Читать книгу Nur ich bin normal - Manuel Wagner - Страница 8
Kein Todesstern
ОглавлениеWas für eine himmelschreiende Ungerechtigkeit. Die Tränen kullern nur so über meine Wangen und durchnässen mein T-Shirt. Ich kann meinen Gefühlsausbruch erst nicht verstehen. Lange muss ich darüber nachdenken, wieso ich weine. Während ich mit meinen mehr und mehr durchnässten Sachen von der Grundschule nach Hause gehe, wird eine Frau auf mich aufmerksam. Sie trägt ein Kleid mit riesigen roten Punkten. Ihr Lippenstift ist ebenfalls rot und ihre Haare sind blond gelockt. Sie sieht aus wie eine Fünfzigerjahre Hausfrau aus einer Werbung für Waschmittel und genauso angenehm riecht sie auch. Trotzdem hasse ich, was sie gleich tun wird. Warum interessiert sie sich für mich? Menschen weinen doch immer wieder. Es ist nichts Besonderes zu weinen und meistens ist es auch völlig grundlos. Für mich erweist sich das Weinen in diesem Moment als gefährlich, denn womöglich habe ich die Aufmerksamkeit einer Irren auf mich gelenkt.
»Hast du Fünfen im Zeugnis?«
Ich sehe sie entsetzt an. Meine Trauer schlägt um in Wut. Wie kann sie es wagen, mich anzusprechen und wieso denkt sie, dass mein Gefühlsausbruch irgendetwas mit meinem Zeugnis zu tun hat. Woher weiß sie überhaupt, dass ich heute ein Zeugnis bekommen habe? Ach ja, man weiß wohl, wann es Zeugnisse gibt, auch wenn man kein Schüler ist. Haben meine Ausflüsse aus Augen und Nase in Kombination mit dem krampfartigen Zusammenpressen meiner Lippen und den unwillkürlichen, hochfrequenten Geräuschen aus meinem Hals etwa mit meinem Zeugnis zu tun? Während ich darüber nachdenke, erwidere ich wohl unglaubwürdig forsch:
»Nein!«
Eine Fünf? Was für eine unverschämte Unterstellung. Jetzt erlaubt sie sich auch noch, mich zu beurteilen, mich zu bewerten, mir einen Stempel aufzudrücken, meinen persönlichen Wert als Mensch festzustellen?
»Wieso weinst du denn dann?«
Seltsam, jetzt weiß ich wieder, warum ich weine. Ich habe eine Zwei. Es liegt tatsächlich an meinem Zeugnis. Ich muss der Frau ein wenig dankbar sein, da sie mich auf diese Idee gebracht hat. Dennoch wäre es mir lieber, nicht mit ihr reden zu müssen. Aber als Dank gebe ich ihr mit zitternder Stimme eine Antwort:
»Ich ... ich ... i ... ich ... habe ... ha ... habe eine Zwei ... eine Zwei in Werken.«
Die Frau sieht mich entgeistert an und sagt erst mal nichts. Sie scheint mich nicht zu verstehen. Weiß sie denn nicht, dass das bedeutet, unfähig zu sein? Mir ist das jedenfalls mit dieser Zwei ziemlich klar gemacht worden.
Meine Hände sind zu nichts zu gebrauchen. Ich werde mit meinen eigenen Händen keinen Todesstern bauen können und ich hätte gern einen gebaut. So eine Kugel aus Stahl um mich herum, würde mich vor den Menschen beschützen. Sie wäre genau das Richtige für mich gewesen. Hierhin hätte ich mich zurückziehen können und jeder der versucht hätte, mich zu holen, wäre von einem vernichtenden Laser getroffen worden. Aber so ist es nicht und so wird es offenbar auch niemals sein.
Ich stehe schutzlos auf dem Bürgersteig und bin dem Mitleid der gepunkteten Frau ausgeliefert.
Auch wenn mir das nicht gefällt, sie meint es nur gut, wie sie da steht und sagt:
»Eine Zwei ist nicht schlimm, denn sie bedeutet, dass du gut werken kannst.« Irritierenderweise lacht sie dabei. Es ist ein erleichtertes Lachen. Die gepunktete Frau ist erleichtert. Ich hingegen bin erschüttert. Offensichtlich weiß sie nicht, wie an einer Grundschule benotet wird. Die Guten bekommen eine Eins und die Schlechten bekommen eine Zwei. Dreien, Vieren, Fünfen oder gar Sechsen gibt es so gut wie niemals. Grundschullehrkräfte sind in ihrer Bewertung sehr eigen. Zumindest denke ich das. Ich weiß eigentlich nicht, was die anderen für Noten haben, denn ich weiche ihnen aus, so gut ich kann. Leicht ist das nicht, denn im Klassenraum sind fast 30 Menschen dauerhaft zusammengepfercht. Gern hätte ich stattdessen die schon erwähnte Stahlkugel um mich herum, dann könnte ich mich dem sozialen Irrsinn komplett entziehen.
Da die Menschen in der Schule sozial abhängig sind, läuft dort nämlich ständig die Show der Selbstdarsteller. Beinahe jeder versucht, irgendeinen der anderen im Raum zu beeindrucken. Die Streber wollen ständig Lob von den Lehrern, die Idioten reißen die Aufmerksamkeit von allen an sich, indem sie permanent nerven und selbst die, die so tun als ob ihnen alles egal wäre, erwische ich dabei, wie sie die Bewunderung genießen, die ihnen andere dafür zu Teil werden lassen. Selten weiß ich während dieses Affentheaters, wer mit dem gerade aktuellen so genannten »Trend« begonnen hat. Welcher idiotische Diktator hat zum Beispiel bestimmt, dass man an seinem Geburtstag in der Schule »Geburtstagskloppe« bekommt. Dabei wird einem pro vollendetem Lebensjahr von jedem beliebigen Schüler ein fester Schlag auf den Oberarm erteilt. Als ob es nicht schon schlimm genug wäre, dass man an dem Tag im Mittelpunkt stehen muss. Man bekommt schon am Morgen Geschenke, über die man sich zu freuen hat. Man muss für den Nachmittag Mitmenschen einladen, die einem dann alle die Hand schütteln oder schlimmer noch einen Umarmen oder gar küssen. Da kann ich ja gleich am Toilettendeckel an der Autobahnraststätte lecken. Das ist doch nicht normal. Als ob das eigene Leben nur dafür da wäre, die anderen zu unterhalten. Wer normal und gesund ist, interessiert sich nicht für die Anderen. Wenn es um die Schrift geht, kommt es darauf an, dass ich es lesen kann und nicht die dumme Lehrerin, die kann sich doch selbst was aufschreiben, wenn sie was zum Lesen braucht. Im Werken muss ich mein Vogelhaus nicht mit dem der anderen vergleichen, sondern wenn überhaupt dann muss es den Vögeln gefallen. Dieses fette Grinsen der angeblich handwerklich so begabten, wenn sie eine Eins bekommen, ist nichts weiter als die hässliche Grimasse der Sucht nach sozialer Anerkennung. Ohne diese Anerkennung würde diesen Menschen plötzlich bewusst, dass sie keine Persönlichkeit, keine eigenen Interessen, kein Selbstbewusstsein haben. Wie eingesperrte Raubtiere im viel zu engen Käfig, würden sie den ganzen Tag apathisch hin - und her wippen. Aber dann wären sie mit den Gedanken wenigstens mal bei sich und hätten eine Chance ihr Ich zu finden. Zum Glück sind jetzt Ferien und ich muss mich eine Weile nicht mit den Irren aus dem Klassenzimmer befassen. Meine Tränen sind getrocknet und ich schlurfe nun etwas erleichtert nach Hause.