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Burnout in der Kuschelecke
ОглавлениеDas dumpfe Krachen amüsiert mich, deshalb schlage ich mit meiner Schaufel immer wieder auf den Kopf von Lisa. »Warum schreit die jetzt?«, frage ich mich. Das stört mich, also fange ich auch an zu weinen. Eine Riesin kommt angerannt, reißt mich aus dem Sandkasten und setzt mich auf eine Treppenstufe abseits der Anderen. Ich bin glücklich. So einfach ist das also, Zeit für sich zu bekommen. Voller Freude trommle ich mit den Händen auf meinen Schenkeln. Verdammt, damit gerate ich wieder in den Fokus der Riesin. Sie kniet sich vor mich, so dass ich ihr Gesicht sehen kann.
»Du darfst die Lisa nicht schlagen. Das tut ihr weh.«
Das wiederum macht mich traurig. Toll, wieder eine Sache, die ich nicht darf. Wie alles was ich nicht darf, hat es wieder mit den anderen zu tun. Zu Hause lässt mich die Oberriesin nicht allein aus dem Haus, denn draußen laufen böse Menschen herum. Auch wenn mich Gleichaltrige faszinieren, nehme ich mir fest vor, mich von ihnen fernzuhalten. Ich will nicht schon wieder etwas falsch machen. Die Riesen will ich sowieso nicht erzürnen, denn sie erscheinen mir zu mächtig. Sie können mich jederzeit hintragen wo sie wollen, aber sie sorgen auch für Essen, Trinken und haben die Oberaufsicht über das Spielzeug. Ihre Macht finde ich unheimlich.
Anders als zu Hause sind die Riesen im Kindergarten nicht in der Überzahl. Mal abgesehen vom Schaufel-Lisa-Vorfall geht es mir mit anderen Kindern gut. Zusammen mit ihnen wähne ich mich in einer perfekten Utopie. Im Kindergarten spielt es keine Rolle, ob jemand reich, arm, hellhäutig, dunkelhäutig, dick, dünn, schlau, langsam oder schnell ist. Im Spiel sind wir alle gleich. Wir bauen und zerstören, wir hauen und vertragen uns, wir teilen, wir nehmen alles in den Mund, wenn keiner hinsieht, wir fallen hin, wir stehen wieder auf, wir helfen, wir träumen, wir lachen und wir heulen. Distinktion ist für uns weniger als ein Fremdwort, sie ist bedeutungslos. Jeder darf er selbst sein und doch braucht er sich nicht von anderen abzugrenzen, denn Status ist nicht wichtig. Wir sind alle unschuldig. Nichts soll sich ändern. Ich beschließe so zu bleiben, wie ich bin, aber ich ahne schon, dass sich trotzdem alles ändern wird.
Seltsam finde ich, dass die anderen Kinder den Riesen gegenüber weniger skeptisch auftreten, als ich es tue. Sie freuen sich geradezu überschwänglich über das häufig für völlig sinnlose Tätigkeiten erteilte Lob. Da schmiert doch die Lisa bunte Kringel mit den Fettstiften auf ein Blatt Papier und wird dafür von den Riesen gehypt, als wäre sie der neue Andy Warhol. Lisa freut sich darüber, denn sie versteht offensichtlich nicht, was für eine perfide Manipulation hinter jedem Lob steckt. Damit wollen sie uns kleine Leute dazu bringen, immer mehr und immer schönere Kringel für sie zu zeichnen, und zwar so lange bis wir mit einem Burnout in der Kuschelecke liegen. Doch das ist noch nicht das Schlimmste, denn dieses teuflische Lob führt außerdem zur Distinktion. Lisa lernt aus dem Lob, dass Menschen, die zeichnen können, stärker erwünscht sind als Menschen, die nicht zeichnen können. Sie soll nicht denken, dass mir nicht aufgefallen wäre, wie abschätzig sie mich angesehen hat, als sie meine unstrukturierten, gezackten, schwarzen Linien gesehen hat. Der Umstand, dass ich angeblich nicht zeichnen kann, wird von den Riesen sogar ausgenutzt, mich bisweilen zu den kleineren Kindern in eine andere Gruppe zu bringen. Das ist ein weiterer Versuch der sozialen Manipulation, möglicherweise brauchen sie mehr perfekte Bilder, die sie dann meistbietend verkaufen können. Es könnte auch ein Weg sein, meinen Willen zu brechen, denn sie haben sicher gemerkt, dass ich mittlerweile ihr Feind geworden bin. Ein mächtiger Feind, der gegen die soziale Manipulation, faschistoide Hierarchien und für eine egalitäre Gesellschaft kämpft. Ich muss dazu sagen, ich habe meinen Kampf gemeinsam mit Jonas geführt und das war so: Um die gefährliche Wirkung des Lobes zu mildern, haben wir sämtliche Bilder von Lisa zerstört. Im Nachhinein könnte das ein Fehler gewesen sein, weil wir auf diese Art ebenfalls zur Bildung sozialer Gruppen beigetragen haben. Die Wut von Lisa, die sich leider immer noch an das Lob erinnert hatte, führt zu wachsender Distinktion ihrerseits. Ich fürchte, sie ist nicht mehr zu retten. Jetzt führt sie sich auf wie eine Prinzessin, die vom Gesinde bestohlen wurde. Zum Glück sind mir die Reaktionen der Riesen egal, ich kann weiter das tun, was ich will. Ich brauche ihr Lob nicht. Auch die Meinung von Jonas ist mir egal. Es ist nur gut, dass er auch gegen Sozialisation kämpft. Ich hoffe nur, er bleibt so standhaft wie ich.
Die Tage im Kindergarten gehen weiter. Mittlerweile spreche ich so viel, wie die anderen Kinder meines Alters. Dabei konnte ich schon immer sprechen, aber mir schien es nicht angebracht das zu tun, denn Sprechen fördert soziale Bindungen und die will ich weitgehend vermeiden. Irgendwann jedoch beschließe ich, mich anzupassen. Genauer gesagt, passe ich mich nicht an, sondern übe mich in der hohen Kunst der Schauspielerei. Je besser ich mein Anderssein überspiele, je besser ich die anderen nachahme, desto eher lässt man mich in Ruhe. So finde ich Zeit für Bildung. Ich studiere Bilderbücher, in denen es um Tiere geht, die sich wie Menschen verhalten. Besonders faszinierend finde ich die Geschichte von einem Igel, der durch eine Gruppe anderer Tiere ausgegrenzt wird. Ich überlege mir, eine soziologische Feldstudie zu diesem Thema in meiner Kindergartengruppe durchzuführen, verwerfe den Gedanken aber wieder, da mir auf Grund des Malzwanges, den die Riesinnen verordnet haben, nicht genügend Zeit bleibt. Ab diesem Zeitpunkt benenne ich die Riesinnen um in Wärterinnen. Ich frage mich, ob ich, wenn ich mich weiter den Anweisungen der Wärterinnen füge, noch Herr meines Ichs bin. Es besteht die Gefahr, dass aus gespielter Anpassung echte Anpassung wird. Bin ich schon auf dem Weg mich selbst zu verlieren? Werde ich bald so sein wie die Anderen? Und das Allerschlimmste wäre, wenn mir die Anpassung irgendwann anfängt zu gefallen, wenn ich beginne, zu tun, was die Anderen von mir wollen. Geht es mir am Ende wie Jonas dem Verräter? Er hat sich nur so lange gegen das Malen gewehrt, bis seine Bilder plötzlich gelobt wurden. Jetzt blickt er genauso abschätzig auf mich herab wie Lisa. Diese verdammten Wärterinnen haben es geschafft, ihn für ihre dunkle Seite zu gewinnen. Armer Jonas, jetzt bist du verloren, denn jetzt bist du süchtig nach dieser wertlosen Anerkennung, genau wie Lisa.