Читать книгу Die Kraft der Gefühle - Marc Brackett - Страница 11

Emotionen und Beziehungen

Оглавление

Es interessiert niemanden, wie viel Sie wissen, solange sie nicht wissen, wie wichtig es Ihnen ist.

— Theodore Roosevelt

Hier ist ein Experiment, das Sie mit sich selbst als Versuchskaninchen durchführen können: Gehen Sie die Liste aller Personen durch, denen Sie im Laufe Ihres alltäglichen Lebens begegnen. Alle Personen – von Ihrer besseren Hälfte und direkten Familienangehörigen bis hin zu allen Kollegen, über und unter ihnen, jedem Verwandten, jeder Freundin und Bekannten, dem Kassierer im Supermarkt, Ihrer Ärztin, Ihrem Friseur, den Menschen am Empfangstresen im Fitnesscenter und so weiter und so fort. Einfach alle Menschen, deren Weg den Ihren kreuzt, ob stundenlang oder nur für fünf Minuten.

Dann gehen Sie die Liste durch und fragen Sie sich, ohne lange zu überlegen, nach der ersten Antwort, die Ihnen in den Kopf kommt: Wie fühle ich mich, wenn ich jeder einzelnen dieser Personen begegne? Wie sehr freue ich mich auf die Begegnung mit jeder und jedem einzelnen? Lächle ich bei dem Gedanken, diese oder jenen zu sehen? Lässt mich der Gedanke emotional neutral? Oder verkrampft sich etwas in mir angesichts der Vorstellung ein wenig? Es muss keine völlige Antipathie sein, der kleine Anflug von Angst, bei der Aussicht, dass diese Person und ich uns irgendwann gegenüberstehen, genügt.

Welches Wort würden Sie verwenden, um das Gefühl zu beschreiben, das Sie mit jeder einzelnen Person verbinden? Ist es Furcht? Freude? Zuversicht? Unzulänglichkeit? Langeweile? Zuneigung? Irritation? All diese Gefühle sorgen dafür, dass wir von Menschen mehr oder weniger angezogen werden. Freuen Sie sich auf die Zusammenarbeit mit dem Kollegen, der ständig sauer auf die Welt ist?

Normalerweise ist diese Emotion nichts, das wir jemals in Worte fassen oder über das wir gar groß nachdenken. Es ist wie eine instinktive Reaktion, die von einer tieferen Stelle kommt und der nicht leicht ein Etikett verpasst werden kann. Fast schon animalisch. Wenn ich diese Person sehe, hüpft etwas in mir vor Freude. Oder stürzt in Niedergeschlagenheit ab. Oder etwas dazwischen.

Experiment beendet. Jetzt haben Sie vielleicht eine klarere Vorstellung davon, wie unsere stärksten emotionalen Reaktionen die Natur all unserer Beziehungen diktieren.

In Seminaren, die ich mit Lehrkräften durchführe, bitte ich sie manchmal, ihre Schülerinnen und Schüler aufzulisten und das Gefühl zu nennen, das jeder Name automatisch hervorruft. Ist es Zuneigung, Abneigung, Vertrauen, Freude, Angst, Ekel? Als Nächstes sage ich: Seien Sie ehrlich und denken Sie darüber nach, wie dieses Gefühl Sie veranlasst, sich gegenüber jedem dieser Kinder zu verhalten. Ich hatte schon Teilnehmer, die während dieser Übung in Tränen ausgebrochen sind. Sie erkennen sofort, wie unterschiedlich sie jedes Kind behandeln, je nachdem, wie sie die Gefühle wahrnehmen, die es ihnen vermittelt. Das hat wenig damit zu tun, wie sich das Kind in der Klasse verhält, oder mit den Bedürfnissen des Kindes oder mit irgendetwas, das sie benennen können. Es ist einfach eine starke, fast viszerale Reaktion, die normalerweise etwas mit der Lehrkraft zu tun hat, nicht mit dem Kind. Es sind meist gute Lehrkräfte, die ihr Bestes tun, um alle Kinder gleich zu behandeln, und die eine positive, förderliche Beziehung zu allen Schülern aufbauen wollen. Aber in der realen Welt funktioniert das, trotz all unserer besten Absichten, nicht auf diese Weise. Aus irgendeinem Grund können Lehrkräfte kaum Augenkontakt zu einem Kind herstellen oder ihm oder ihr konzentrierte Aufmerksamkeit schenken, während sie sich wirklich darauf freuen, mit anderen Schülern zu interagieren und sie in den Unterricht mit einzubinden.

Außerhalb des Klassenzimmers arbeiten wir alle auf die gleiche Weise. Menschliche Beziehungen sind unendlich komplex, weil wir selbst Menschen sind, aber die grundlegende Dynamik ist eher schlicht: aufeinander zugehen oder einander vermeiden. Wir sagen Menschen, dass sie näher kommen sollen, oder wir sagen ihnen, dass sie weggehen sollen. Diese Menschen kommunizieren uns dasselbe. So vieles von dem, was zwischen Menschen geschieht, ist ein Ergebnis der Art und Weise, wie wir unsere Emotionen mitteilen. Und alles hängt von etwas ab, das tief in uns steckt und vielleicht vor unserer eigenen Sichtweise verborgen ist: unserem emotionalen Zustand.

Beziehungen sind das Wichtigste in unserem Leben. Es gibt zahlreiche wissenschaftliche Untersuchungen, die zeigen, welchen enormen Einfluss sie auf unser Wohlergehen haben. Menschen mit robusten sozialen Netzwerken erfreuen sich einer besseren geistigen und körperlichen Gesundheit; sie leben sogar länger, während weniger positive Resultate mit einem Mangel an Beziehungen zu anderen Menschen in Verbindung gebracht werden. Der Zweck von Beziehungen kann in allen Gesellschaften gesehen werden, sogar bei Tieren: Von Verbündeten umgeben zu sein, ist eine Form des Schutzes, die den Unterschied zwischen Leben und Tod bedeuten kann. Unser Bedürfnis, uns an andere Menschen zu binden, ist nicht nur sentimental, auch wenn es heute manchmal so scheint.

In diesem Buch werden wir alle Möglichkeiten erörtern, wie wir unsere Gefühle der Person, mit der wir es zu einem bestimmten Zeitpunkt zu tun haben, mitteilen – subtile, rasch aufblitzende Gesichtsausdrücke, Körpersprache, Tonlage, Berührung und alles andere in unserem Arsenal an Signalen. Wenn wir positive Emotionen authentisch ausdrücken – Zufriedenheit, Mitgefühl, Freude –, dann tun wir das auf eine Art und Weise, die andere Menschen anzieht, ob es nun Ihre beste Freundin oder der Supermarktkassierer ist. Sie können unsere Signale klar und deutlich lesen und vielleicht in gleicher Weise reagieren, aber das hängt von ihrem emotionalen Zustand ab. Menschen, die Emotionen wie Trauer, Scham oder Angst empfinden, möchten soziale Interaktionen häufig vermeiden und kommunizieren dies auch. Diese Menschen könnten am meisten von Kontakten mit anderen profitieren, aber allzu oft ist es unwahrscheinlich, dass es dazu kommt. Dies ist ein besonders ernstes Problem an unseren Schulen, wenn die Kinder dort zurechtgewiesen werden, wenn sie eine negative Emotion ausdrücken, anstatt dies als Hilferuf zu sehen. Das sind die Kinder, die vernachlässigt, ignoriert oder wegen Fehlverhaltens suspendiert werden, obwohl man ihnen Einfühlungsvermögen, zusätzliche Aufmerksamkeit und Möglichkeiten zum Entwickeln von Kompetenzen und sinnvollen Beziehungen geben sollte. Die Forschung zeigt, dass ein einziger fürsorglicher Erwachsener den Unterschied ausmachen kann, ob ein Kind gedeiht oder nicht.

Wir alle haben eine Vielzahl von Beziehungen – zu unseren Kindern und Eltern und anderen wichtigen Personen, aber auch zum Klempner, der Fahrerin auf der Nebenspur, unseren Teammitgliedern im Sportverein, unserer Chefin, unseren Kollegen und der Frau, die uns im Einkaufszentrum die Tür aufhält. Und all diese Verbindungen funktionieren nach dem gleichen Grundprinzip: Unsere Stimmung zu einem bestimmten Zeitpunkt drückt sich in den Signalen aus, die wir aussenden. Wenn wir uns freundlich gestimmt, offen und mitteilsam fühlen, wirken wir sicher und aufgeschlossen gegenüber anderen. Wenn wir uns selbst niedergeschlagen fühlen, beeinträchtigt das unsere Beziehung zu anderen Menschen – wenn wir überhaupt mit diesen in Verbindung treten. Wir sagen den Menschen durch die Botschaften, die wir aussenden, was wir von ihnen wollen: sei es warmherzig und in der Hoffnung auf eine Antwort, oder abschreckend, wenn wir Distanz wollen. Das ist die Herausforderung für viele Menschen des Autismus-Spektrums: Sie haben Schwierigkeiten, die Signale zu erkennen und eine passende Antwort zu finden; und sie haben Probleme mit dem Senden von Signalen, die andere Menschen verstehen. Infolgedessen fällt es ihnen schwer, Beziehungen aufzubauen und aufrechtzuerhalten.

Wir drücken auch Emotionen aus, um von den Menschen in unserem Leben das zu bekommen, was wir wollen. Wenn wir Ärger zeigen, erhalten wir vielleicht nicht viel Empathie, aber wir flößen anderen Angst ein und beseitigen möglicherweise alle Hindernisse, die uns im Weg standen. Wenn wir dagegen Kooperation und Verständnis brauchen, wissen wir, welche emotionale Botschaft wir aussenden müssen, um die von uns gewünschte Antwort zu erhalten.

Menschen, die Mitgefühl empfinden, sehen mehr menschliche Gemeinsamkeiten zwischen sich und Fremden. Sie bestrafen andere weniger, sind großzügiger und kooperativer und bereit, für andere Opfer zu bringen. Studien zeigen, dass Menschen mit viel Macht dazu neigen, weniger auf die Emotionen der Menschen um sie herum einzugehen. In einer Studie reagierten diese Personen mit weniger Mitgefühl als Menschen mit weniger Macht, wenn sie einer anderen Person zuhörten, die ihre Leiden beschrieb. Erklärt dieses Phänomen etwas über unsere Führungskräfte in Politik und Wirtschaft?

Manchmal senden die Emotionen, die wir fühlen, Signale aus, die das Gegenteil der Reaktion hervorrufen, die wir wollen und brauchen. Stellen Sie sich ein typisches Kind vor: Wenn es beunruhigt oder ängstlich ist, wünscht es sich vielleicht, dass seine Eltern oder seine Lehrerin die Hand ausstrecken und Trost spenden. Aber wenn diese Erwachsenen den emotionalen Zustand dieses Kinds spüren, besonders wenn es „alles herauslässt“, reagieren sie vielleicht genau umgekehrt, weil sie selbst emotional auf die Signale einer negativen Stimmung reagieren. Diese Dynamik beherrscht einen Großteil der menschlichen Interaktion – wenn wir emotionale Unterstützung am meisten brauchen, ist es am unwahrscheinlichsten, dass wir sie erhalten.

Ich erinnere mich an den Matheunterricht in der siebten Klasse, in dem zwei Schüler regelmäßig die Jacke bekritzelten, die ich jeden Tag trug. Ich bin sicher, dass ich diese Jacke als eine Art Schutz trug. Meine Angst und Verzweiflung mussten sich in meinem Gesicht, meinem Körper und meiner chronischen mentalen Abwesenheit gezeigt haben. Aber der Lehrer griff nicht ein. Was hat er gedacht? Halt dich fern – dieses Kind ist ein Weichei, das abgehärtet werden muss? War er zu sehr mit seinen eigenen Problemen beschäftigt, um sich um meine zu kümmern? Vielleicht war er einfach ratlos, was er tun sollte. So oder so, ich habe sozial, emotional und bildungsmäßig gelitten.

Es gibt einen großen Moment im Film Nachrichtenfieber, in dem eine Figur fragt: „Wäre das nicht eine großartige Welt, wenn Unsicherheit und Verzweiflung uns attraktiver machen würden? Wenn ‚bedürftig‘ zu sein antörnend wäre?“ Leider funktionieren wir Menschen (noch) nicht auf diese Weise.

Die Kraft der Gefühle

Подняться наверх