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2 Kann menschliches Verhalten unmenschlich sein? 2.1 Das Menschenbild

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Das größte Geheimnis ist wohl das, wer wir Menschen sind. Dieses zu entschlüsseln, war zu jeder Zeit Ziel der Philosophen. Schon in der Antike war über dem Orakelheiligtum in Delphi, dem ehemaligen Tempel Apollos, der prägnante Aufruf »Erkenne Dich selbst!« für alle sichtbar zu lesen.

Menschen haben die Fähigkeit, sich in der Zeit und dem sie umgebenden Raum zu betrachten, über sich nachzudenken und ihre Überlegungen in Worte zu fassen. So entstehen die Fragen nach dem Sinn des Lebens und ob es ein ubiquitär geltendes Menschenbild geben kann. Aussagen über den Menschen finden sich in allen sozial-, kultur- und geisteswissenschaftlichen Fächern. Auch die Humanmedizin ist nach der Entschlüsselung der DNA bestrebt, den »gläsernen Menschen«, d. h. ein physisch exaktes Abbild eines jeden Einzelnen, darzustellen. Ob das aber den subjektiv geprägten Begriff des Menschen objektivieren kann, mag dahingestellt sein. Bis heute gibt es kein tiefergehendes gemeinsames Verständnis darüber, was genau nun das Menschenbild ist. Die Diskussionen darüber werden immer dann forciert, wenn aggressive Auseinandersetzungen wie Genozide, Kriege, Terroranschläge und/oder besonders als grausam bewertete Einzeltaten von Menschen die Menschen erschrecken. Darauf folgt in der Regel die Klassifizierung der/des Täters in menschlich oder unmenschlich. Primo Levi stellte 1947 in der Beschreibung seiner Erlebnisse im Holocaust die Frage: »Ist das ein Mensch?«. Für den forensischen Psychiater Hans-Ludwig Kröber ist das Töten in der menschlichen Natur verankert. Die Akzeptanz dieses Faktes würde aus seiner Sicht Gewalt verhindern können (Kröber 2012).

Die Konzepte zur menschlichen Natur sind so vielfältig wie die Menschen selbst. Wer aber versucht, alle Bestimmungen, die ihn ausmachen, zusammenzutragen, geht an vielem, was ihn ausmacht, vorbei. Allerdings scheint eine historisch-kulturelle Begriffsbestimmung unumgänglich, da Menschen zum einen in einer natürlichen, aber auch von ihnen geschaffenen kulturellen Umwelt leben. So sind sie durch sich selbst mit der Aufforderung konfrontiert, sich zu bestimmen. Die Antworten erfolgen in der Regel aus einer immer spezifischer werdenden Perspektive und sind z. B. von religiösen Überzeugungen und Vorstellungen, die sich in Kunstwerken widerspiegeln, beeinflusst. Karl Jaspers (1965, S. 57) merkt Folgendes dazu an: »Wir tragen Bilder vom Menschen in uns und wissen von Bildern, die in der Geschichte gegolten und geführt haben. Der Kampf der Menschenbilder geht in uns um uns selbst. Wir haben Abneigung gegen und Neigung zu Bildern, die uns in einem Menschen begegnen. An ihnen orientieren wir uns wie an Vorbildern und Gegenbildern.« Daneben orientieren sich die Antworten auch an Grundregeln des Zusammenlebens, die wiederum den Alltag des Menschen bestimmen und diesem erst Gestalt verleihen. Deshalb greift eine alleinige Definition des Menschenbildes zu kurz und muss um die Beantwortung der Frage »Wie ist menschliches Leben richtig zu gestalten?« erweitert werden. Denn die Ausrichtung am Richtigen im Sinne des Wahren, Guten und Schönen darf nicht vernachlässigt werden, wenngleich das allein ebenfalls nicht ausreichend scheint. Grundsätzlich bringt uns die Frage »Was ist der Mensch?« in eine Distanz zu uns, die es uns ermöglicht, Selbstkritik im Sinne von Vernunft zu üben und so dem Menschenbild nahe zu kommen, da sich Menschen in der Zeit immer wieder in anderer Weise zu verstehen vermögen. Eine starre Begriffsbestimmung scheint der Dynamik des Menschseins nicht wirklich gerecht zu werden. Menschen stehen immer aufs Neue vor der Aufgabe, wie sie sich verstehen und wer sie dadurch sind. Sie bestimmen in unterschiedlicher, aber praktischer Weise, was ihnen wichtig ist und etablieren so Verständnisse von sich selbst, an die sie sich binden. Damit ist der Mensch ein Wesen, das vor der Aufgabe steht, sich selbstkritisch zu gestalten und sich so immer wieder von Bestimmtheiten zu lösen, aber in Beziehung zu sich selbst zu gehen und zu bleiben. Wichtig ist jedoch, dass der Mensch sich zu seinem Tiersein verhalten muss und sich entsprechend sowohl als Tier als auch als Nicht-Tier begreifen kann. Hinzu muss die Vernunft als Praxis der Öffnung gedacht werden, die Fixierungen und Stillstand vermeidet. Nur so können Menschen ihre Freiheit gestalten, indem sie sich Regeln setzen, in denen größtmögliche Freiheitsgrade gelebt werden können (Bertram 2018). Genau das also, was bereits in der Zeit der Aufklärung propagiert wurde und Jean-Jacques Rousseau (1712–1778) im Gesellschaftsvertrag sagen ließ: »Der Gehorsam gegen das selbstgegebene Gesetz ist Freiheit« (Rousseau 1977, S. 23).

Forensische Psychiatrie interdisziplinär

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