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2.4.1 Psychologische Grundlagen des Moralverständnisses

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Neben den Philosophen haben vor allem Psychologen auf verschiedenen Gebieten versucht, sich dem Konstrukt der Moral zu nähern. Motivationspsychologisch kann zwischen moralischem, also prosozialem Handeln (z. B. helfen, teilen, schützen) aus Sympathie und Handeln aus normativer Pflicht unterschieden werden. Wichtig ist diese Entscheidung vor dem Hintergrund, dass antisoziale Menschen durchaus bei Sympathie prosozial handeln können, auch wenn diese die normativ intendierten Regeln nicht verinnerlicht haben. Die Internalisierung moralischer Normenerfolgt aus psychologischer Sicht durch Konditionierung, wird durch Identifikation und Beobachtung z. B. in der Wahl von Vorbildern und durch die familiäre Sozialisation sowie durch Peergroups vermittelt. Inwieweit bei einer Person moralische Werte ausgebildet sind, hängt vom Wissen über geltende Normen, vom Urteil über das, was moralisch geboten ist, vom normentsprechenden und abweichenden Verhalten und nicht zuletzt von den moralischen Gefühlen selbst ab. Entwicklungspsychologisch ist festzuhalten, dass sich die für richtig gehaltenen moralischen Normen, also das Urteil darüber, was gut und was böse, was gerecht und was ungerecht ist, im Laufe des Lebens eines Menschen verändern. Ebenso verändern sich die Begründungen für die geltenden Normen und auch die moralische Motivation. Mit Zunahme des Alters fließen in die Bewertung von Verfehlungen differenzierte Urteile über die Verantwortlichkeit mit ein und die Konsistenz zwischen moralischen Urteilen und moralischem Verhalten nimmt zu (Montada 2002). Bereits im Alter von vier Jahren wird vom Menschen ein angemessenes Verständnis moralischer Normen und rechtsanaloger Regelungen erworben. Das Verbot, andere zu schlagen oder zu bestehlen, kennen sogar schon Dreijährige (Nunner-Winkler 1998, Weyers et al. 2007).

Über die Entwicklung von Moral eines Menschen gibt es mehrere und viel diskutierte Modellvorstellungen, die man kennen sollte, wenn man mit psychisch kranken Rechtsbrechern arbeiten möchte. Die bekanntesten und am häufigsten rezipierten Theorien sind wohl die der Psychologen Jean Piaget (1896–1980) und Lawrence Kohlberg (1927–1987).

Piaget ging davon aus, dass die Moralentwicklung ein Prozess in der Kindheit ist, den alle durchlaufen und bei dem alle Menschen das gleiche Stadium moralischen Denkens erreichen. Er unterschied drei Stadien:

1. Stadium der heteronomen Moral (<7 bis 8 Jahren)

In diesem Stadium nehmen Kinder an, dass die gesetzten Regeln unveränderbar sind, dass Gerechtigkeit und Strafe nur von Autoritäten abhängen und die Handlungsfolgen für die moralische Qualität einer Handlung entscheidend sind.

2. Phase des Übergangs (zwischen 7/8 bis 10 Jahren)

In dieser Phase erkennen Kinder, dass Regeln von einer Gruppe aufgestellt werden und doch veränderbar sind. Sie legen zunehmend Wert auf Gerechtigkeit und Gleichberechtigung.

3. Stadium der autonomen Moral (ab 11 bis 12 Jahren) Kinder entwickeln ein Verständnis darüber, dass Regeln als Ergebnis sozialer Interaktion veränderbar sind. Sie beurteilen Moral und Strafe unabhängig von Autoritäten und berücksichtigen bei moralischen Entscheidungen die Absicht der handelnden Person.

Kohlberg hingegen sah die Moralentwicklung als einen lebenslangen Prozess an und ging davon aus, dass sich die Menschen am Ende nur in der Stufe moralischen Denkens unterscheiden. Sein Modell besteht aus drei Niveaustufen, die wiederum in jeweils zwei Stufen unterteilt sind:

• Präkonventionelles Niveau des moralischen Urteils

− Stufe 1: Orientierung an Strafe und Gehorsam

− Stufe 2: Orientierung an Kosten-Nutzen und Reziprozität

• Konventionelles Niveau des moralischen Urteils

− Stufe 3: Orientierung an wechselseitigen zwischenmenschlichen Erwartungen, Beziehungen und Übereinstimmungen (»gutes Kind«)

− Stufe 4: Orientierung an sozialen Systemen und am Gewissen (»Recht und Ordnung«)

• Postkonventionelles Niveau des moralischen Urteils

− Stufe 5: Orientierung an sozialen Verträgen oder an individuellen Rechten

− Stufe 6: Orientierung an universellen ethischen Prinzipien

Beiden Modellen ist die Idee gemeinsam, dass moralisches Denken durch die zunehmende Fähigkeit zur Perspektivübernahme entsteht. Zudem verläuft die Moralentwicklung in unveränderlichen Stadien bzw. Stufen und universell gleich.

Darüber hinaus sind einige alternative Theorien entwickelt worden, die sich zum einen eher auf die Entwicklung des prosozialen Verhaltens beziehen oder zum anderen soziale Urteile als Maßstab eingeführt haben. So hat Elliot Turiel (*1938) 1983 in seiner Domänentheorie zwischen Entscheidungen bezüglich Moral (richtig, falsch), bezüglich Konvention (Sitten und Regeln) und persönlichen Präferenzen unterschieden (Eisenberg & Miller 1987, Turiel 1983). Carol Gilligan (*1936) hat eine an Gerechtigkeit orientierte männliche Moral in Abgrenzung zu einer an Fürsorge orientierten weiblichen Moral postuliert, die heute als am meisten umstritten gilt (1984).

Grundsätzlich existiert ein großes Wissen über die Entstehung von Moral, aber mehrere Aspekte geraten immer wieder in Kritik. Neuere Befunde legen nahe, dass unabhängig voneinander variierende Dimensionen der Moralentwicklung zu unterscheiden sind (Nummer-Winkler 2008). Ferner kann man nicht davon ausgehen, dass Menschen immer entsprechend ihres moralischen Wissens beziehungsweise ihrer moralischen Urteilskompetenz handeln. Durch das Urteilsniveau ist moralisches Handeln jedenfalls nicht festgelegt und nicht jeder Mensch, der unmoralisch handelt, ist antisozial. Deshalb versuchen Annahmen über moralische Emotionen und moralisches Handeln diesen Umstand genauer zu definieren.

Die psychoanalytische Moralkonzeption nach Freud geht davon aus, dass das Kind zu Beginn ganz von der Erfüllung der eigenen Bedürfnisse bestimmt ist. Erst nach und nach lernt es von den Eltern, die eigenen Bedürfnisse zu beherrschen. Unbeherrschte Bedürfnissewerden durch Affekte wie Schuld oder Scham sanktioniert und die elterlichen Werte und Normen werden als internalisiert in das Über-Ich übernommen (Freud 1990). Die lerntheoretischenModelle schließen sich dem Konzept der Bestrafung durch Schuld und Scham bei Übertretung moralischer Konventionen an. Laut Lerntheorie erfolgt durch wiederholte Bestrafung eine konditionierte Angstreaktion. Die aversiv erlebten Emotionen wie Schuld und Scham werden daraufhin vermieden, da eine operante Konditionierung stattgefunden hat. Erst mit der Empathietheorie von Hoffmann (1975) wurden die kognitiven und emotionalen Grundlagen zusammengeführt, da diese affektive, kognitive und motivationale Komponenten integriert.

Forensische Psychiatrie interdisziplinär

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