Читать книгу Die Kraft der Gefühle - Marc Brackett - Страница 8

Kapitel 2
Emotionen sind Information

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Also, wie fühlen Sie sich?

Es handelt sich nicht um eine Fangfrage. Aber sie ist komplizierter, als sie klingt. Wir fühlen immer etwas, meistens mehr als eine Sache auf einmal. Unsere Emotionen sind ein kontinuierlicher Fluss, kein gelegentlich auftretendes Ereignis. In jedem von uns gibt es einen Fluss, der manchmal ruhig dahinfließt, aber zu anderen Zeiten wild ist und über die Ufer tritt. Es gibt viel zu navigieren.

Stellen Sie sich selbst in dem Moment vor, in dem Sie erwachen. Selbst dann, wenn Sie langsam wieder zu Bewusstsein kommen, fühlen Sie etwas. Vielleicht sehnen Sie sich verzweifelt danach, noch eine Stunde liegen zu bleiben. Oder Sie fühlen sich voll aufgeladen und bereit, aus dem Bett zu springen. An einem schlechten Tag schaudern Sie vielleicht bei dem Gedanken an Ihren Arbeitsweg oder davor, was Sie in ein paar Stunden bei der Arbeit erwartet. Es könnte regnen, was Ihre Stimmung noch mehr trüben könnte. Oder Sie könnten sich rundum fröhlich und voller Energie fühlen, dank dem, was Sie später tun werden. Vielleicht spüren Sie große Erleichterung, weil Ihnen einfällt, dass heute Samstag ist. Oder Sie freuen sich auf einen Tag, der von Kreativität und Aufregung erfüllt sein wird. In zehn Minuten könnte Ihr emotionaler Zustand völlig anders sein, je nachdem, was Sie in den Morgennachrichten gesehen haben, was Ihre Lebensgefährtin Ihnen über ihre Pläne für heute Abend erzählt hat oder was Ihnen gerade an den Dachziegeln aufgefallen ist. Unser Gefühlsleben ist eine Achterbahn, die in einem Moment hoch hinauffährt und im nächsten Moment wieder steil nach unten führt.

Stellen Sie sich vor, wie es für Kinder sein muss. Derselbe konstante Fluss von Gefühlen, von erdrückend negativen bis zu euphorisch positiven Gefühlen – von dem Moment an, in dem sie morgens aufwachen, den ganzen Schultag über bis zu dem Moment, in dem sie einschlafen. Nur haben die Kinder noch nicht gelernt, wie sie mit ihren Gefühlen umgehen sollen – wie sie das, was ihnen im Moment unangenehm ist, unterdrücken und beiseiteschieben, wie sie positive Gefühle zum größtmöglichen Nutzen kanalisieren können. Sie erleben alles so intensiv – Langeweile, Frustration, Angst, Sorge, Aufregung, Hochgefühl. Und sie sitzen stundenlang in einem Klassenzimmer, wobei erwartet wird, dass sie auf jedes Wort achten, das eine Lehrkraft spricht, die wahrscheinlich unter einem ähnlichen emotionalen Druck steht. Die Gehirne von Kindern sind weniger entwickelt als unsere, ihre Abwehrkräfte sind weniger robust, und doch sind die Flüsse der Emotionen, die durch die Kinder fließen, oft stärker als die, die wir erleben. Es ist ein Wunder, dass Kinder überhaupt etwas lernen.

Es gibt so viel zu bewältigen, in jeder Sekunde. Wir können uns nicht jede Minute auf unsere Emotionen konzentrieren. Wir hätten weder die Zeit noch die Konzentration, um noch etwas anderes zu tun. Wir können jedoch nicht durchs Leben gehen und ignorieren, was wir fühlen, oder die Bedeutung davon herunterspielen. Alle Emotionen sind eine wichtige Informationsquelle über das, was in uns vorgeht. Unsere vielfältigen Sinne bringen uns Nachrichten aus unserem Körper, unserem Verstand und der Außenwelt, und dann verarbeitet und analysiert unser Gehirn diese und formt daraus unsere Erfahrung. Wir nennen das ein Gefühl.

Wir Menschen missachten jedoch unsere Gefühle schon seit Langem. Seit Jahrtausenden, noch bevor die stoischen Philosophen des antiken Griechenlands argumentierten, dass Emotionen unberechenbare, eigenwillige Informationsquellen seien. Vernunft und Erkenntnis wurden als höhere Mächte in uns angesehen, die Idee der „emotionalen Intelligenz“ wäre früher unvorstellbar gewesen, ein Widerspruch in sich selbst. Seitdem hat uns ein großer Teil der westlichen Literatur, Philosophie und Religion gelehrt, dass Emotionen eine Art innere Einmischung sind und einem gesunden Urteilsvermögen und rationalem Denken im Wege stehen. Es ist kein Zufall, dass wir immer noch gern denken, dass Intelligenz und Emotionen aus zwei völlig getrennten Teilen unseres Körpers kommen – die eine aus dem Kopf, die anderen aus dem Herzen. Was wurde uns darüber beigebracht, welchem der beiden Teile wir mehr vertrauen sollten?

Wissenschaftler mochten Emotionen nicht, weil sie im Gegensatz zur Intelligenz nicht mit standardisierten Tests gemessen werden können. Der IQ beruht in erster Linie auf „kalten“ kognitiven Prozessen wie dem Erinnern einer Zahlenreihe oder historischer Fakten. Die emotionale Intelligenz hingegen beruht auf „heißen“, sozial-emotional-kognitiven Prozessen, die oft aufgeladen, beziehungsorientiert und darauf ausgerichtet sind, Gefühle und Verhaltensweisen zu bewerten, vorherzusagen und damit umzugehen – unsere eigenen und die anderer Menschen.

Aus diesem Grund setzte das um 1900 formalisierte Studium der Intelligenz die Tradition der Missachtung von Emotionen fort. Während des größten Teils des 20. Jahrhunderts debattierten Psychologen und Philosophen noch immer darüber, ob Emotionen in irgendeiner Weise mit logischem Denken und intelligentem Verhalten zusammenhängen. Es ist kein Wunder, dass die Identifizierung einer emotionalen Intelligenz im Vergleich zu anderen Arten erst spät erfolgte.

Dann, im Jahr 1990, führten die Psychologen Peter Salovey und John Mayer die erste formale Theorie der emotionalen Intelligenz in die wissenschaftliche Literatur ein. Sie definierten sie als „die Fähigkeit, die eigenen Gefühle und Emotionen und die anderer zu beobachten, zwischen ihnen zu unterscheiden und diese Informationen zu nutzen, um das eigene Denken und Handeln zu lenken“.

In Yale interviewte ich Salovey, der sagte: „Ende der 1970er-Jahre begann ich in einem Labor am College menschliche Emotionen zu studieren. Zu dieser Zeit gab es in der Psychologie kein großes Interesse an Emotionen. Die kognitive Revolution war in vollem Gange und die Menschen betrachteten Emotionen als ‚Lärm‘. Die Vorstellung war, dass wir Emotionen haben, aber diese nichts Wichtiges besagen. Ich konnte einfach nicht glauben, dass das stimmte, und war daher hoch motiviert, Emotionen zu untersuchen, um zu zeigen, dass sie auf positive Weise wichtig sind. Ich wollte zeigen, dass wir aus einem bestimmten Grund ein emotionales System haben. Dass wir ein emotionales System haben, das uns hilft, durchs Leben zu kommen.“

Emotionale Intelligenz war eine Synthese aus drei aufkeimenden Bereichen der wissenschaftlichen Forschung, die zeigte, dass Emotionen, wenn sie vielfältig genutzt werden, logisches Denken und komplexe Problemlösungen unterstützen.

Am Anfang stand die Wiederentdeckung von Charles Darwins funktionaler Sichtweise der Emotionen. Im 19. Jahrhundert leistete er Pionierarbeit bei der Idee, dass Emotionen wertvolle Informationen signalisieren und ein adaptives Verhalten anregen, das für das Überleben von zentraler Bedeutung ist. Die Angst bekam schließlich das ihr gebührende Recht, da sie in der Tat sehr nützlich ist, insbesondere in den Anfängen unserer Art in einer Umgebung mit vielen Gefahren. Es geht nichts über die hilfreiche Furcht, die einen dazu bringt, aufzustehen und vor einer hungrigen Säbelzahnkatze zu fliehen.

Als Nächstes folgten Hinweise darauf, wie Emotionen und Stimmungen eine wesentliche Rolle bei Denkprozessen, Urteilen und Verhalten spielen. Sozialwissenschaftler, die clevere Experimente durchführten, und Hirnforscher, die verschiedene Hirnregionen untersuchten, begannen zu entdecken, wie Emotionen mit Kognition und Verhalten interagieren. Die Forschung zeigte, dass Emotionen unserem Denken Sinn, Priorität und Fokus verleihen. Sie sagen uns, was wir mit dem Wissen tun sollen, das unsere Sinne liefern. Sie motivieren uns zum Handeln.

Psychologen schlugen die Idee einer „kognitiven Schleife“ vor, die unsere Stimmung mit unserem Urteil verbindet. Wenn eine Person beispielsweise gut gelaunt ist, hat sie mit größerer Wahrscheinlichkeit positive Gedanken und Erinnerungen, die wiederum die Person dazu veranlassen, über positive Dinge nachzudenken (die Schleife). In einer klassischen Studie setzte der Psychologe Gordon Bower von der Stanford University Hypnose ein, um Probanden glücklich oder traurig zu machen. Dann mussten sie drei Aufgaben erfüllen: Wortlisten abrufen, Einträge in ein Tagebuch schreiben und sich an Erlebnisse aus der Kindheit erinnern. Versuchspersonen, die sich traurig fühlten, erinnerten sich an mehr negative Erinnerungen und negative Worte und erinnerten sich an mehr unangenehme Ereignisse für ihre Tagebücher. Ebenso erinnerten sich die Probanden, die sich glücklich fühlten, an fröhlichere Erinnerungen, Worte und positivere Ereignisse. In einer anderen Studie der verstorbenen Alice Isen, Professorin an der Cornell University, und ihrer Kollegen wurde einigen Personen eine Komödie und anderen überhaupt kein Film gezeigt. Im Anschluss folgte ein Test auf kreatives Denken. Die Ergebnisse zeigten eine deutliche Zunahme der Kreativität bei denjenigen, die den Film gesehen hatten – denjenigen, die sich in einem „Positiver-Effekt-Zustand“ befanden – im Vergleich zu den Probanden der anderen Gruppe. Es ist eine natürliche Voreingenommenheit – wir alle nehmen „stimmungskongruente“ Informationen am leichtesten wahr und rufen sie ab. Es ist nur eine von vielen Möglichkeiten, wie unsere Emotionen unser Denken beeinflussen.

Der dritte Bereich wissenschaftlicher Untersuchungen war die Suche nach „alternativen“ Intelligenzen, die ein breites Spektrum geistiger Fähigkeiten umfassen sollten statt einer einzelnen geistigen Fähigkeit: den IQ. Unter den Forschern herrschte zunehmende Frustration über die Unfähigkeit von IQ-Tests, wichtige Ergebnisse im Leben von Personen zu erklären. Howard Gardner, Professor an der Harvard University, schlug eine Theorie der multiplen Intelligenzen vor, die Pädagogen und Wissenschaftlern riet, einen größeren Schwerpunkt auf Fähigkeiten zu legen, die über verbale und mathematische Befähigungen hinausgehen, wie intrapersonale (das Bewusstsein der eigenen Stärken und Schwächen) und interpersonale (die Fähigkeit, effektiv zu kommunizieren und sich in andere hineinzuversetzen) Kompetenzen. Andere Forscher, darunter Robert Sternberg, ein Psychologe, der heute an der Cornell University lehrt, schlugen eine Theorie der „erfolgreichen Intelligenz“ vor und forderten Wissenschaftler und Pädagogen auf, kreative und praktische Fähigkeiten in Betracht zu ziehen. Nancy Cantor und John Kihlstrom, Psychologen an der Stanford University, bauten auf Forschungen von Edward Thorndike in den 1920er-Jahren auf und drängten auf einen stärkeren Fokus auf „soziale Intelligenz“ – die Fähigkeit, Wissen über die soziale Welt zu sammeln, Menschen zu verstehen und in sozialen Beziehungen klug zu handeln.

In den späten 1990er-Jahren hatte die emotionale Intelligenz endlich Gleichstand mit den anderen Formen der Intelligenz erreicht. Neurowissenschaftler, Psychologen und Intelligenzforscher waren sich einig, dass Emotion und Kognition Hand in Hand arbeiten, um eine anspruchsvolle Informationsverarbeitung durchzuführen. Es begann sich eine Forschung abzuzeichnen, die zeigte, dass es individuelle Unterschiede in der Fähigkeit der Menschen gibt, mit und über Emotionen zu denken. So zeigte die Forschung zum Beispiel ein breites Spektrum an Fähigkeiten, Emotionen im Gesichtsausdruck genau wahrzunehmen und Emotionen zu regulieren.

Alles in diesem Buch basiert auf den letzten fünf Jahrzehnten der Forschung über die Rollen, die Emotionen in unserem Leben spielen. Auf ihrer höchsten Ebene, aus evolutionärer Sicht, haben Emotionen einen äußerst praktischen Zweck: Sie sichern unser Überleben. Sie machen uns intelligenter. Wenn wir sie nicht bräuchten, gäbe es sie nicht.

Ich habe fünf Bereiche herausgearbeitet, in denen unsere Gefühle am wichtigsten sind – die Aspekte unseres Alltagslebens, die am stärksten von unseren Emotionen beeinflusst werden. Erstens bestimmt unser emotionaler Zustand, worauf wir unsere Aufmerksamkeit lenken, woran wir uns erinnern und was wir lernen. Als Zweites folgt die Entscheidungsfindung: Wenn wir von starken Emotionen wie Ärger oder Traurigkeit, aber auch Hochgefühl oder Freude gepackt werden, nehmen wir die Welt anders wahr, und die Entscheidungen, die wir in diesem Moment treffen, werden beeinflusst, im Guten wie im Schlechten. Als Drittes folgen unsere sozialen Beziehungen. Was wir fühlen – und wie wir die Gefühle anderer Menschen interpretieren – sendet Signale aus, uns anzunähern oder aus dem Weg zu gehen, uns anderen anzuschließen oder Abstand zu halten, zu belohnen oder zu bestrafen. Der vierte Bereich ist der Einfluss von Emotionen auf unsere Gesundheit. Positive und negative Emotionen verursachen unterschiedliche physiologische Reaktionen in unserem Körper und Gehirn; sie setzen starke Chemikalien frei, die wiederum unser körperliches und geistiges Wohlbefinden beeinträchtigen. Und der fünfte Bereich hat mit Kreativität, Effektivität und Leistung zu tun. Um große Ziele zu erreichen, gute Noten zu bekommen und als Team bei der Arbeit erfolgreich zu sein, müssen wir unsere Emotionen so einsetzen, als wären sie Werkzeuge. Was sie natürlich auch sind – oder sein können.

Die Kraft der Gefühle

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