Читать книгу Nur ich bin normal - Manuel Wagner - Страница 5
Geburt
ОглавлениеIch kann mich noch ganz genau an mein Erscheinen auf dem Planeten erinnern:
Es ist angenehm, sich einzig zu fühlen. Fast alles was existiert, bin ich, ich allein und ein unerklärlicher aber wohltuender Geräuschmix bestehend aus Geblubber und dumpfen Klängen, die von außerhalb meines Reichs zu kommen scheinen. Da mein kleines warmes Reich das Einzige ist, was für mich existiert, glaube ich nicht, dass es außerhalb eine Welt voller anderer Wesen gibt. So kann es immer bleiben, denke ich.
Plötzlich beginnt eine traumatische Odyssee. Natürlich ist mir aufgefallen, dass mein Reich im Laufe der Zeit geschrumpft ist, aber ich finde das nicht so schlimm. Immerhin ist meine Welt dadurch übersichtlich und kontrollierbar. Doch mit dem was nun geschieht, kann ich wegen meines eingeschränkten Wissens nicht rechnen. In einem beispiellosen Gewaltakt quetscht man mich aus meiner warmen Höhle. Ich werde meiner Ländereien beraubt. Ich werde vertrieben. Um mich herum ist es plötzlich kalt und unbehaglich. Als ob es nicht schon schlimm genug wäre, dass ich vor Kälte zittere, sind da auch noch Wesen, die so wie ich zu sein scheinen, nur viel größer.
»Lasst mich doch in Ruhe!«, schreie ich, aber sie verstehen mich nicht.
Werden mich die Riesen fressen oder was sonst werden sie von mir wollen? Denke ich voller Angst. Wollen die etwa hierbleiben? Ich will wieder alleine sein. Ich habe diese Wesen nicht hergebeten. Also schreie ich weiter, so laut ich kann. Würde ich die Institution der Polizei bereits kennen, würde ich »Hilfe! Nötigung! Polizei! Polizei! Polizei!« schreien. Mit der neuen eiskalten und scheinbar grenzenlosen Umgebung kann ich vielleicht noch leben, aber mit diesen aufdringlichen Ungeheuern? Man hätte mich wenigstens fragen können: Wollen sie allein und in Frieden sterben oder in eine Welt voller Monster geworfen werden? Aber ich durfte nicht entscheiden und wurde zu Letzterem genötigt. Auch wenn ich noch nicht weit sehen kann, ist es schockierend alsbald zu bemerken, dass die Wesen im Kreißsaal nicht die einzigen neuen Wesen sind. Da ich im Moment noch keinen Begriff von Zahlen habe, ist die Anzahl der Menschenwesen eigentlich halb so wild, denn den Unterschied zwischen einem Menschen und vielen Menschen kapiere ich noch nicht. Das ist für mich sicherlich gut, denn sonst würde man mich bestimmt als Schreibaby bezeichnen müssen.
So ist das also bei der Geburt. Man wird vom König eines kleinen, heimeligen Reiches zu einem beliebigen Massenwesen degradiert und hat keinerlei Selbstbestimmung mehr. Soll man dafür etwa dankbar sein? Wie krank! Alleinsein ist alles was ich will. Ich werde mir schon bald meine Freiräume suchen müssen, denn sonst werde ich sozialisiert und das würde mich dumm und engstirnig werden lassen. Ich werde mitspielen, so lange ich muss, aber werde auch im Hinterkopf behalten, dass ich vorerst nur beobachte.
Im Übrigen fällt mir gerade ein, dass diese ganze Geburtsaktion sexuelle Nötigung war. Die Wesen waren angezogen und ich war nackt. Bei was für bizarren, perversen Monstern bin ich hier bloß gelandet? Gerechterweise hätten sie auch nackt sein müssen.