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2.3 Die Funktion von Ritualen, Religion und Religiosität 2.3.1 Rituale

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Der religiöse Glaube und die dazugehörigen Rituale scheinen Anpassungen zu sein, deren Nutzen in der augenblicklichen Integration des Individuums in der Gruppe besteht, die ihm Bestrafungen erspart, die diejenigen widerfahren, die von den Bräuchen abweichen. Das sind in der Regel Menschen mit antisozialen Verhaltensweisen, die im Interesse der Gruppe kontrolliert werden müssen.

Das Wort Ritual wird etymologisch auf Lateinisch ritualis zurückgeführt (Dücker 2007). Der Terminus des Rituals ist in der abendländischen Kultur ein verbindlich festgelegter Begriff, der in lateinischer Form im religiösen Bereich für symbolisches Handeln steht. Besonders bekannt war er in allen katholischen Ländern durch seinen Einsatz als Überschrift einer kirchenrechtlich verbindlichen Regelsammlung Rituale romanum von 1614 (Flores Arcas & Sodi 2004). Rituale werden von Ritualwissenschaftlern erforscht, die die deskriptiven und funktionalen Merkmale zusammenstellen. Dazu gehört zuerst die Sequenzierung, d. h. der gesamte rituelle Prozess wird in Makro- und Mikrorituale aufgeschlüsselt. Durch ein starres Ablaufschema, das an die jeweiligen Gegebenheiten angepasst werden kann, entsteht eine Stereotypie. Sprechhandlungen in feststehenden Wendungen, z. B. Gebete, geben dem Ritual die gewollte Formalität. Durch die Reduktion von Komplexität und die Verdichtung insbesondere auch durch Redundanz wird das Ritual auf eine einzige Wertekategorie festgelegt und der Einzelne darauf eingeschworen. Das rituelle Bewusstsein wird durch die Feierlichkeit unterstützt, die wiederum durch die Wahl des Ortes und der Kleidung bedient wird. Indem die rituellen Handlungen immer wieder aus den gleichen Anlässen wiederholt werden, werden die Rituale repetitiv eingeschliffen und jedes Individuum lernt diese so kennen und auch sich daran zu halten. Rituale müssen, wenn sie wirksam sein sollen, öffentlich und jedem zugänglich sein. Die dramatische Struktur eines Rituals und die Teilnahme aller in einer Gruppe mit den dazugehörigen Rollen bedingt eine Zugehörigkeit zur Gruppe. Rituale sind grundsätzlich selbstreferentiell, denn sie werden von Teilnehmern für die Teilnehmer inszeniert und gelten sowohl für die, die Rituale vollziehen und für die, die diese inszenieren. Zusammengefasst haben Rituale auch eine ästhetische Dimension und stellen die Schnittstelle zwischen Kollektiv und dem Individuum dar. So dienen sie zur Herstellung von Gemeinschaft, zur Vermittlung von Dispositionen zu Anschlusshandlungen in der Zukunft im nichtrituellen Bereich (Tambiah 1979, Braungart 1992, Humphrey & Laidlaw 1994).

Ritualtheoretisch kann man intentionales von nichtintentionalem Handeln unterscheiden (Humphrey & Laidlaw 1994). Als intentional gilt der Entschluss eines Individuums, ein Ritual auszuführen oder daran teilzunehmen; nicht intentional sind Handlungen, die allein durch die Teilnahme erforderlich sind, weil diese schon immer festliegen.

Dadurch, dass Rituale die Werte der eigenen Gemeinschaft mit dem Gestus von Bestätigung und Verpflichtung sichtbar machen, fördern diese auf der einen Seite deren Zusammenhalt und Kontinuität (Binnenintegration), auf der anderen Seite markieren sie notwendig eine Grenze nach innen (Regelverstöße) und gegenüber anderen Formationen nach außen. Insofern gehören Integration und Abgrenzung zu den zentralen Funktionen ritueller und ritualisierter Handlungsformen.

Rituale sind also Ausdruck symbolischen Handelns, werden als diese auch genutzt und stellen darüber hinaus einen kulturellen Ordnungsfaktor dar. Aus ritualwissenschaftlicher Perspektive werden Rituale für die Herstellung, Gestaltung und Erhaltung kollektiv anerkannter und verbindlicher symbolischer Ordnungssysteme von Interessengruppen genutzt. Symbolische Handlungen sollen einen konfliktfreien Ablauf des sozialen Lebens einer Gemeinschaft und deren Fortbestand gewährleisten, aber auch den dafür erforderlichen Bedarf an Dynamik und Transformation bereitstellen. Diese sollen zu bestimmten Anschlusshandlungen motivieren und andere verhindern. Zu den wohl ordnungspolitisch sensibelsten Aufgaben gehören dabei die Wahl von Repräsentanten wie Häuptling, Kaiser, Stadtrat, Richter etc. Darüber hinaus muss die Versorgung und die Reproduktion des Nachwuchses gesichert werden. Krankheiten müssen abgewehrt und die Gesundheit einer Gruppe muss wiederhergestellt werden. Über allem steht die Sicherung der inneren und äußeren Souveränität der Gruppe. Alles das bedarf einer Vielzahl von Ritualen. Rituelle Handlungen legitimieren so zweckrationale Handlungen, indem sie diese durch die Anrufung einer Werteinstanz überhöhen und ihnen so die Grundlage kollektiver Verbindlichkeit geben. Daher sind sie in Gesellschaften mit kodifiziertem Recht zwar fakultativ, was aber ihrer Anwendung in der Regel keinen Abbruch tut. So hat der »erste Spatenstich« für den Bau eines Gefängnisses weder eine juristische noch eine sachliche Bedeutung, wohl aber die der sichtbar gemachten Legitimation des Projektes selbst (Dücker 2007). Rituale sind Handlungen, die man auf allen Sinnesebenen wahrnehmen kann (wie hören, sehen, fühlen), insofern haben sie Einfluss auf das Individuum und machen die gewählte Ordnung einer Gesellschaft sichtbar und erfahrbar. Den Akteuren bieten Rituale die Gelegenheit, sich in gewünschter Art und Weise darzustellen und sie versichern die Öffentlichkeit der Kontinuität der Ordnung. Letztendlich vollziehen sie die Geschichte einer Gruppe. Rituale machen also keinen Sinn, sie sind der Sinn (Braungart 1992). Zwischen rituellen Handlungen und Werten besteht eine sehr enge Verknüpfung. Dementsprechend dienen diese direkt der Nutzen- und Normenvermittlung. Aus soziologischer Sicht ist Handeln im sozialen System an Normen gebunden, welche durch Rituale immer und immer wieder überprüft werden können. Am Ende sind Rituale auch ein nicht zu unterschätzender Wirtschaftsfaktor und haben eine große ökonomische Bedeutung, die bereits im Alten Testament sichtbar wurde. In der aktuellen Politik werden für Gipfeltreffen Millionen im zweistelligen Bereich ausgegeben und sichern die Macht der Souveräne.

Forensische Psychiatrie interdisziplinär

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