Читать книгу Nur ich bin normal - Manuel Wagner - Страница 6
Nachgeburt
ОглавлениеIm Gegensatz zum laut blubbernden Mutterleib hat meine neue Umgebung auch etwas Gutes, ich kann allein sein. Es ist still, wenn alle weg sind. Ich höre nur noch mich, mein Herz, meinen Atem, einfach wunderbar. Ich sehe um mich herum verschwommene Konturen einer offenbar riesigen Welt lebloser Dinge. Dinge die mich in Ruhe lassen, Dinge die ich anfassen und fallen lassen kann, wann ich es will. Ich komme mir plötzlich sehr mächtig vor. Wenn mir warm ist, schiebe ich die Decke weg. Wenn mir kalt ist, rolle ich mich zusammen.
Irritierend finde ich allerdings, was die Erwachsenen mit mir veranstalten. Sie fassen mich ständig an und spielen mir ziemlich übel mit. Sie können verschwinden, indem sie sich die Hände vors Gesicht halten. Sind sie dann weg, macht mich das glücklich. So sehr strahle ich sonst nie, aber schon nach wenigen Sekunden sehe ich die Hände nicht mehr, dafür sind die Menschen plötzlich wieder da. Ich gucke sie dann nur entsetzt an und fange an zu heulen. Deswegen hören sie bald damit auf. Sie wissen ja nicht, dass ich lache, wenn ich statt Menschen nur noch Hände sehe, weil sie dann immer verschwinden.
Leider kann ich ihnen nichts mitteilen. Meine Gedanken sind klar, aber ich bin hilflos. Die Hilflosigkeit liegt entweder an der neuen Umgebung oder der Grund sind die mir feindlich gesinnten Kreaturen, die sich um mich »kümmern«. Das klingt paradox, aber genau das ist doch, was die Sucht nach sozialen Bindungen fördert. Je mehr sich jemand um dich kümmert, je argloser wirst du. Du vertraust ihm jeden Tag mehr und bist ihm am Ende völlig ausgeliefert. Ein guter Bauer kümmert sich liebevoll und fürsorglich um seine Tiere. Jeden Tag kommt er mehrmals vorbei, füttert sie, macht sauber, versorgt kranke Tiere, verteilt vielleicht sogar Streicheleinheiten. Die Tiere sehen den Bauern und wissen »jetzt gibt es etwas Gutes«. Sie haben grenzenloses Vertrauen in ihren Bauern und das aus gutem Grund, denn er hat ihnen noch nie etwas getan. Dann kommt er eines Tages vorbei, nimmt ein Tier aus der Herde heraus und schlachtet es.
Mit diesem Wissen breiten sich gewisse Ängste in meinem Kopf aus. Vielleicht wird es nie so weit kommen, wie bei den Tieren der Bauern, aber Skepsis ist angebracht. Durch das Kümmern versuchen sie mich an sich und ihre gesellschaftlichen Vorstellungen zu ketten. Das könnte für mich sogar noch schlimmer enden als geschlachtet zu werden. Ich gewöhne mich möglicherweise an den sozial-manischen Unrat und werde so wie sie: Unfähig eigene Entscheidungen zu treffen, unfähig die Wahrheit zu erkennen nur weil ich ihnen gefallen muss, denn ohne sie bin ich hilflos. Also ist klar, wieso die Hilflosigkeit erzeugt und schamlos ausgenutzt wird. Ich weiß Bescheid und versuche alles, um nicht in die Falle zu tappen. Dabei muss ich mir einiges einfallen lassen.
Lange Zeit dachte ich, Nahrung kommt überwiegend aus den Brüsten der Wesen. Dadurch musste ich ihre erdrückende Nähe ertragen, aber jetzt habe ich gemerkt, dass das nicht die einzige Möglichkeit der Nahrungsaufnahme ist. Also fange ich an zu beißen, damit sie mich nicht mehr an die Brust zwingen. Der erste Schritt zu menschenunabhängiger Nahrungsaufnahme ist gemacht, aber mit mangelnden motorischen Fähigkeiten ist das schwierig. Egal ob Gläschen, Flasche oder was auch immer. Wenn man es alleine versucht, dann landet das Meiste erst einmal um einen herum. Da die Riesen das nicht mögen, verzögern sie den Lernprozess, indem sie einen noch ewig füttern. Hinzu kommt, dass es besonders erniedrigend ist, es selbst zu versuchen und sich dabei zu bekleckern, wenn dann sofort die Waffe namens Kamera, gezückt wird, um das Versagen zu dokumentieren. Fatalerweise ist die Angst noch häufiger derart bloßgestellt zu werden, für mich ein weiterer Grund noch lange unselbstständig zu bleiben. Außerdem habe ich Angst, dass mithilfe der Fotos und der Filmchen eine juristisch verwertbare Akte über mein Versagen angelegt wird. Fortan mache ich nur noch Dinge allein, von denen ich weiß, dass ich sie beherrsche. Das lässt mich für die anderen leider nur noch unselbstständiger erscheinen und sie helfen mir noch mehr, was mich immer weiter in die von den Wesen gewollte soziale Abhängigkeit treibt.