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Beim Psychologen

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Ich habe ein ungutes Gefühl. Ich sitze gezwungenermaßen im Auto auf dem Weg zum Psychologen. Da mir Menschen grundsätzlich nicht wohl gesonnen sind, erwarte ich Schlimmstes. Ich habe bisher keine Erfahrungen mit Psychologen gesammelt. Meine Mutter hingegen denkt, dass es an der Zeit ist, meine Persönlichkeit zu verändern, mir meine Soziophobie auszutreiben, da ich damit immer wieder in Schwierigkeiten komme und sie wohl auch der Meinung ist, dass ich merkwürdig bin, ein Mensch, den es zu heilen gilt, einer der geisteskrank ist.

Während der Autofahrt versuche ich ihr gebetsmühlenartig, klar zu machen, dass alle Psychologen psychisch gestört sind. Der Grund, wieso Psychologen Psychologen werden, liegt darin, dass sie geisteskrank sind und sich selbst diagnostizieren möchten, damit es kein anderer macht. Man wird also nur Psychologe, um sich vor Verurteilungen durch andere zu schützen. Obwohl meine Argumentation mit der Zeit immer ausgereifter wird, werde ich ignoriert. Es gibt absolut keine Reaktion, so als wäre mein Ich bereits ausgelöscht. Mein Ich diese zarte, kaum wahrnehmbare Fluktuation im Kosmos, die so unwichtig erscheint und doch alles für mich bedeutet. Es ist jeden Rettungsversuch wert, denn es geht schließlich um meine Existenz. Menschen wollen mich vernichten und keiner fragt mich, was ich davon halte. Ich sehne mich nach dem Prügeln meiner Schulkollegen zurück, immerhin ist das eine vorhersehbare Konstante in meinem Leben. Die wollen mich wenigstens nicht krank machen, sie wollen mich nur körperlich umbringen. Mein Argumentieren geht also weiter. Erst als wir anhalten, verstumme ich, vielleicht für immer.

Beim Psychologen angekommen will der Pseudoarzt mit mir sofort alleine sein. Er hat in dem Telefongespräch mit meiner Mutter schon eine Menge über mich erfahren und weiß deshalb offensichtlich wie er mit mir umgehen muss. Für mich ist der Psychologe auf jeden Fall eine riesige, bedrohliche Person, die nur vorspielt mir helfen zu wollen. Ich will nicht mit ihm kommunizieren, darum sehe ich ihn missgünstig und skeptisch an. Er soll wissen, dass ich nicht bereit bin zu kooperieren. Was dann passiert, habe ich nicht erwartet. Er setzt mich vor einen Bildschirm an eine Konsole. Scheinbar weiß er, dass ich Spiele innerhalb kontrollierbarer Computerwelten liebe und auf diese Weise der Realität entfliehe. Genau genommen entfliehe ich nicht der Realität, sondern verlasse nur das gesellschaftlich anerkannte Trugbild sozialer Verflechtungen. Für mich ist dieser gefährliche Dschungel aus Verboten, Geboten und angeblichen Gefälligkeiten eine unzumutbare Welt, in der ich nicht überleben kann. Meine Hauptaufgabe in dieser Welt ist es, ihr zu entfliehen um in einer wirklich guten Realität leben zu können. Ich meine eine Welt, in der sich Soziophobe zu Hause fühlen. Der Psychologe versucht, mein Vertrauen zu gewinnen, indem er mir ein Spiel anbietet, dass erst ab 18 Jahren gespielt werden darf. Ich empfinde das Vorgehen des Psychologen als überraschend und sehr fortschrittlich. Er hat es bereits jetzt geschafft, dass ich ihn für etwas kompetenter und sympathischer halte als zuvor.

Grundsätzlich halte ich es nämlich für falsch, Kultur in altersgemäß und nicht altersgemäß zu unterteilen und so Kindern wichtige Informationen vorzuenthalten. Es ist Fakt, dass vor allem die heile Welt, die Kinder vorgelebt bekommen, diese krank macht. Denn früher oder später wird ihnen klar, dass eine Zuckerwattewelt nicht existiert und die echte Welt grausam ist. Dieses Lügen und Verschweigen erzeugt in der Folge unheilbare Traumata. Es würde mich nicht wundern, wenn Kinder ihre Eltern für das Unrecht des Verschweigens von Sex, Gewalt und Tod später verurteilen. Lügen und Verschweigen sind kein Schutz, sondern ungerechtfertigte Zensur. Dieser Psychologe hat das offenbar verstanden. Ich bin mir allerdings nicht sicher, ob es sich bei diesem ungewöhnlichen Spiel um ein populäres Computerspiel handelt oder um ein eigens für Psychologen entwickeltes Spiel. Ich kenne dieses Spiel nicht. Während ich auf der Konsole zocke, stellt der Psychologe Fragen. Es ist unglaublich, wie sehr mich das Spiel manipuliert. Während ich spiele, ist es für mich wirklich einfach, ihm zu antworten, weil mich das Spiel ausreichend von seiner Person ablenkt, jedoch nicht so sehr in den Bann zieht, dass ich seinen Fragen nicht folgen kann. Ich komme auch nicht auf die Idee zu lügen.

»Kennst du das Spiel?«

Ich antworte natürlich mit nein. Ich überlege aber, ob das die richtige Antwort war, denn wenn es ein populäres Spiel ist, dann sollte ich es kennen, außer ich hätte keine Freunde und deshalb hält er mich jetzt sicher für krank. Jeder Neunjährige spielt solche Spiele, um cool zu sein und bei anderen Eindruck zu schinden. Wenn es aber ein nur für Psychologen programmiertes Spiel ist, dann könnte diese Frage eine Art Lügendetektortest gewesen sein, weil ich es dann unmöglich kennen kann.

Der Psychologe fragt mich weiter perfide aus, während ich spiele: »Um was geht es bei dem Spiel?«

Och menno, muss ich das jetzt wirklich vor einem Erwachsenen kundtun ... Ich antworte zögerlich: »Man muss Frauen vergewaltigen und sie ausrauben.«

»Und wie findest du das?«

Ich überlege kurz und denke, dass es bestimmt nicht schadet ein wenig witzig zu sein. »Ich empfinde es als antifeministisch, dass nicht auch Männer vergewaltigt und ausgeraubt werden.« Ich gucke kurz und unauffällig vom Spiel zu ihm rüber und sehe seinen entsetzten Blick. Wenn Blicke sprechen könnten, dann würden sie in dem Fall fragen: »Wo ist die Zwangsjacke?« Ich notiere in meinem Kopf, dass Humor nicht überall angebracht ist. Es hindert mich daran, weiter lustig sein zu wollen und so etwas zu sagen wie: Das Spiel besitzt im wahrsten Sinne des Wortes eine fesselnde Handlung und zeigt penetrierende Tiefe. Es schüchtert mich außerdem ein, im Hintergrund seinen wütend kratzenden Stift über seinen Notizzettel schaben zu hören. Ich konzentriere mich wieder auf das Spiel, um mich zu beruhigen.

Jetzt wird der Psychologe auf einmal konfrontativer und persönlicher: »Was hältst du von mir?«

»Na ja, sie sind ein Mensch, der glaubt, mich beurteilen zu können. Sie machen mir Angst. Ich hasse sie.« Ich glaube auch, das war jetzt keine besonders gute Antwort. Jetzt will er mich bestimmt einweisen. Ich will in mein grausames, aber vielleicht irgendwann beherrschbares Leben zurück.

»Ich bin doch niemand, der dich beurteilen will. Ich bin da, um dir zu helfen«, lügt der unbarmherzige Riese dreist.

Ich lasse noch weitere, mir aber recht belanglos erscheinende Fragen über mich ergehen. Sie dienen offenbar alle meiner Beurteilung. Es geht halt darum, was ich von anderen Menschen halte, wie ich mich unter Menschen fühle, wie ich mich in bestimmten Situationen gegenüber anderen Menschen verhalte und auch auf die Prügel spricht er mich an. Dabei zeigt er auf meine Narben und andere Kampfspuren.

Die ganze Fragerei kommt mir endlos vor und mit der Zeit kann ich mich in die Frauen im Spiel immer besser reinversetzen. Ich glaube, keine Antwort hat ihn davon überzeugt, dass ich gesund bin und stattdessen alle anderen krank sind. Ihm ist es wahrscheinlich egal, dass ich doch einfach nur ungestört leben möchte, wie ich es für richtig halte und wie es objektiv richtig für alle wäre.

Zum Schluss schaltet er die Konsole ab, worauf ich etwas unbeherrscht reagiere: »Hey, ich hab die Frau noch nicht fertig vergewaltigt.« Ich bin selbst ein bisschen erschrocken vor dem Satz, aber ich mag es nun mal nicht mitten in einer Sache aufzuhören. Ich denke nicht, dass das besonders irre ist. Ich fürchte, der Psychoriese sieht das anders.

Schließlich bittet er mich raus. Ich soll warten. Er holt meine Mutter währenddessen rein, um ihr seine Diagnose über mich mitzuteilen. Ich lausche an der Tür, damit ich höre, was für mich nach diesem Verhör folgen wird. Ich ahne Schreckliches. Lauschen kann ich übrigens sehr gut. Das ist lebensnotwendig, wenn man von keinem gemocht wird. So kann man zumindest einigen der geplanten Peinigungen aus dem Weg gehen. Ich fange an zu weinen. Ich höre alle möglichen Verleumdungen und Herabsetzungen meiner Person. Er hält mich für einen Soziopathen, sogar für einen Menschen, vor dem man andere schützen muss. Es bestünde die Gefahr, dass mein Verhalten eskaliert und ich mangels Einfühlungsvermögen meinen Mitmenschen ernsthaft schaden könnte. Ich soll deshalb für unbestimmte Zeit in eine Klinik. Er weist meine Mutter darauf hin, dass ich keine einzige Frage adäquat beantwortet habe. Plötzlich scheint das Gespräch beendet zu sein.

Meine Mutter stürmt erbost aus dem Besprechungszimmer. Sie beachtet mein verheultes Gesicht nicht und zieht mich grob mit sich. »Du hattest recht. Der hat sie doch nicht alle. Er lässt dich ein Spiel spielen, wo man Frauen vergewaltigt ... so etwas sollte überhaupt niemand spielen.« Sie zerrt mich hinaus und schlägt die Tür hinter sich zu. Ich bin verwirrt.

Nur ich bin normal

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