Читать книгу Macay-Saga 1-3 - Manfred Rehor - Страница 12
ОглавлениеDer Alte Wald
Während sie durch den Wald gingen, erzählte Rall, was nach seiner Gefangennahme geschehen war. „Ich wurde nicht sehr sanft behandelt, was man mir leider ansieht.“ Er strich sich mit der Rechten vorsichtig über das zerschundene Fell am Bauch. „Man hat mir alles abgenommen, was ich noch aus Eszger bei mir hatte, bis auf den Ring, den wir im Podest des Dämons gefunden haben. Merkwürdigerweise haben sie den einfach übersehen.“
„Bedeutet das, der Ring ist magisch und nur für uns zu sehen?“
„Unwahrscheinlich. Ich war versucht, ihn während der Gefangenschaft anzustecken, um herauszufinden, welche magischen Eigenschaften er hat, aber es schien mir dann doch zu riskant.“
Zzorg räusperte sich: „Tja. Was meine Geschichte angeht: Als Macay nicht wie vereinbart zum Treffpunkt kam, habe ich vermutet, dass er in der Stadt gefangen wurde. Ich habe den Treffpunkt jeden Tag aufgesucht. Dabei muss mich jemand gesehen und verraten haben. Die kaiserlichen Soldaten waren blitzschnell über mir. Mein Widerstand war zwecklos.“
„Tut mir Leid“, sagte Macay betreten.
„Schon gut“, antwortete Rall an Zzorgs Stelle. „Wir müssen in die Zukunft blicken, nicht in die Vergangenheit. Der Weg übers Gebirge ist jetzt zu gefährlich für uns, der Wald ist sicherer. Wir gehen durch den Alten Wald nach Süden, bis wir auf die Ruinenstadt treffen. Von dort aus muss es weiter im Südwesten noch einen Pass über das Gebirge geben.“
„Wir könnten auch den Tunneleingang suchen“, sagte Macay und berichtete, was er von Elkmar gehört hatte.
„Eines dieser Märchen“, tat Rall es ab. „Aber es kann natürlich nicht schaden, wenn wir die Augen offen halten. Unser erstes Ziel ist es, möglichen Verfolgern zu entkommen. Also vorwärts, schneller jetzt.“
Der Wald, durch den sie marschierten, unterschied sich wesentlich von dem Dschungel, in dem Macays Flucht aus dem Lager begonnen hatte. Die Bäume waren höher und ihre Stämme dicker. Das Astwerk in Bodennähe fehlte ganz. Erst in großer Höhe bildeten die Bäume weit ausladende Kronen, die das Sonnenlicht fast völlig verschluckten. Deshalb gab es, außer Moos und ein wenig Gestrüpp, keinen Bodenbewuchs.
Macay fühlte sich unwohl, weil der Wald kahl und leblos wirkte.
„Man kann hier nicht aus der Umgebung leben“, erklärte ihm Rall. „Kein jagdbares Wild, keine Beeren und Früchte. Ab und zu findet man Pilze, die groß genug für zwei bis drei Mahlzeiten sind - wenn man die giftigen von den ungiftigen zu unterscheiden versteht.“
„Was du vermutlich kannst.“
„Richtig. Aber es ist nicht die Jahreszeit dafür. Der Wald ist zu trocken. Und das ist das nächste Problem: Es gibt nur wenige Quellen im Alten Wald. Reisende, die sich früher hierher gewagt haben, empfehlen, sich von Heimstadt aus nach Südwesten zu bewegen, weil man da unterwegs Quellen findet.“
„Aber wir gehen doch im Moment direkt nach Süden“, wandte Macay ein.
„Weil diese Empfehlung natürlich nicht nur uns bekannt ist. Unsere Verfolger werden ebenfalls die Südwest-Route benutzen. Deshalb nehmen wir nicht den sichersten Weg. Hoffen wir, dass wir unterwegs Wasser finden.“
Sie wanderten weiter. Der Wald war unheimlich still, nur ihre Schritte klangen so laut, als wäre eine ganze Kompanie unterwegs. Jeder knackende Zweig unter seinen Füßen ließ Macay erschreckt zusammenzucken. Später wurde es dunkel, obwohl es erst früher Nachmittag war. Macay hörte ein leises Rauschen, das langsam lauter wurde, bis der Wald zu dröhnen schien.
„Wir haben Glück: Regen“, sagte Rall. „Ein Wolkenbruch, der auf das Blätterdach des Waldes niedergeht. Hier unten kommt kaum etwas davon an.“
„Woher bekommen die Bäume dann das Wasser zum Wachsen?“, wollte Macay wissen.
„Ein Teil des Regenwassers wird in der Rinde der Bäume nach unten geleitet“, erklärte Rall.
Es war so dunkel geworden, dass man kaum noch etwas sehen konnte, deshalb streckte Macay die Hand aus und berührte den nächststehenden Baum. Tatsächlich fühlte er, wie in den Rinnen der Borke Wasser rieselte. „Damit könnten wir unsere Wasserflaschen auffüllen“, überlegte er laut.
„Besser nicht. Wer weiß, welche Gifte das Wasser auf seinem Weg nach unten von der Rinde des Baumes aufnimmt. Du bist auf dem Nebelkontinent, Junge, vergiss das nicht.“
Da sie in der Dunkelheit nicht weitergehen wollten, suchten sie sich eine besonders dicht mit Moos bewachsene Stelle und schlugen dort ihr Lager auf. Macay trug ein paar trockene Äste zusammen und entfachte ein Lagerfeuer.
„Zzorg übernimmt die erste Wache“, bestimmte Rall.
Macay sah ihn überrascht an, denn normalerweise fragte Rall, wer welche Schicht übernehmen wollte. Aber er war müde und eigentlich froh, nicht als erster dran zu sein, also ließ er es dabei bewenden und legte sich hin.
Nachts schreckte Macay aus dem Schlaf hoch. Zzorg saß ein Stück abseits auf einem großen Stein. Macay nahm ihn nur als dunklen Schatten wahr. Ein seltsames Geräusch erfüllte den Wald, ein leises Singen, begleitet von einer Melodie, als würde der Wind im Geäst der Bäume spielen. Aber die Bäume waren viel zu mächtig für solche zarten Töne und der Gesang klang nach menschlichen Stimmen. Macay wollte Zzorg danach fragen, aber die Melodie wirkte so einschläfernd, dass ihm gleich wieder die Augen zufielen.
Einige Stunden später wurde Macay von Rall geweckt. Rall hatte die zweite Schicht übernommen, nun war es an Macay, bis zum Morgen wach zu bleiben. Macay war ein Stadtkind und deshalb in der Natur nicht so zu Hause wie Rall oder Zzorg. Nachtwachen waren ihm ein Gräuel. Er setzte sich auf den Stein, auf dem Zzorg gesessen hatte, und lauschte nach den Geräuschen der Nacht. Das Singen war nicht mehr zu hören und sonst auch nicht viel. Ab und zu ein plötzliches Rascheln über ihnen in den Blättern des Baumes oder ein schnell tippelndes Kratzen, wenn ein kleines Tier an der Rinde hoch huschte.
Unerwartet fühlte Macay einen Lufthauch im Genick. Er fuhr herum, das Kurzschwert ausgestreckt - aber hinter ihm war nur Dunkelheit. Macay stand auf und starrte angestrengt in alle Richtungen. Nichts. Nur ein heller, roter Punkt war zu sehen: die verglühende Asche des Lagerfeuers. Und doch hatte er den Eindruck, er brauche nur die Hand auszustrecken, um jemanden zu berühren, der in seiner Nähe stand und ihn anstarrte. Er hielt den Atem an und stieß mit dem Schwert zu. Nichts. Dann raschelte etwas in einiger Entfernung. Das Gefühl, jemand sei in seiner Nähe, schwand.
Macay war unendlich erleichtert über die beginnende Morgendämmerung. Er freute sich, Rall und Zzorg auf ihren Mooslagern zu sehen, und machte sich daran, das Feuer neu zu entfachen. Und doch überfiel ihn wieder das Gefühl, beobachtet zu werden, und zwar von oben. Er hob den Kopf und starrte in das Blätterdach, das unerreichbar weit über ihm einen dunkelgrünen Himmel bildete. Sahen die Bäume auf ihn herab?
„Gestern Abend hast du den Gesang des Waldes gehört“, sagte Rall später beim Frühstück. „Er ist gefährlich für Reisende, weil er sie einschläft. So werden sie leicht Opfer von wilden Tieren, von denen es hier zum Glück nicht viele gibt. Der Vorteil ist, man schläft ausgesprochen gut und tief im Alten Wald.“ Rall reckte und streckte sich, ließ sich dann auf alle Viere nieder und machte einen Katzenbuckel, wie Macay noch nie einen gesehen hatte. „Woher der Gesang kommt, weiß keiner zu sagen. Er dauert zwei bis drei Stunden, dann ist wieder Ruhe. Echsenwesen sind immun dagegen, deshalb hat Zzorg die erste Wache übernommen.“
„Ich habe mich die ganze Nacht beobachtet gefühlt“, gab Macay zu.
„Das ist normal. Der Wald sieht alles, sagt man. Es ist einfach eine unheimliche Gegend, deshalb ist sie so leer. Es sind auch viele Geschichten über den Alten Wald in Umlauf. Manche behaupten, die Bäume würden Menschen verschlucken. Oder es gebe einzelne Bäume, die reden können und dem Reisenden Ratschläge erteilen, wie er am besten zu seinem Ziel kommt, wenn man höflich fragt. Aber das sind alles Kindermärchen.“
„Wirklich? Eigentlich gibt es doch auf dem Nebelkontinent ziemlich viel, was es anderswo nicht gibt. Warum also nicht auch das?“
„Weil wir auf unseren langen Reisen nie jemandem begegnet sind, der es selbst erlebt hat. Es sind nur Geschichten.“
Sie packten ihre Sachen zusammen und marschierten weiter. Bald gelangten sie zu einem Tümpel, über dem das Blätterdach des Waldes eine Lücke aufwies. Hier war ein alter Baumriese umgestürzt und die nachwachsenden Bäume waren noch nicht hoch genug, um die Lücke zu füllen. Der Tümpel hatte sich offenbar erst am Vortag bei dem starken Regenfall gebildet, sein Wasser war klar und sauber. Sie tranken und füllten ihre Wasserflaschen, die nichts anderes als ausgebrannte, kunstvoll bearbeitete Flaschenkürbisse waren.
„Der Tümpel ist ein Glücksfall für uns“, sagte Rall. „Morgen wird das Wasser bereits abgestanden und brackig sein. Praktisch ungenießbar für die Kaiserlichen, falls sie uns doch folgen sollten.“
„Glaubst du wirklich, sie sind noch hinter uns her?“, fragte Macay verblüfft.
„Sie haben bisher eine ziemliche Hartnäckigkeit an den Tag gelegt.“
„Ich hatte gehofft, hier seien wir vor ihnen sicher“, seufzte Macay. „Schließlich gibt es noch genügend andere Gefahren, vor denen wir uns in Acht nehmen müssen.“
„Das stimmt wahrhaftig“, gab Rall zu.
Um sie herum, in den Ästen der niedrigeren Bäume, raschelte es lauter als gewohnt.
„Auch wenn es dumm klingt“, sagte Macay mit belegter Stimme, „ich fühle mich wieder beobachtet, genau wie heute Nacht.“
Nun hob auch Zzorg den Kopf und musterte die Baumkronen in ihrer Umgebung. „Vermutlich sind es Tiere, die hier trinken wollen.“
„Das soll uns nicht hindern, in aller Ruhe unsere Angelegenheiten zu regeln, bevor wir weiterziehen“, sagte Rall. Er begann, im klaren Wasser den gröbsten Schmutz aus seiner Bekleidung auszuwaschen. Da er seit seiner Einkerkerung nicht dazu gekommen war, ging auch ohne Seife eine ganze Menge Dreck heraus. Im Laufe des Tages sammelten sich in der Nähe des Tümpels immer mehr Stechfliegen, die es auf Macay abgesehen hatten. Deshalb zogen sie am Nachmittag weiter.
Das Rascheln in den Baumkronen über ihnen hatte während ihres ganzen Aufenthalts am Tümpel nicht mehr nachgelassen. Als sie losmarschierten, erwartete Macay, diese Geräusche hinter sich zu lassen. Aber dem war nicht so.
Nach einer halben Stunde blieb Rall stehen. „Etwas verfolgt uns“, sagte er.
„Was?“, fragte Macay und sah sich um.
„Was auch immer in den Baumkronen lebt. Das Rascheln bleibt uns auf den Fersen, immer ein wenig hinter uns. Wir sollten uns auf einen Angriff von oben gefasst machen.“ Rall nahm den Bogen vom Rücken. „Vielleicht hilft es, wenn ich einen Schuss in die Richtung abgebe.“ Er tat es, und aus den Baumkronen ertönte als Antwort ein schriller Schrei.
„Getroffen!“, jubelte Macay.
„Glaube ich nicht“, sagte Rall sachlich. „Das klang nicht nach einem Schmerzensschrei, sondern nur verärgert.“ Er schoss noch einmal einen Pfeil in die Richtung, aus der dieser Schrei gekommen war.
Einen Moment später fielen beide Pfeile ein Stück entfernt von ihnen zu Boden. Rall ging hin und holte sie. „Einer ist zerbrochen“, sagte er und zeigte ihn Macay und Zzorg. „Ich kann mir nicht vorstellen, wie ein Pfeil, der in ein Blätterdach fliegt, zerbrechen kann.“
„Außer, jemand hat ihn genommen und absichtlich zerbrochen“, flachste Macay.
Rall sah ihn sehr ernst an. „Genau. Das wollte ich damit sagen. Stellt euch neben mich.“
Rall mit dem halb gespannten Bogen in der Hand, Zzorg und Macay mit den Schwertern, stellten sich breitbeinig hin. Rall hob den Kopf und rief nach oben: „Versteckt euch nicht, ihr Feiglinge, zeigt euch. Und falls ihr kämpfen wollt: Wir sind bereit!“
Das Rascheln erstarb. Kein Laut war mehr in dem Wald zu hören.
„Los, kommt heraus!“, schrie Rall noch lauter, durch den Erfolg ermutigt. „So zeigt euch doch endlich!“
„Kein Grund zum Schreien. Ich bin schon da“, antwortete eine dünne, helle Stimme.
Macay wäre vor Schreck beinahe das Schwert aus der Hand gefallen, denn die Stimme erklang direkt hinter seinem Rücken - und zwar von unten. Er fuhr herum und starrte zu Boden. Da stand ein kleines, glatzköpfiges Männchen und grinste ihn an.
„Na, überrascht? Gut so.“
Die Spitze von Macays Kurzschwert zeigte ebenso auf das Männchen, wie die Pfeilspitze Ralls und das Schwert Zzorgs, das fast doppelt so lang war wie das bedrohte Wesen. Doch das Männchen blieb davon völlig unbeeindruckt.
„Was ist, wollt ihr nicht ‚Guten Tag‘ sagen, oder ‚Hallo‘ oder so etwas?“, fragte es. „Ach, so. Euch hat es vor Angst die Sprache verschlagen. Nun, auch gut. Stelle ich mich zuerst vor. Siplim ist mein Name. Ich wurde geschickt, um mit euch Kontakt aufzunehmen, was hiermit geschehen ist.“
Der Kleine musterte die drei mit überheblichem Blick, bevor er fortfuhr: „Da ihr ziemlich tollpatschig ausseht, kann ich euch vermutlich nicht in mein kleines Heim einladen auf eine Tasse Tautee. Aber das macht fast gar nichts, dann bleibt mehr Tee für mich übrig. Na, wie sieht es aus, habt ihr die Sprache wieder gefunden?“
„Hallo, Siplim“, sagte Macay. „Wer bist du?“
„Sieht man das nicht?“, fragte Siplim entrüstet und drehte sich dabei einmal um sich selbst, damit man ihn von allen Seiten betrachten konnte. „Ich bin ein Zwirg.“
„Ein Zwerg?“
„Nein. Ein Zwirg. Zwerge leben unter der Erde, Zwirge leben über der Erde. Zwerge sind so gut wie ausgestorben, Zwirge sind putzmunter wie die ..., nun ja, wie die Zwirge eben. Kapiert?“
„Du bist eine Waldfee“, grollte Zzorg. „Ich habe von eurem Volk gehört, aber die Gerüchte nicht geglaubt.“
„Oh, Mann, mit euch ist das aber schwierig“, protestierte Siplim. „Waldfeen sind groß und schön. Bin ich groß und schön? Nein, ich bin klein und schöner. Also bin ich ein Zwirg. Aber genug geredet. Ihr trampelt hier durch den Wald, als würde er euch gehören. Dabei bemerkt ihr gar nicht, dass euch ein paar von den ganz bösen Buben auf den Fersen sind. Los, mir nach!“
Siplim machte kehrt und rannte wieselflink davon.
Macay und seine beiden Freunde sahen sich an.
„Hinterher“, sagte Macay mit einiger Verzögerung. Sie rannten los.
Es war gar nicht so leicht, mit dem Kleinen Schritt zu halten. Er führte sie von ihrem ursprünglichen Weg ab Richtung Norden. Macay hatte den Eindruck, der Zwirg würde absichtlich im Zickzack rennen, um den Weg länger zu machen und zu sehen, wie den drei Großen hinter ihm langsam die Puste ausging. Schließlich blieb Siplim vor einem alten Baum mit besonders dickem Stamm stehen.
„Ja, in diesem Tempo hättet ihr eine Chance, euren Verfolgern zu entkommen. Aber ich merke schon, ihr seid eher gemütliche Leute. Fürs Davonlaufen seid ihr nicht geeignet.“
„Wir kämpfen lieber“, behauptete Zzorg.
Siplim prustete nur, als hätte er sich an etwas verschluckt.
„Wir haben keine Verfolger bemerkt“, fügte Macay hinzu. „Wer kann uns durch den Wald folgen, ohne unsere Spur zu verlieren?“
„Jäger mit Nachthunden, zum Beispiel.“
„Karolier?“ Rall wandte sich an Zzorg und Macay. „Nachthunde sind eine spezielle Rasse von Jagdhunden. Sie sind fast blind, haben aber einen einmaligen Geruchssinn. Die Jäger in den großen Wäldern Karoliens bedienen sich der Nachthunde.“
„Kannst du uns durch deine Paste vor ihnen schützen?“, fragte Macay. „So wie nach unserem Ausbruch aus dem Lager vor den Wolfshunden?“
„Ich könnte. Wenn ich Lassach und die anderen Zutaten hätte. Habe ich aber nicht. Hör zu, Siplim, ich kann mir nicht vorstellen, dass ein karolischer Jäger für die Kaiserlichen arbeitet.“
„Es gibt Menschen, die für Gold alles tun. Und genau so einer treibt schon seit Jahren sein Unwesen hier im Alten Wald. Sehr lästig, kann ich euch sagen. Er führt jetzt einen kleinen Trupp kaiserlicher Soldaten auf eurer Spur. Sie sind knapp zwei Stunden hinter euch. Ich wette, ihr hättet sie frühestens bemerkt, wenn ihr tot seid, was?“
Siplim rannte unversehens einmal um den dicken Baumstamm herum, bevor er rief: „Der dürfte für euch reichen, findet ihr nicht auch? Na, dann mal nichts wie los und rauf auf‘n Ast!“
Er packte die Borke des Baumes und zog mit äußerster Kraft daran. Nach einem Moment gab sie mit einem Ruck nach und Siplim purzelte davon. Er konnte kaum mehr aufstehen vor Lachen, so komisch fand er die Situation.
Macay blieb vor Überraschung der Mund offen stehen. Die Rinde des Baumes hatte sich wie eine Tür geöffnet und einen Schacht freigegeben, der in dem mächtigen Stamm nach oben führte. In regelmäßigen Abständen waren in seinem Inneren lange Stahlnägel eingeschlagen, die eine Treppe bildeten.
„Diese Zugänge zum Oberreich stammen noch aus der alten Zeit“, erklärte Siplim stolz. „Damals waren Menschen und Zwirge, nun ja, nicht befreundet, aber Partner. Wollt ihr noch lange hier stehen? Ich würde vorschlagen, ihr bequemt euch nach oben, damit ich die Tür hinter euch schließen kann. Na, los schon, Marsch-Marsch!“
Anstatt zu gehorchen, fragte Macay: „Wo führt dieser Aufstieg hin?“
„Sagte ich doch schon: ins Oberreich. Oben, verstehst du? Das Gegenteil von unten.“
„Gibt es noch mehr solcher Aufstiege im Alten Wald?“
„Dutzende. Aber ihr würdet sie nicht einmal erkennen, wenn ihr direkt davor steht.“ Siplim hüpfte auf und ab und wirkte zunehmend nervöser. Dann stand er still und lauschte.
„Könnt ihr die Nachthunde schon hören?“, fragte er, diesmal mit leiserer Stimme als bisher. „Nein? Also taub seid ihr auch. Das erklärt manches. Also: Ich zähle bis zehn. Wenn ihr dann nicht im Baum seid, mache ich den Eingang wieder zu und verschwinde. Ich möchte nämlich noch ein Weilchen leben. Eins, zwei, drei, ...“
Macay zögerte, weil Rall sich flüsternd mit Zzorg unterhielt.
„… vier, fünf, sechs, sieben ...“ Siplim kam ins Stocken und zählte die Finger an seinen Händen ab. „Äh, sieben. Genau. Acht. Und dann, ach, zum Teufel damit, rein mit euch!“
Er sprang unvermittelt zu Macay und kickte ihm gegen das Knie, so dass der vor Schmerz aufschrie und in den offenen Baum stolperte. Bevor sie reagieren konnten, hatten auch Zzorg und Rall ihre Tritte bekommen. Während sie noch schimpften und den flinken Siplim zu fassen versuchten, hörte Macay in der Ferne einen Hund bellen. Das entschied die Sache.
Als Macay sah, dass Siplim die Rindentür hinter ihnen schließen wollte, drehte er sich noch einmal um und fragte: „Du kommst nicht mit?“
„Es gibt schnellere Wege nach oben, wenn man so gewandt ist wie ich. Und tschüs!“ Damit schloss Siplim die Tür.
Im Baum war es dunkel. Macay tastete sich vorsichtig von Stufe zu Stufe, soll heißen, von Stahlnagel zu Stahlnagel. Da er nichts sah, musste er höllisch aufpassen, nicht abzustürzen.
Der Aufstieg dauerte lange. Macay schmerzten die Muskeln in den Beinen. Als er gerade fragen wollte, wie es Zzorg und Rall ging, ertönte direkt unter ihnen Hundegebell. Die Stimmen von Menschen waren zu hören. Macay konnte allerdings nichts verstehen.
Die drei im Baum hielten inne und warteten ab. Nach einer Weile entfernten sich die Stimmen.
„Wenn sie uns hier drin erwischen, haben wir keine Chance“, flüsterte Rall.
„Sie brauchen nicht einmal zu kämpfen“, zischte Zzorg. „Es reicht, wenn sie den Baum anzünden.“
„Klettern wir weiter“, empfahl Macay. „Ich kann mich nicht mehr lange halten. Irgendwann müssen wir ja oben ankommen.“
Kurz darauf erschien über ihm ein heller Fleck. Der erweiterte sich und Siplims Kopf erschien. „Habt ihr unterwegs ein Picknick gemacht und die Aussicht genossen, oder warum seid ihr immer noch nicht oben?“
Macay biss die Zähne zusammen und zwang seine schmerzenden Glieder, die letzten Meter zu überwinden. Erleichtert kletterte er schließlich durch ein Loch in der Baumrinde ins Freie.
Helles Licht begrüßte Macay, doch er stand nicht direkt unter freiem Himmel. Über ihm war ein von der Sonne durchschienenes Blätterdach, das so dicht war, dass er den blauen Himmel kaum an einer Stelle erkennen konnte. Unter ihm breiteten sich dunkel, wie eine feste Fläche, die Blätter des Baumes aus. Direkt vor ihm erstreckte sich ein sehr breiter Ast, der sich bei näherem Hinsehen als ein Brett entpuppte, das in die Blätterwelt hinaus führte.
„Geht es jetzt weiter?“, rief Rall von unten.
Macay trat hinaus auf das Brett, unsicher wegen der Tiefe links und rechts, die ihn zu verschlingen drohte. Normalerweise litt er nicht unter Höhenangst. Aber hier, wo sich der Boden und die Äste um ihn herum ständig leicht im Wind bewegten und nichts fest schien, war er doch unsicher. Zu allem Überfluss war Siplim wieder verschwunden.
Rall stellte sich neben Macay und sah sich um. Dann halfen sie Zzorg, der Probleme hatte, aus dem engen Loch herauszukommen.
„Jetzt sitzen wir auf diesem Ast. Schön. Und weiter?“, murrte Rall.
„Dort drüben“, sagte Macay und deutete in die Richtung. „Der Weg führt zum nächsten Baum. Siplim!“ Er rief mehrmals laut nach dem Zwirg, der sich aber nicht blicken ließ.
„Dann gehen wir eben den Weg entlang“, entschied Rall.
Während Rall keinerlei Probleme mit der Höhe hatte - ein Erbe seiner Katzenhaftigkeit -, balancierten Macay und Zzorg zaghaft auf den Brettern entlang.
Sie gelangten zum nächsten Baum, um dessen Stamm eine breite Plattform verlief. Hier setzten sie sich hin.
„Wir warten auf Siplim“, sagte Macay. „Er wird sich schon wieder melden.“
Es dauerte gut eine Stunde, bis der Zwirg unvermittelt vor ihnen auftauchte. „So habe ich es gerne“, rief er. „Ihr ruht euch aus, während wir die Arbeit machen.“
„Welche Arbeit?“, wollte Rall wissen.
„Eure Verfolger ablenken. Wir haben für die Hunde eine Spur gelegt, die fast bis zum Gebirge reicht.“
„In so kurzer Zeit?“
„Das war selbstverständlich alles vorbereitet“, erklärte Siplim lässig. „Schließlich sind wir vorausschauende Leute und denken nicht nur ans nächste Essen, wie gewisse andere Anwesende.“
„Schon verstanden“, sagte Macay beleidigt. „Wenn die Jäger weg sind, dann können wir ja zurück nach unten.“
„Nichts da! Glaubt ihr, wir retten euch nur, weil wir nichts Besseres zu tun haben?“
„Den Eindruck hatte ich“, grollte Zzorg, dem die lockere Art des Zwirgs auf die Nerven ging.
„Ach, der Herr Echserich hat auch eine Meinung?“ Siplim musterte Zzorg von unten herauf so überheblich, dass Macay lachen musste, was auch ihm einen bösen Blick des Zwirgs einbrachte. „So nett, wie ihr seid, sollte ich eigentlich jedem von euch einen Schubs geben, damit ihr so schnell wie möglich auf den Boden der Tatsachen zurückkehrt.“ Siplim zeigte über den Rand der Plattform hinaus. Dann seufzte er theatralisch. „Aber leider habe ich andere Anweisungen. Folgt mir, bevor ich es mir anders überlege.“
Er führte sie über einen Steg zum nächsten Baum und von dort aus weiter, bis sie in dem ewigen Grün um sich herum die Orientierung verloren hatten. Schließlich zeigte er auf eine besonders breite Plattform, die vor ihnen lag, und verkündete: „Hier ist Schluss! Weiter reichen die Wege für euch Trampelfüßler nicht.“
„Benutzt ihr Zwirge diese Pfade nicht?“, erkundigte sich Macay.
„Nein. Wir wandern auf allen Ebenen durchs Geäst. Schließlich ist das unserer Heimat. Warum sollten wir uns nur auf einigen befestigten Hölzern bewegen? Aber genug geplaudert, der Rat der Zwirge erwartet euch. Also reißt euch zusammen und hütet eure losen Zungen.“
„Wir?“, rief Macay entrüstet.
„Klar. Der Rat lässt vorlaute Bemerkungen nicht so leicht durchgehen, wie ich.“
„Na, schön, wir werden es versuchen. Und wo ist nun dieser Rat?“
„Hier“, sagte eine Stimme hinter ihm.
Macay fuhr herum. Hinter seinem Rücken waren drei Zwirge erschienen. Der erste saß rittlings auf einem Ast und ließ die Beine baumeln, der zweite lehnte lässig in einer Astgabel und kaute an einem Grashalm und der dritte, der gesprochen hatte, hockte auf den Fersen auf einem höheren Ast und starrte auf Macay herunter. Die drei sahen nicht sehr ehrfurchtgebietend aus, wenn auch ihre runzeligen Gesichter auf ein hohes Alter hindeuteten. Wie Siplim waren sie klein, glatzköpfig und grinsten überheblich. Ihre grünen Gewänder machten sie im Laubwerk fast unsichtbar.
„Ihr seid der Rat?“, fragte Macay verblüfft.
„Ja, klar. Was lässt dich daran zweifeln?“, fragte der Zwirg, der oben saß.
„Er denkt an einen Zwergenrat, wie im Märchen“, sagte der Zwirg, der in der Astgabel lehnte. „Alte, weise Zwerge mit langen Bärten, die goldbehängt und mit scharfen Äxten um einen Tisch sitzen, fässerweise Bier saufen und irgendwann betrunken übereinander herfallen, statt über den Feind.“
„Deshalb sind sie ja fast ausgestorben“, führte der dritte Zwirg weiter aus. „Aber wir sind keine Zwerge, wir haben keine Äxte und keine Bärte.“
„Drei alte Frauen mit Bärten würden ja auch merkwürdig aussehen, nicht wahr?“, kicherte der erste.
„Ich bin nicht alt“, protestierte der zweite.
„Aber du siehst so aus“, sagte der dritte Zwirg und wollte sich ausschütten vor Lachen.
Zzorg räusperte sich, was die Zwirge sofort zum Schweigen brachte. „Ihr seid also Frauen und bildet den Rat der Zwirge“, stellte er fest.
„Doppeltreffer!“ Die erste Zwirgin sprang auf und sagte zu den beiden anderen: „Ich habe euch doch gesagt, sie sind nicht so dumm, wie sie aussehen. Kaum hat man ihnen etwas drei Mal erzählt, schon können sie es nachplappern.“
Die anderen beiden klatschten Beifall. Doch nun wandten sie sich Siplim zu, der grinsend zugehört hatte: „Sag mal, Bengel, hast du nichts zu tun? Bring Essen für unsere Gäste. Und für uns, wenn du schon dabei bist. Das nennt man Gastfreundschaft. Aber plötzlich, verstanden?“
„Ja, hohe Herrin“, sagte Siplim und verschwand mit einem Satz im Geäst.
„Und nun zu uns. Wir sind Sila, Sirgit und Sibbli“, erklärte die Zwirgin.
„Und wer ist wer?“, wollte Macay wissen.
„Egal, ihr könnt uns eh nicht auseinanderhalten. Es ist lange her, seid es welchen von eurer Art gestattet war, uns zu besuchen.“
„Ich habe auch noch nie von eurem Volk gehört“, gestand Rall. „Haltet ihr euch nur hier im Alten Wald auf?“
„Wir sind überall und nirgends, das muss dir als Antwort genügen. Wir haben schon vor langer Zeit gelernt, dass es nicht gut ist, in die Angelegenheiten von euch Bodentrampeln verwickelt zu werden. Deswegen haben wir die Beziehungen abgebrochen und leben seitdem glücklich und zufrieden und vor allem ungestört in unserem Reich.“
„Was hat euch bewogen, uns trotzdem zu euch zu holen?“
„Der schiere Eigennutz.“ Die Zwirginnen kicherten alle drei. „Wir haben ein Problem und ihr sollt es lösen.“
Zzorg grollte, doch Macay sagte höflich: „Da ihr uns vor den Kaiserlichen und ihren Nachthunden in Sicherheit gebracht habt, stehen wir in eurer Schuld. Was können wir für euch tun?“
„Das, was ihr sowieso vorhabt - nur schneller und besser.“
„Was soll das heißen?“
„Was ich gesagt habe. Verstehst du meine Worte nicht?“
Siplim tauchte neben ihnen im Blattgewirr auf. Der Zwirg balancierte ein Tablett auf den Händen, auf dem Dutzende kleiner Schalen standen.
„Borkentee, Raupensalat und ein Parfait aus gezuckerten, jungen Eichenblättern“, sagte er. „Wohl bekomm‘s und vergesst das Trinkgeld nicht.“ Mit affenartiger Geschwindigkeit platzierte er die Schälchen vor den Gästen und den Zwirginnen. „Wünsche wohl zu speisen. Möge es euch im Halse, äh, gut tun. Noch weitere Befehle, werte Damen vom Rat?“
„Verschwinde!“, wurde er angeschnauzt. Beleidigt befolgte er diese Anweisung.
Während die drei Zwirginnen es sich schmecken ließen, warf Macay nur einen Blick in die Schalen und ließ dann die Finger davon. Seinen beiden Freunden erging es nicht anders.
„Kein Appetit?“, fragte eine der Rätinnen. Als Antwort erhielt sie nur Kopfschütteln. Schnell kamen alle drei Zwirginnen von ihren Plätzen, schnappten sich die Schalen ihrer Gäste und machten sich schmatzend darüber her.
„Lecker“, sagte schließlich Sibbli. „Wo waren wir stehengeblieben? Ach ja, ihr habt nicht verstanden, worum es eigentlich geht. Bei dem jungen Menschen ist das weiter nicht verwunderlich, dem hat es ja noch keiner gesagt. Aber ihr beide, Zzorg und Rall, wisst genau, was Sache ist. Ihr glaubt, in diesem Menschen einen Nachkommen der Alten gefunden zu haben, der euch Zutritt zum Herzen des Nebelkontinents verschaffen kann. Da seid ihr nicht die Einzigen, denn auch die Kaiserlichen vermuten das und sind deshalb hinter ihm her.“
„Halt den Mund!“, fuhr Rall sie an.
„Warum? Damit der junge Mensch nicht erfährt, wieso er in dieses Abenteuer verstrickt ist? Unsinn. Irgendwann müsst ihr es ihm sagen, also warum nicht jetzt? Selbst, wenn er so dumm ist, wie er aussieht, muss er inzwischen bemerkt haben, dass die Kaiserlichen sich nicht nur für ihn interessieren, weil er ein netter Kerl ist, oder? Sirgit, sag es ihm.“
„Moment mal, von was reden die?“, fragte Macay verblüfft den Katzmensch.
Sirgit übernahm es, ihm das klar zu machen. „Vor langer Zeit gab es nur die Alten Menschen auf dem Nebelkontinent. Die anderen Rassen existierten nicht und die anderen Kontinente der Welt waren unbesiedelt. Die Alten Menschen fühlten sich einsam und schufen sich Gefährten: die Echser und die Katzer, die Zwirge und noch viele andere, die längst ausgestorben sind. Diese Vielfalt an Lebewesen konnte zunächst nur auf dem Nebelkontinent existieren. Später entwickelten sich dessen Einwohner weiter und besiedelten auch die anderen Kontinente. Uns Zwirgen gelang das leider nicht. Es gibt nun gewisse Leute, die sich als direkte Nachkommen der Alten Menschen bezeichnen und daraus ihre Macht ableiten.“
„Der Kaiser und die Adeligen“, sagte Macay. „Man erzählt sich solche Geschichten auch bei uns.“
„Es sind nur Lügenmärchen. Sie wurden von den Alten Menschen geschaffen, so wie die anderen Rassen auch. Sie haben keinerlei Vorrecht, auch wenn sie so tun als ob. Leider sind sie eine extrem langlebige Rasse. Die Adeligen sind uralt, noch älter als die runzelige Sila dort drüben.“
„Lass die Scherze“, sagte Sila. „Das ist ernst. Nicht nur, dass die Adeligen regieren seit dem Verschwinden der Alten Menschen, es sind sogar dieselben. Sie sind nicht gestorben. Sie benötigen Lassach, um das Altern hinauszuzögern. Es ist ihnen bisher gelungen, so durch die Jahrhunderte zu kommen. Nun geht aber ihre Zeit langsam zu Ende. Deshalb hoffen sie, ins Herz des Nebelkontinents vordringen zu können und sich endgültig die Unsterblichkeit zu verschaffen. Das konnten sie bis jetzt aus zwei Gründen nicht: Sie können auf dem Nebelkontinent nicht leben und das Herz des Kontinents akzeptiert sie nicht als direkte Nachkommen der Alten Menschen.“
„In Heimstadt war ein Adeliger vom Kaiserlichen Kontinent“, warf Macay ein.
Das verschlug den drei geschwätzigen Zwirginnen für einen Moment die Sprache.
„Das ist eine schlechte Nachricht“, sagte schließlich Sila. „Berichte.“
Macay erzählte, was er wusste, und Rall steuerte seine Erfahrungen bei. Auch die Versprechen des Kaisers gegenüber den Menschen in Heimstadt kamen zur Sprache, insbesondere das Elixier, das angeblich jedem Menschen den freien Aufenthalt auf dem Nebelkontinent ermöglichte.
„Böse, böse“, sagte Sibbli schließlich. „Um so dringender ist es, dass ihr schnell und ohne weitere Hindernisse zur Ruinenstadt geht. Wir werden euch dabei helfen.“
„Ihr habt uns immer noch nicht gesagt, was euer Interesse daran ist“, warf Rall ein.
„Oh, stimmt. Eine Kleinigkeit nur. Der Alte Wald schrumpft. Langsam aber sicher. Und damit unser Lebensraum. Wenn ihr schon dabei seid, den Nebelkontinent zu retten, wie Helden das eben tun, dann könnt ihr gleich dafür sorgen, dass dieser Wald sich wieder ausbreitet. Legt im Herzen des Kontinents ein gutes Wort für uns ein.“
„Könnt ihr nicht auch in den anderen Wäldern leben?“, fragte Macay.
„Eine gute Frage für einen jungen Spund wie dich. Wie sollen wir das beantworten?“ Sila wandte sich Sirgit. „Mach du das.“
„Immer ich, wenn es peinlich wird. Nun gut, dann muss ich dir ein Geheimnis der Zwirge eröffnen. Nur ein kleines und unbedeutendes von den vielen, die unser Volk umgeben, versteht sich. Es ist nämlich so, dass es Zwirginnen und Zwirge gibt. Frauen und Männer, sozusagen, wenn du verstehst, was ich meine. Zweierlei von einem.“
„Das ist bei den Menschen genauso“, sagte Macay geduldig. „Und bei den Katzern und den Echsern ebenfalls.“
„Das behauptest du so einfach. Da gibt es aber ein gewisses Problem bei uns Zwirgen. Es ist unangenehm, davon zu reden.“
Rall wurde ungeduldig. „Heraus damit“, forderte er. „Was ist es?“
„Männer“, sagte Sirgit, als wäre es das Peinlichste von der Welt. „Es gibt zu wenige Männer. Viel zu wenige. Nicht, dass ihr jetzt glaubt, wir wären wählerisch oder unersättlich oder so etwas.“
„Wir alten Rätinnen sowieso nicht“, warf Sila ein.
„Jedenfalls, wir haben einen enormen Männermangel. So, jetzt ist es heraus. Wir können überall wohnen und uns vermehren, aber außerhalb des Alten Waldes werden immer nur Mädchen geboren.“
Sibbli ergänzte: „Was an sich eine gute Sache ist, würde es nicht zu einem Mangel an Männern führen. Wir sehen nur zwei Möglichkeiten, das zu ändern: Entweder gelingt es euch, im Herzen des Nebelkontinents zu erreichen, dass wir Zwirginnen überall auch Jungs zur Welt bringen können, oder aber ihr erreicht eine langsame Vergrößerung des Alten Waldes. Wir haben uns nach langer Diskussion ...“
„Etwa fünf Minuten“, warf Sila ein.
„... entschlossen, der Vergrößerung des Alten Waldes den Vorzug zu geben. Wenn jede Zwirgin plötzlich auch Jungs bekommen könnte, würde das zu einer Schwemme führen. Bald wären so viele Männer wie Frauen da. Unerträglich.“
„Obwohl es auch Vorteile hätte.“
„Schweig! Jedenfalls, das ist unser Angebot an euch: Wir bringen euch sicher bis in die Nähe der Ruinenstadt. Ihr dringt vor bis ins Herz des Nebelkontinents und sorgt dort dafür, dass der Alte Wald sich weiter ausbreitet. Einverstanden?“
Rall strich sich nachdenklich die langen Schnurrhaare. „Wie kommt ihr darauf, dass man im Herzen des Nebelkontinents einfach so die Grenzen des Alten Waldes verändern kann?“
„Wo sonst? Nun, was ist?“
Macay, Rall und Zzorg sahen sich an.
„Ja“, sagte Macay. „Wenn es sich machen lässt, werden wir es tun.“
„Hervorragend!“, riefen alle drei Zwirginnen zugleich. „Dann lasst uns feiern.“
„Sollten wir uns nicht so schnell wie möglich auf den Weg machen?“, fragte Macay verwundert.
„Ach, was. Wir Zwirge feiern jeden Abend. Das muss sein. Ihr seid eingeladen. Obwohl, abhauen könnt ihr ja ohnehin nicht, was?“
Mit ein paar schnellen Bewegungen und einem Rascheln der Blätter waren die drei Zwirginnen verschwunden.
Erst jetzt merkte Macay, dass es inzwischen Abend geworden war. In der Krone des Riesenbaums wurde es schnell dunkel.
Siplim erschien wieder neben ihnen. „Da ihr Schleckermäuler seid und selbst unseren besten Raupensalat verschmäht, haben wir alles zusammengetragen, was wir an menschlicher Kost auftreiben konnten. Bitte sehr!“
Er machte eine ausladende Bewegung und zwischen den Blättern hervor sprangen andere Zwirge, die gefüllte Bierkrüge, Brot und kalten Braten brachten.
„Widerlich“, behauptete Siplim, „aber jeder nach seiner Art, wie man so sagt. Macht es euch gemütlich. Unsere Feier beginnt demnächst.“
Die drei Freunde ließen sich das Abendessen schmecken und diskutierten über ihre seltsamen Gastgeber und deren Wünsche. Macay wollte Rall zur Rede stellen, doch der wich aus und versprach, später mehr über Macays Rolle zu sagen. „Wenn wir sicher sind, nicht von Zwirgen belauscht zu werden“, fügte er hinzu.
„Sie belauschen uns?“, fragte Macay verwundert. Er sah sich um, konnte aber im nun ziemlich dunklen Blätterwerk keine Zwirge entdecken.
„Vertrau deinen Ohren“, riet Rall.
Tatsächlich war rund um sie herum ein ständiges Rascheln zu hören. Als würden Hunderte von Zwirgen durch die Äste rennen und von Baum zu Baum springen.
Macay, Rall und Zzorg machten es sich auf der Plattform bequem und warteten auf den Beginn der angekündigten Feier. Kein Zwirg ließ sich mehr blicken. Dann begann der Gesang des Alten Waldes. Rund um sie herum ertönte er, intensiver, als sie ihn bisher erlebt hatten.
Es dauerte nur Minuten, da schliefen Macay und Rall tief und fest. Nur Zzorg blieb wach. Doch auch er wurde unsagbar müde. Der Gesang konnte nicht die Ursache dafür sein, das wusste er. Für einen Moment schoss ihm der Gedanke durch den Kopf, im Essen könnte ein Schlafmittel gewesen sein. Er kämpfte gegen die unnatürliche Müdigkeit an - und verlor.