Читать книгу Die Kraft der Gefühle - Marc Brackett - Страница 13

Emotionen und Kreativität

Оглавление

Rationale Gedanken befeuern die Kreativität der Menschen nie so wie Emotionen.

— Neil Degrasse Tyson

Viele von uns müssen in kreativer Stimmung sein, um sich lebendig, begeisterungsfähig und voll in das Leben und alles, was es uns entgegenwirft, eingebunden zu fühlen. Andernfalls treten wir nur auf der Stelle. Aber was verstehen wir unter Kreativität?

Die offensichtliche Antwort lautet: künstlerische Tätigkeiten wie Malerei, Musik, Literatur und die Berufe, die Kreativität fordern (und belohnen) wie Architektur, Wissenschaft, Design und Ingenieurwesen, um nur einige zu nennen.

Aber Kreativität ist viel universeller als das. Sie ist ein wichtiges Element jedes menschlichen Lebens. Wann immer wir eine Entscheidung treffen oder vor einer Herausforderung stehen, haben wir die Möglichkeit, kreativ zu sein: Wir können auf den Moment reagieren, indem wir einfach nicht das wiederholen, was wir immer zuvor getan haben (und an was wir vielleicht auch immer zuvor gescheitert sind). Jeder von uns hat täglich viele Gelegenheiten, kreativ zu sein, auf neue und durchdachte Weise zu handeln. Das ist es, was das Leben zu einem Abenteuer macht.

Aber Kreativität kann auch etwas Beängstigendes haben. Sie bedeutet einen Bruch mit dem Status quo und einen Schritt ins Ungewisse. Kreative Entscheidungen, selbst in den kleinsten Dingen, sind eine Möglichkeit, zu sagen, dass wir glauben, eine bessere Idee zu haben. Und dann kommt das Feedback – von anderen, aber auch von uns selbst: Was ist, wenn der neue Weg nicht so gut funktioniert? Was, wenn Sie die Dinge schlechter gemacht haben (zumindest in den Augen anderer, wenn auch vielleicht nicht in Ihren)? Was lässt Sie glauben, dass Sie überhaupt so kreativ sind? Wie Sie sehen, sind unsere kreativen Impulse und unsere Emotionen eng miteinander verflochten.

Viele von uns glauben, dass allein Persönlichkeit und Intelligenz unsere Fähigkeit, kreativ zu sein, antreiben. Oder dass Kreativität ein Alles-oder-Nichts-Geschenk ist und nicht eine Reihe von Fähigkeiten, die durch Übung verbessert werden können. Es stimmt, dass einige Persönlichkeitsmerkmale wie „Offenheit für Erfahrungen“ zuverlässig damit zusammenhängen, aber diese Merkmale allein erklären nicht alles. Und Studien bestätigen, dass Kreativität nur in bescheidenem Maße mit dem IQ zusammenhängt. Das heißt, Sie müssen kein Genie sein, um kreativ zu sein!

Hier reicht unser emotionales Leben sogar über das Persönliche hinaus. Kreativität ist das Lebenselixier unserer Kultur und unserer Wirtschaft. In einer Umfrage sagten 1.500 Unternehmenschefs, dass die Kreativität von Mitarbeitern der beste Indikator für künftigen Erfolg sei. Ohne Innovation stagnieren und sterben Gesellschaften.

Zur Kreativität gehören auch zwei weitere Faktoren: Leistung und Effektivität. Kreativität kann nicht nur theoretisch in unseren Köpfen und nirgendwo sonst existieren. Das wäre nur Einfallsreichtum! Auf den kreativen Prozess muss konkretes Handeln folgen. Sobald wir neue Strategien entwickeln, müssen wir das Vertrauen haben, diese auch anzuwenden. Effektive Leistung ist ebenso Teil der Kreativität wie die ursprüngliche, animierende Idee.

Aber ob wir jedes Mal alle Möglichkeiten ausschöpfen, ist eine andere Frage. Man kann mit Sicherheit sagen, dass wir uns alle zuweilen weniger kreativ fühlen, als wir es gern wären. Das liegt daran, dass unsere Kreativität so eng mit unserem emotionalen Zustand verbunden ist, auch wenn die Verbindung vielleicht nicht so offensichtlich ist.

In der Arbeit mit Lehrkräften, Familien und Kindern diskutieren wir immer wieder die allgegenwärtigen Probleme von Stress und Frustration – die Verzweiflung, das Gefühl zu haben, dass uns die Kraft fehlt, sinnvolle Veränderungen zum Besseren herbeizuführen. Wir können uns wohl kaum ein schlechteres Gefühl vorstellen. Für ein Kind kann dies verheerend sein; Kinder haben auch unter den besten Bedingungen wenig Kontrolle über ihr Leben. Wir alle durchleben harte Zeiten, aber die meisten von uns glauben, dass wir Lösungen finden können, wenn wir durchhalten. Das ist eine andere Form der Kreativität: Kreativität im Alltag und die Fähigkeit, immer wieder neue Antworten zu finden, wenn die alten nicht mehr funktionieren. Wie muss das Leben für die Kinder und Erwachsenen sein, die nicht einmal darauf hoffen können?

Wir können sehen, wie es sich in den Schulen abspielt. Kyung Hee Kim, Professorin an der School of Education am College of William & Mary, führte umfangreiche Studien über die Kreativität von Schulkindern durch und stellte fest, dass diese in den letzten zwei Jahrzehnten zurückgegangen ist. Ihre Schlussfolgerungen basieren auf den Ergebnissen der Torrance Tests of Creative Thinking (TTCT), die Kreativität messen, definiert als die Fähigkeit, auf Situationen auf neuartige und originelle Weise zu reagieren. Beispielsweise könnten Menschen nach allen denkbaren Verwendungsmöglichkeiten einer Büroklammer oder nach den Folgen gefragt werden, wenn Menschen nach Belieben unsichtbar werden könnten. Sie untersuchte normative Daten für die TTCT im Laufe der Zeit, vom Kindergarten bis zur Oberstufe, und schreibt: „Kinder sind heute weniger emotional ausdrucksstark, weniger energiegeladen, weniger gesprächig und verbal ausdrucksstark, weniger humorvoll, weniger fantasievoll, weniger unkonventionell, weniger lebendig und leidenschaftlich, weniger scharfsinnig, weniger in der Lage, scheinbar irrelevante Dinge zu verbinden, weniger synthetisierend und weniger geneigt, die Dinge aus einem anderen Blickwinkel zu sehen.“ Wem könnten wir die Schuld geben, außer den Eltern und einem Bildungssystem, das originelles Denken oft unterdrückt und Kinder dafür bestraft, dass sie ihre Fantasie nutzen? Unsere Schülerinnen und Schüler verstehen die Botschaft recht schnell aufgrund unserer Besessenheit von der Kindergarten-„Reife“ zum Schaden der Gesellschaft. Interessanterweise fand der Entwickler des Kreativitätstests, Dr. E. Paul Torrance, als er Kinder den Test machen ließ und diese Jahre später erneut aufsuchte, dass die Ergebnisse seiner berühmten Kreativitätstests ein besserer Indikator für die kreativen Leistungen Erwachsener waren als der IQ.

Wenn Psychologen über kreatives Denken diskutieren, verwenden sie oft die Begriffe konvergentes und divergentes Denken. Konvergentes Denken kommt bei der Suche nach nur einer richtigen Lösung für ein Problem oder nur einer richtigen Antwort auf eine Frage zum Einsatz und versucht, durch meist geradliniges, lineares Denken auf die Antwort zu kommen. Der divergente Ansatz bewegt sich in alle Richtungen – er geht davon aus, dass es viele mögliche Lösungen gibt, und versucht, jede einzelne zu berücksichtigen, insbesondere die kreativsten, ungewöhnlichsten.

Der Impuls, etwas zu erschaffen, scheint dem menschlichen Gehirn ganz von allein zu kommen. Wir müssen jedoch ermutigt werden, ihn auszuleben. In Schulen ist es schwer, kreativ zu sein, wenn konvergentes Denken – die Fähigkeit, sich Fakten zu merken und in standardisierten Tests gut abzuschneiden – am höchsten belohnt wird. Um Kinder zu begeistern und sie auf die Arbeitswelt vorzubereiten, muss man ihnen mehr Gelegenheiten geben und sie ermutigen, kreativ zu sein. Dazu müssen Schulen das Lernen so umstrukturieren, dass es unkonventionelles Denken und neue Ansätze zur Problemlösung in allen Bereichen fördert, nicht nur im Fach Kunst. Zum Beispiel beziehen immer mehr Schulen projektbasiertes Lernen und Design-Denken ein – ein fünfstufiger Prozess zur Lösung komplexer Probleme, der (1) die Definition eines Problems, (2) das Verständnis der menschlichen Bedürfnisse, (3) die Neuformulierung des Problems auf menschenzentrierte Art und Weise, (4) die Generierung einer Vielzahl von Ideen und (5) einen praktischen Ansatz beim Entwickeln und Testen von Prototypen umfasst.

Untersuchungen zeigen, dass divergentes Denken zu Gefühlen von Freude, Stolz und Zufriedenheit führt. Eine Studie in fünf Ländern mit vier verschiedenen Sprachen ergab, dass die Arbeit an kreativen Aufgaben zu einer Zunahme von positiven Emotionen und Autonomie führt. Eine andere Studie zeigte, dass kreatives Verhalten an einem bestimmten Tag zu mehr positiven Emotionen und einem Gefühl des Gelingens am nächsten Tag führt. Wie bei so vielem in unserem Gefühlsleben gibt es auch bei der Arbeit eine Feedback-Schleife: Dass wir uns gut fühlen, ermutigt uns zu kreativem Handeln, wodurch wir uns noch besser fühlen.

Aber Glück ist nicht der einzige Schlüssel zu Kreativität. Tatsächlich hat sich in einigen Fällen herausgestellt, dass ein bescheidenes Stressniveau die kreative Leistung im Vergleich zu überhaupt keinem Stress deutlich verbessert. Selbst Emotionen wie Wut und Ärger können als Motivation für kreatives Denken dienen und die Kreativität fördern. Nehmen Sie die Schüler der High School in Parkland, Florida. Sie haben ihre Wut über die schrecklichen Schießereien an den Schulen in eine überzeugende Kampagne rund um die Waffenreform gelenkt. Auch die Rolle des Mitgefühls beim kreativen Denken wurde untersucht. College-Schüler wurden durch eine Diashow über verzweifelte ältere Menschen dazu gebracht, Mitgefühl zu empfinden und anschließend gebeten, Ideen zu entwickeln und einen Grundriss für einen Büroempfangsbereich zu entwerfen, um ihn für die älteren Menschen einladender zu gestalten. Verglichen mit der Kontrollgruppe zeigten die „Mitgefühl“-Teilnehmer mehr Originalität im Denken. Eine Erklärung dafür ist, dass Mitgefühl eine Reaktion auf das Leiden anderer Menschen ist und daher eine intrinsische Motivation erzeugt, Lösungen zu entwickeln, die ihr Leiden verringert.

Kreativität ist besonders wichtig im Angesicht von Widrigkeiten – wenn wir enttäuscht sind, weil Plan A nicht funktioniert hat. Wenn wir uns bemüht haben und immer noch negative Rückmeldungen erhalten. Wenn jemand unserer Weiterentwicklung im Weg steht oder sogar versucht, sie zu verhindern. Zuerst müssen wir mit unserem Schmerz oder unserer Wut umgehen – wir dürfen diese nicht leugnen, sondern müssen sie akzeptieren und dann als motivierende Kraft einsetzen. Hier kann uns unsere Kreativität zu Hilfe kommen und uns erlauben, unser Ziel trotz Hindernissen zu erreichen.

Laut meiner Kollegin in Yale, Zorana Ivcevic Pringle, einer Kreativitätsforscherin, „sind Emotionen sowohl der Funke, der den Motor der Kreativität entzündet, als auch der Treibstoff, der das Feuer am Brennen hält, wenn andere Leute versuchen, es zu löschen oder wenn das Brennmaterial zur Neige geht“. Emotionen beherrschen den gesamten kreativen Prozess, von der Motivation zur kreativen Arbeit über die Generierung von Ideen bis hin zum Beharren auf der Verwirklichung unserer eigenen Ideen. Es ist die Herausforderung, die uns antreibt, dranzubleiben.

Sehen Sie nun, wie komplex die einfache Frage „Wie fühlen Sie sich?“ wirklich sein kann? Diese emotionale Achterbahnfahrt ist keine Kleinigkeit – sie hat einen enormen Einfluss auf die wichtigsten Bereiche unseres Lebens. Religiöse Führer, Dichter und Dramatiker wissen das seit Jahrhunderten; in den letzten Jahrzehnten hat die Wissenschaft begonnen aufzuholen. Jetzt wissen wir besser als die Menschen in der Antike (und späteren Jahrhunderten), inwieweit Emotionen alles andere bestimmen. Das ist der erste Schritt, um zu akzeptieren, wer wir wirklich sind. Was ist also der nächste Schritt?

Die Kraft der Gefühle

Подняться наверх