Читать книгу Nur ich bin normal - Manuel Wagner - Страница 11
Eineiiger Zwilling
ОглавлениеWie wäre es eigentlich, wenn ich einen eineiigen Zwilling hätte? Würde ich mich in Gegenwart eines quasi identischen Ebenbildes wohlfühlen? Mein Spiegelbild macht mir jedenfalls keine Angst. Das liegt aber womöglich daran, dass es genau das tut, was ich tue, und zwar im selben Moment. Es ist berechenbar. Ein echter Zwilling wäre aus Fleisch und Blut, aber immerhin dürften mein eineiiger Zwilling und ich sehr ähnliche Interessen und Bedürfnisse haben, so dass wir uns gegenseitig sehr gut einschätzen könnten. Dadurch würden seine Handlungen für mich vorhersehbar sein und meine für ihn. Berechenbare Menschen sind für mich auf jeden Fall besser zu ertragen als unberechenbare.
Soziophob wäre mein Zwilling natürlich auch. Jedoch müssten wir aus den genannten Gründen keine Angst voreinander haben. Aber sicher ist das nicht. Denn, dass Verhalten und Interessen identisch sein müssen, ist nicht gesagt. Es reichen minimale Abweichungen in den Erlebnissen und Erfahrungen, die dazu führen können, dass sich die Interessen und Ansichten auseinanderentwickeln. Mein eineiiger Zwilling hat vielleicht ein traumatisches Erlebnis, weil er von einer brutalen tollwütigen Spitzmaus angefallen oder von Außerirdischen entführt wird. Schon weichen unsere Entwicklungen von einander ab. Aber selbst wenn mein eineiiger Zwilling und ich identische Interessen, Überzeugungen und Charakterzüge hätten, könnte gerade das zu schwerwiegenden Konflikten führen. Vielleicht ist es ja für eine günstige soziale Beziehung notwendig, dass sich die Interessen ergänzen? Womöglich geraten wir ständig in Streit, weil wir immer dasselbe wollen, aber nicht genug für beide vorhanden ist. Das wiederum führt zu unausweichlichen Kämpfen, die keiner von uns gewinnen kann, weil wir als eineiige Zwillinge gleich stark sind. Selbst wenn wir beide die Kämpfe überleben, werden wir schlussendlich unseren Verletzungen erliegen, wenn nicht ein dummer Zufall zumindest einen von uns rettet.
Andererseits bietet sich natürlich die Chance mit meinem Zwilling, eine nach außen soziophobe und nach innen soziale Symbiose einzugehen, die andere Menschen überflüssig werden lässt. Wir könnten als ein Wesen fungieren. Aufgaben des Alltags, für die zwei Hände zu wenig sind, könnten wir gemeinsam meistern. Von der Soziomanie wären wir nicht betroffen, da wir schließlich keine soziale Gruppe bilden. Es würde eine Person bestehend aus zwei Körpern sein. Theoretisch könnten wir so unser Soziogenie perfektionieren und müssten keine unerträglichen Sozialbindungen eingehen, weil wir einander genügten. Zumindest könnten wir die Lasten, die das soziale Gefüge um uns herum mit sich bringt, minimieren und den Versuchungen von sozialer Manie entgehen. Ich denke, dass die Gefahr krank zu werden deutlich sinken würde. Ich bräuchte weniger Kontakt zu soziomanen Menschen haben und könnte mich dadurch wesentlich weniger leicht mit Soziomanie infizieren. Auch das Gefühl, diese Sozialsucht nachahmen zu müssen, obwohl ich es weder richtig kann noch will, würde durch mein ständig präsentes Ebenbild deutlich gemindert.
Vielleicht finde ich eines Tages ein Ebenbild von mir. Vielleicht wurden wir bei der Geburt getrennt. Vielleicht war ich nicht immer allein. Nein es ist nicht die Einsamkeit, die mein Leben so schwierig macht. Einsamkeit ist gut, sehr gut sogar. Es ist die Hilflosigkeit, die das Alleinesein so anstrengend macht und niemanden zu haben, der mich verstehen kann. Ich sehne mich nach Schutz vor all den Bekloppten da draußen und ich möchte endlich aufhören, mit ihnen interagieren zu müssen. Zwilling, bist du da? Bitte sei da! Ich brauche dich.