie nur seine Rasse zustande brachte, kam er direkt zu Macays Versteck. Verzweifelt versuchte Macay, den wasserdichten Beutel aufzubekommen, in dem sich das gestohlene Messer befand. Aber da war Rall schon über ihm und presste ihm die krallenbewehrte Hand an die Kehle.
„Wusste ich doch, dass du hier bist.“
Macay hatte keine Chance gegen den durchtrainierten Katzmenschen mit den extrem schnellen Reflexen. Seine Flucht war vorbei, bevor sie richtig begonnen hatte. Doch Rall zog überraschend seine Hand zurück, so dass Macay wieder Luft bekam.
„Los, hauen wir ab“, sagte Rall. Er beseitigte die Blätter und Äste, die den Durchgang unter dem Zaun verbargen. „Clever gemacht, das muss ich zugeben.“
Er kroch auf die andere Seite. Von dort winkte er: „Komm schon. In wenigen Minuten wissen die Wächter, dass ich auch verschwunden bin. Dann geht die Jagd los.“
Macay folgte ihm. Er traute dem Vorarbeiter nicht, aber es blieb ihm nichts anderes übrig, als sich jetzt mit ihm einzulassen. „Wenn sie wieder mit den Hunden kommen, sind wir verloren“, sagte er.
„Dein Trick mit dem Wasserloch war ganz gut“, entgegnete Rall, „aber nicht ungefährlich. Ich kenne einen besseren.“ Er öffnete einen Beutel, der gefüllt war mit einer grünlichen, öligen Paste. Dem Geruch nach war sie aus den Blättern der Lassach-Pflanze hergestellt worden.
„Lassach, Pfefferkraut und zerriebene Mirr-Käfer“, bestätigte Rall. Er holte ein wenig von der Paste heraus und begann, sie über seinen räudigen, gelblichen Pelz zu verteilen. „Los, zieh dich aus und reib dich ein. Das hält die Hunde fern.“
Zögernd legte Macay Hemd und Hose ab und folgte dem Beispiel des Katzmenschen. Die Substanz stank, aber das mochte ihr großer Vorteil sein. Verblüfft registrierte er, wie die Paste sofort vollständig in seine Haut eindrang. Er konnte seine Kleidung gleich wieder überziehen.
„So, verschwinden wir!“ Rall eilte mit geschmeidigen Bewegungen voraus.
Macay folgte ihm langsamer. Noch immer behinderte ihn sein schmerzender Knöchel. „Wie kommst du auf die Idee, dieses Zeug könnte uns vor den Hunden schützen?“, wollte er wissen.
„Lassach beruhigt sie, Pfefferkraut irritiert ihre Nase und zerriebene Mirr-Käfer lassen uns stinken wie einen frischen Haufen Kuhdung“, erklärte Rall, der sich zielstrebig nach Südwesten bewegte. „Das mögen sie nicht.“
„Woher kennst du solche Rezepte?“, erkundigte sich Macay. Ihm wurde seltsam zumute, schwindelig und wohlig-müde.
„Ich bin ein Heilkundiger unserer Rasse“, sagte Rall. Er sah sich nach einem dichten Buschwerk um. „Dort können wir es uns gemütlich machen bis morgen früh. Übrigens hat die Paste für Menschen einen Nachteil: Sie nehmen das Rauschmittel durch die Poren ihrer Haut auf, während wir dank unserer Katzenvorfahren dagegen geschützt sind. Wirkt es schon?“
„Verdammt, du willst mich betäuben und als Opfer für die Wachen zurücklassen!“ Macay war zu müde, um Angst zu empfinden. Ihm wurde übel und dann schwarz vor Augen. Ohnmächtig brach er zusammen.
Macay träumte wirr von seiner Schwester Lillra und seinen toten Eltern. Wieder sah er das Gesicht des Adeligen Alambar D‘Rhan in der Gerichtsverhandlung vor sich, der ihn zu lebenslänglich Arbeitslager verurteilte - weil Macay für sich und Lillra aus Hunger Brot gestohlen hatte. Warum war die Strafe so unüblich hart ausgefallen? Warum war überhaupt ein Adeliger bei der Verhandlung anwesend? Die Fragen, die ihn seit damals täglich quälten, suchten nun auch seine Träume heim.
Auch die Trennung von Lillra erlebte Macay noch einmal, die als Leibeigene auf dem Schiff bleiben musste, als es den Nebelkontinent erreichte. Er rief Lillras Namen und erwachte.
Langsam richtete er sich auf. Er war alleine. Ein Tier kreischte in den Baumkronen, so unvermittelt und laut, dass Macay beinahe wieder ohnmächtig geworden wäre. Aus der Ferne antwortete dumpfes Grunzen. Etwas raschelte, eine Ratte erschien, betrachtete Macay und verschwand trippelnd wieder im Unterholz, als gäbe es keine Gefahren auf der Welt. Atemlos lauschte Macay auf die ungewohnten, rätselhaften Geräusche des Dschungels. Keines davon kam näher. Allmählich beruhigte er sich.
Dann war die Erinnerung wieder da, ein eisiger Schreck durchfuhr ihn: Er war auf der Flucht von dem heimtückischen Katzer hereingelegt worden! Lange konnte das nicht her sein, denn es war immer noch nicht ganz dunkel.
Macay griff nach dem Leinenbeutel unter seinem Hemd. Er war noch da, Ballarams Karte knisterte darin. Erleichtert ließ er sich wieder zurücksinken und wartete weitere, lange Minuten, bis er sich besser fühlte. Dann stand er auf und schüttelte Blätter und Dreck aus seiner Kleidung, bevor er sich umsah.
Zwischen Bäumen und Gesträuch sah er den Zaun des Arbeitslagers. Viel zu nahe. Macay untersuchten den Boden nach Spuren. Er wollte herausfinden, wohin der Katzmensch gegangen war. Aber er fand keine. Macay humpelte los, so schnell es sein geschwollener Knöchel erlaubte.
Obwohl er ängstlich darauf bedacht war, jeder Gefahr aus dem Wege zu gehen, bemerkte er die Giftschlange zu spät. Sie ließ sich von einem Ast auf seine Schulter fallen. Es war großes Glück, dass er im letzten Moment eine ausweichende Bewegung machte. Die Giftzähne der Schlange trafen nicht. Sie landete auf dem Boden und verschwand unter dem Laub. Macay hatte von diesen Ködernattern gehört, die große Tiere töteten. Der Gestank von deren verwesendem Kadaver lockte dann die eigentliche Jagdbeute der Schlangen an: kleine, aasfressende Säugetiere. Noch vorsichtiger setzte er seinen Weg fort.
Macay erinnerte sich an die vielen Erzählungen, die im Lager kursierten: über die menschenfressenden Monster des Dschungels und die giftigen Insekten, über das krank machende Wasser und die tödlichen Pflanzen. Ballaram hatte es ihm zugeflüstert, als er zum ersten Mal die Karte zeigte: „Der Nebelkontinent ist so gefährlich, dass die kaiserlichen Truppen ihn bisher nicht erobern konnten. Es existieren nur die Arbeitslager entlang der Ostküste. Ansonsten ist der Nebelkontinent noch unerforschtes Land. Aber es gibt Menschen, die hier leben können. Sieh auf die Karte: Zwischen hier und den Hafenstädten der Karolischen Republik an der Westküste liegen Siedlungen. Dort wirst du Unterstützung finden.“
Der Dschungelstreifen entlang der Küste war der ungefährlichste Teil des Nebelkontinents. Dieser Urwald lebte von den Niederschlägen, die über das Meer kamen, und zwar in Form des fast ständig herrschenden Nebels, der über der Küste hing und dem ganzen Kontinent den Namen gab.
Ein merkwürdiger Mensch, dieser Ballaram. Macay hatte ihn anfänglich nicht gemocht. Obwohl Ballaram angeblich seit vielen Jahren im Lager war, wusste er über manche Dinge sehr wenig - aber über andere mehr als die übrigen Gefangenen.
Macay zog die Karte aus dem Beutel und studierte sie im schwindenden Licht noch einmal: Am schnellsten gelangte man vom Lager aus in südwestlicher Richtung durch den Dschungel. Macays erstes Ziel war ein Fluss. Natürlich wollte er dessen Ufer erst weit im Inland erreichen, wo Wächter und Soldaten des Kaisers nicht hinkamen.
Dieser Fluss, Pil genannt, war nach Ballarams Erzählungen sehr breit, aber nicht tief. Sein Wasser war eine schmutzige, giftige Brühe. Zum Glück war er zu seicht, um ihn mit großen Schiffen zu befahren. Das machte das Flussufer zu einem sicheren Aufenthaltsort für einen Flüchtling.
Macay bahnte sich mit der gebührenden Vorsicht den Weg in einer Richtung, die hoffentlich Südwesten war. Hinter dem Dschungelgebiet gab es laut Ballarams Karte eine Furt über den Pil. War die überquert, erreichte man eine Siedlung. Ihr Name lautete Eszger.
Immer wieder ließen Geräusche Macay innehalten und ängstlich ins Halbdunkel lauschen. War ein Raubtier auf seiner Fährte, eines der unsäglichen Monster aus den Erzählungen? Oder wurde er verfolgt? Aber die Geräusche gingen wieder im allgemeinen Konzert der Tiere des Dschungels unter.
Es dunkelte, Macay konnte kaum noch etwas erkennen. Er brauchte ein Versteck für die Nacht. Ich hätte früher daran denken sollen, schalt er sich selbst. Nun fand er in seiner Umgebung nur einen Baum, dessen dicker Stamm vom Boden aufwärts einen tiefen, längst vernarbten Spalt aufwies. Der bot zumindest eine Rückendeckung.
Macay stocherte mit seinem Messer in dem Spalt herum, bis er sicher war, dass keine Schlangen oder andere Tiere darin hausten. Dann kauerte er sich am Boden zusammen und zwängte sich hinein. Nur Hände und Füße ragten noch heraus. In dieser Position konnte er nicht schlafen, das stellte er bald fest. Immerhin konnte er sich ausruhen und brauchte nur auf das zu achten, was direkt von vorne kam.
Etwa zwei Stunden nach Anbruch der Nacht begann es ihn am Rücken zu jucken. Das war kein Wunder, denn er konnte sich kaum bewegen und war schon ganz steif in seinem Halbversteck. Das Jucken war nicht stark, aber es breitete sich vom Hals ausgehend seitlich und nach unten aus. Schließlich wurde es Macay unmöglich, den Juckreiz weiter zu ignorieren. Er rückte ein wenig heraus und kratzte sich - und spürte Nässe an seiner Hand.
Macay sprang aus dem Spalt heraus und opferte eines seiner drei Zündelhölzchen, um zu sehen, was geschehen war. Seine Hand war rot vor Blut. Innerhalb des Spaltes im Baum krabbelten große Ameisen herauf und herunter. Entsetzt sah Macay, wie die Tiere, die auf dem Weg nach oben waren, winzige Blutstropfen zwischen ihren Beißwerkzeugen trugen. Von Vampir-Ameisen hatte er noch nie gehört, aber es konnte keinen Zweifel geben, dies waren welche. Wäre das Jucken nicht gewesen, er wäre sicherlich im Laufe der Nacht wegen des Blutverlustes immer schwächer geworden und gestorben.
Während das Zündelhölzchen noch brannte, hörte Macay ein Geräusch hinter sich. Er fuhr herum - und stand einem Mann gegenüber, der eine Machete in der Hand hielt.
Ein Grinsen glitt über das bärtige Gesicht des Mannes. „Hab ich dich, du kleine Ratte. Dein Kopf wird mir sechzehn Goldstücke bringen.“ Er holte mit der Machete aus.
Macay ließ das Zündelholz fallen und hechtete seitwärts weg. Er landete hart auf dem Erdboden und versuchte auf allen Vieren, Abstand zu gewinnen. Hinter sich hörte er einen Schrei. Aber der klang nicht so, als wäre der Mann nur enttäuscht, dass ihm sein Opfer entwischt war. Es war ein Todesschrei.
Erstarrt blieb Macay auf dem Boden liegen. Er wagte kaum, zu atmen. Schräg nach oben blickend konnte er sehen, wie sich ein Schatten gegen den sternbedeckten Nachthimmel abhob, der an einigen Stellen durch das Blätterdach blinkte. Der Schatten blieb stehen, dann duckte er sich weg. Macay hielt sein rostiges Messer vor sich. Er wusste, es war eher eine lächerliche Geste, aber das war seine einzige Waffe. Ein Zündelhölzchen leuchtete auf und Macay sah, dass der Schatten zu Rall gehörte.
Rall entzündete eine Fackel, deren Stil er schräg in den feuchten Boden rammte, dann sah er auf den überraschten Macay herunter und sagte: „Mit der Paste waren wir quitt, jetzt stehst du in meiner Schuld. Ich werde eines Tages eine Gegenleistung fordern.“
Der Katzer streckte Macay die Hand entgegen und half ihm hoch.
„Danke“, keuchte Macay. „Wo kommst du her?“
„Ich war die ganze Zeit dicht hinter dir.“ Rall deutete auf die Seite, wo der Mann mit durchgeschnittener Kehle lag. „Mit dem Auftauchen von Kopfgeldjägern habe ich gerechnet. Ich war sicher, dass man einen beauftragen würde, uns zu finden und zu töten.“
„Du hast mich als Köder benutzt?“
„Warum nicht? Wie hättest du einen Kopfgeldjäger unschädlich gemacht? Übrigens haben wir keine Zeit zum Plaudern.“
Macay scheute vor dem Toten zurück, deshalb durchsuchte Rall ihn und gab die Gegenstände, die er fand, an Macay weiter.
„Eine Machete. Endlich eine gute Waffe. Für mich, versteht sich. Und ein Dolch. Den überlasse ich dir. Ein Vorrat an Tabak und drei Goldmünzen. Die werden uns noch gelegen kommen. Und ein Zettel; Menschenschrift. Lies mir das vor.“
Macay versuchte, den Zettel im flackernden Licht der Fackel zu entziffern. „Es ist ein Vertrag des Lageroffiziers mit zwei Kopfgeldjägern. Er enthält eine Beschreibung von uns beiden. Die Beweise für unseren Tod sollen nach Heimstadt gebracht werden.“
„Oho! Das verstehe ich nicht.“
„Warum? Du hast doch mit Verfolgern gerechnet.“
„Ja, aber Heimstadt ist ein Ort im Inland. Fast in der Mitte des Kontinents. Es kann doch unmöglich sein, dass ...“ Rall unterbrach sich. „Doch, es kann sein. Ich fürchte, wir sind in größeren Schwierigkeiten, als ich bisher dachte.“
„Was soll das heißen?“
„Wir gehen sofort weiter.“
„Im Dunkeln? Unmöglich.“
„Für dich. Meine Rasse kann im Dunkeln gut sehen. Halte dich dicht hinter mir.“
Rall ging mit der Machete vorneweg, Macay folgte ihm mit dem Dolch in der Hand.
Bei Morgengrauen erreichten sie den Fluss. Das Wasser war trübe und übelriechend.
„Am anderen Ufer wären wir sicher“, sagte Rall.
„Ich kann nicht gut schwimmen“, wandte Macay ein. Der Gedanke, in dieses Gewässer zu müssen, widerte ihn an.
„Wir haben sowieso keine Chance, lebend den Fluss zu überqueren, bevor wir die Furt bei Eszger erreichen. Das Wasser ist ätzend und es leben Tiere darin, die uns in Sekunden erledigen würden.“
„Warum ist dann die Furt sicher?“
„Für die gefährlichen Fische ist sie zu seicht. Und man ist sehr schnell auf der anderen Seite.“ Rall zupfte ein paar Blätter von einem Strauch, an dem sie vorbei kamen. „Zerreibe sie vorsichtig auf deinem geschwollenen Knöchel. Es wird die Schmerzen lindern.“
Macay nahm die Blätter entgegen. Ein bitterer Geruch stieg von ihnen auf. „Ich weiß nicht, ob ich dir noch einmal vertrauen soll“, sagte er.
Rall lachte ihn aus: „Ohne mich wärst du längst tot. Misstrauen ist also nicht angebracht. Oder willst du weiter hinter mir her humpeln?“
Macay zögerte, befolgte dann aber Ralls Anweisung. Tatsächlich ging es ihm bald besser. Er konnte Ralls Tempo leichter mithalten.
„Deine Menschenkenntnis ist nicht sehr ausgeprägt“, sagte Rall später. „Anderen vertraust du blind, mir dagegen gar nicht.“
„Wen meinst du?“
„Ballaram. Ich habe mir die Karte angesehen, die du in deinem Brustbeutel trägst.“
„Als ich bewusstlos war? Hätte ich mir denken können. Was ist mit der Karte?“
„Sie zeichnet recht genau den Weg bis in die Mitte des Kontinents nach. Bis Heimstadt. Alles, was dahinter liegt, ist falsch eingetragen.“
„Ballaram wusste es nicht besser. Er hat die Karte im Laufe vieler Jahre nach den Erzählungen anderer Leute angefertigt.“
„Viele Jahre? Er kam wenige Tage vor dir ins Lager. Angeblich war er davor in einem anderen. In dem, aus dem ich komme. Ich habe ihn dort nie gesehen.“
„Aber wieso sollte er lügen?“, sagte Macay verblüfft. „Er hat mir zur Flucht verholfen.“
„Hast du dich schon einmal gefragt, warum ausgerechnet dir?“
„Nein“, gab Macay zu. Er grübelte über diese Frage nach, kam aber zu keinem Ergebnis.
Während sie sich am späten Nachmittag aus abgestorbenen Zweigen einen Unterschlupf bauten, beobachtete Macay den Katzmenschen. So räudig Ralls Fell wirkte, seine Bewegungen waren kraftvoll und geschmeidig. Die Art, wie er mit wenigen Handgriffen den regensicheren Unterstand errichtete, verriet den Fachmann, der das schon sehr oft gemacht hatte.
Als sie fertig waren, brachte Rall ein paar Früchte, die er in der Nähe aufgesammelt hatte: „Persäpfel. Sehr nahrhaft, sehr süß. Wenn wir sie nicht selbst essen, locken sie alles mögliche Getier an. Riechst du es?“ Er hielt Macay die gelben Früchte unter die Nase.
Der Geruch nach Honig war so intensiv, dass Macay das Wasser im Mund zusammenlief. Während er aß, fragte er beiläufig: „Du kennst dich im Dschungel gut aus. Warst du schon einmal hier?“
„Nein. Aber wann immer im Lager etwas über den Dschungel erzählt wurde, habe ich die Ohren gespitzt. Meine Ohren sind nicht nur größer als deine, sie hören auch eine Menge mehr. Sie sind, im doppelten Sinn des Wortes, spitzer.“
Macay lachte mit Rall über diesen Scherz. Aber die Antwort klang, als wäre sie schon lange vorbereitet gewesen. Macay nahm sich vor, auf der Hut zu sein.
Als der Morgen durch das Blätterdach strahlte, brachen sie auf. Schon nach wenigen Minuten blieb Rall stehen: „Riechst du es?“, fragte er leise.
Macay schüttelte den Kopf: „Nichts Ungewöhnliches.“
„Rauch!“
„Ein Lagerfeuer?“, vermutete Macay.
„Nein. Schlimmer. Wir müssen sehr vorsichtig sein.“
Macay folgte Rall, der nun geduckt weiterging, immer in Deckung von Bäumen und Büschen. So erreichten sie den Rand des Dschungelgebietes. Vor ihnen lag eine weite, hügelige Ebene voll von saftigem Gras, unterbrochen durch Gruppen von Büschen und Bäumen. Weit im Westen erhob sich majestätisch das von Nord nach Süd verlaufende Gebirge, das den Nebelkontinent teilte. Auf der anderen Seite des Flusses stieg eine dunkle Rauchwolke in den Himmel.
Am Ufer, hinter dem letzten Ausläufer von Gestrüpp, hielt Rall an. „Dort ist die Furt. Wir warten hier.“
„Auf was?“
„Feinde. Das Feuer ist in Eszger und es brennt noch. Wenn jemand die Stadt angegriffen hat, führt der Rückzug sie vielleicht hier über den Fluss. Eszger wird alle paar Jahre angegriffen. Es ist ein Grenzort zwischen dem Gebiet der Echser und unserem. Wir leben im Norden des Kontinents, die Echser im Süden, wo das Klima ihnen mehr zusagt als uns Fellträgern.“
„Echser?“, fragte Macay verblüfft. „Ich habe von Echsenmenschen gehört, aber sie sollen vor Jahrhunderten fast völlig ausgerottet worden sein, wie die ...“ Macay brach ab.
„Wie wir Katzmenschen auch“, sagte Rall grimmig. „Aber unsere Rassen stammen vom Nebelkontinent. Hier hat es immer Siedlungen von uns gegeben. Die kaiserlichen Truppen konnten wir uns bisher weitgehend vom Hals halten.“
„Was?“ Macay war verblüfft. „Bedeutet das, die kaiserlichen Truppen können den Nebelkontinent nicht erobern, weil ihr euch ihnen entgegen stellt?“
Rall grinste. „Zumindest trägt unser Widerstand dazu bei, die Kaiserlichen an den Küsten des Kontinents festzunageln.“
Sie beobachteten den Fluss und den Weg, der sich von Norden zur Furt schlängelte und von dort aus weiter nach Südwesten. Niemand störte in den folgenden Stunden das friedliche Bild.
„Wir wagen es“, sagte Rall schließlich.
Mit wenigen, langen Schritten überquerten sie die Furt und suchten sich auf der anderen Seite wieder eine Deckung.
Das Wasser des Pil war so schmutzig, dass Macay die Haut an den Füßen brannte, als wäre er durch ein Säurebad gegangen. Doch der Anblick von Eszger ließ ihn den Schmerz vergessen.