Читать книгу Nur ich bin normal - Manuel Wagner - Страница 14
Kopfschütteln
ОглавлениеIch hab eine Kopfverletzung und sitze deswegen beim Arzt, diesmal bei einem richtigen Arzt. Sowohl der Raum als auch der Arzt wirken einladend. Abgesehen von marginalen Kopfschmerzen und leichtem Schwindel fühle ich mich wohl. Der Gesichtsausdruck des Kinderneurologen wirkt ein wenig dümmlich. Na ja, wenn man den ganzen Tag mit Kindern zu tun hat, dann ist das wohl so. Sozialsüchtige werden ja immer ein bisschen so, wie die Menschen, mit denen sie zu tun haben. Das macht die Situation aber nicht unbehaglich. Im Gegenteil, ich fühle mich verstanden und akzeptiert. Ich habe absolut keine Angst vor ihm. Das ist ungewohnt. Ich brauche den Arzt ja auch. Er macht mich gesund. Er wird dafür sorgen, dass es mir bald besser geht. Ich mache mir zu viele Gedanken. Das ist immer so, wenn ich nervös bin. Ich glaube, ich zittere gerade.
»Wie ist das passiert?« Seine klare Stimme ist beruhigend. Hat er sie extra für die Ansprache von Kindern trainiert? Ich mag nicht manipuliert werden. Aber es funktioniert dennoch.
»Ich habe den Kopf geschüttelt.«
»Wie? Du hast den Kopf geschüttelt?«
»Oft beobachte ich meine Mitschüler, finde sie total doof und dann schüttle ich den Kopf. Das ist ... ähm ... ein Reflex und das mache ich ständig. Sie zwingen mich durch ihr absurdes Verhalten dazu.« Normalerweise würde ich meine Eigenartigkeiten nicht zugeben, aber es tut gerade gut, sich verstanden zu fühlen oder das zumindest zu glauben, auch wenn es nur Selbstbetrug sein sollte.
»Das bekommt man aber nicht bloß vom Kopfschütteln ...«
»Ok gut ... ich bin dabei wohl auch gestürzt.«
Der Arzt untersucht mich und ich hatte wohl nochmal Glück. »Scheint ja nicht so schlimm zu sein, aber sei doch mal aufgeschlossener und versuche deine Mitschüler zu verstehen, dann passiert so etwas nicht und dir wird es auch sonst besser gehen.«
Ich ignoriere das, auch wenn ich seine Stimme mag und es mir schwerfällt, nicht auf sie zu hören. Es schmerzt gerade zu, nicht auf sie hören zu können. »Sei doch mal aufgeschlossen!« Das habe ich schon mal gehört und ich habe mir schon Gedanken darüber gemacht, ob es mir tatsächlich an Aufgeschlossenheit fehlt. Nachdenken, Nachschlagen und Wissen helfen gegen verführerische Stimmen, die gut gemeinte Ratschläge erteilen. Es wird Zeit, dass ich hier für Aufklärung sorge:
Aufgeschlossenheit gehört zu den wichtigsten Tugenden heutzutage. Eigentlich halte ich mich für aufgeschlossen oder besser gesagt für aufgeschlossen genug. Aber sind die Soziomanen, die diese Aufgeschlossenheit propagieren, selbst aufgeschlossen genug? Kommen wir zuerst zum Wort »Aufgeschlossen«: Wenn ich an Gegenstände denke, dann würde ich etwas als aufgeschlossen beschreiben, was eigentlich die meiste Zeit verschlossen ist und das man nur gelegentlich öffnet. Ich denke dabei an eine Süßigkeitenkiste, wo man seine Eltern um Erlaubnis fragen muss, dass man sie öffnen darf. Doch meistens ist sie verschlossen und seltener aufgeschlossen. Auf jeden Fall besitzt etwas Aufgeschlossenes ein Schloss zum Schließen und Öffnen. Ich finde, das beschreibt den Umgang mit Aufgeschlossenheit bei den Sozialsüchtigen sehr gut. Denn aufgeschlossen sind sie nur, wenn sie ohne Einfluss ihrer geliebten sozialen Gruppe sind, denn ohne sie haben sie keine vorgefertigte Meinung und ohne die Gruppe fehlt es ihnen an Schubladen, in die sie andere stecken können. Ansonsten sind sie verschlossen und können nur denken, was ihnen vorgedacht wird. Das in der Gruppe Vorgedachte dient dazu, sich von anderen abzugrenzen, um sich besser zu fühlen. Sie lästern über Abwesende, sie machen sie klein, um selbst groß zu erscheinen. Sie empfinden alles, was außerhalb der Überzeugungen ihrer sozialen Gruppe ist, als Störfaktor. Unter Einheimischen gilt ein Migrant als zu lösendes Problem. Migranten als Gruppe glauben, sie wären aufgeschlossen und die Einheimischen würden sie bei jeder Gelegenheit diskriminieren. Echte Aufgeschlossenheit kann bei Soziomanen nur auftreten, wenn sie sich gerade keiner Gruppe zugeordnet fühlen. Sonst existiert Aufgeschlossenheit bei Soziomanen nicht wirklich. Trotzdem glauben die meisten Gruppen, ausgerechnet sie wären aufgeschlossen.
Ich hingegen wirke ich auf viele Menschen geradezu verbohrt, weil ich mich keinen Gruppen unterordne und darüber hinaus nicht in der Lage bin Interesse zu heucheln. Lügen ist ja bekanntlich eine soziale Eigenschaft und ich kann nicht lügen. Aufgeschlossenheit ist in einer sozialsüchtigen Welt keine Tugend, weil man sich nur sozialen Dummheiten gegenüber aufgeschlossen zeigen würde. Warum soll ich mich zum Beispiel für sinnfreie Gesellschaftsspiele aufgeschlossen zeigen? Die Sozialsucht müsste wie einst die Pest verschwinden, damit echte Aufgeschlossenheit gegenüber sinnvollen Dingen wie Wissenschaft gefördert werden. Momentan sind für mich nur Pathologisierung der Sozialsüchtigen und persönliche Verschlossenheit eine Option und damit die besten Tugenden für mich. Falsche Aufgeschlossenheit und Nähe zu den Sozialsüchtigen machen mich depressiv, denn ich empfinde bei der Erforschung und Beobachtung dieser Menschen einen Gefühlsmix aus Mitleid und Abscheu. Dennoch bin ich gegenüber der richtigen Sache grundsätzlich aufgeschlossen, aufgeschlossen genug, denn eines Tages wird die Welt eine andere sein und bis dahin darf ich meine Aufgeschlossenheit nicht verlernt haben.
»Du warst tapfer. Diesen Lutscher hast du dir verdient!« Die Untersuchung ist beendet. Der Arzt hält mir einen Lutscher hin, so als wäre ich ein normales Kind.
»Lassen Sie stecken. Ich kenne alle Forschungen zu Zucker, Karies, Diabetes, Glykation und vorzeitiger Alterung. Ich lasse mich nicht vergiften!« Ich stehe auf, schüttle den Kopf und falle um. Der Arzt fängt mich auf.
»Das solltest du vorerst vielleicht unterlassen. In einer Woche kannst du wieder deinen Kopf schütteln über die schlechte Welt, die dich nur vergiften will.«
Meinte er das ironisch oder hat er mich tatsächlich verstanden?