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Emotionen und Aufmerksamkeit, Gedächtnis und Lernen

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Jedes Lernen hat eine emotionale Grundlage.

— Plato

Beginnen wir damit, dass wir untersuchen, wie unsere Emotionen unsere Aufmerksamkeit und unser Gedächtnis beeinflussen, die zusammen unsere Lernfähigkeit bestimmen.

Denken Sie darüber nach: Emotionen bestimmen, was Ihnen im Moment wichtig ist. Wenn wir uns zu Tode langweilen oder vom kommenden Wochenende träumen, nehmen wir das, was wir gerade auf dieser Seite lesen, wahrscheinlich nicht auf. Wenn wir Angst haben, dann beschäftigt die Quelle dieser Angst all unsere Gedanken. Wenn das Haus brennt, haben wir nur ein Ziel: Raus hier! Wenn wir plötzlich in körperliche Gefahr geraten – sei es, dass wir beim Wandern einem knurrenden Bären gegenüberstehen oder nachts in der Stadt spazieren gehen und von einem bewaffneten Fremden gestoppt werden – hören wir praktisch auf, an etwas anderes zu denken. Die Natur hat unsere Gehirne so verkabelt, und das ist gut so: Jede Ablenkung in diesem Moment könnte sich als tödlich erweisen.

Die Furcht vor nicht greifbaren Gefahren – Verlegenheit, Scham, albern oder nicht zum Anlass passend gekleidet zu sein – funktioniert auf ähnliche Weise. Wir können sie als Angst oder Sorge statt als Terror erleben. Die Emotion kann sogar uns selbst eitel und irrational erscheinen. Das spielt keine Rolle. Wie wir gesehen haben, sind Gefühle höchst unempfindlich gegenüber kalter Logik. Wenn wir unter allen Umständen ein ungünstiges Ergebnis erwarten, sind wir gehemmt und können kaum an etwas anderes denken. Vielleicht sollte unsere Aufmerksamkeit woanders sein, aber wir können unsere Gedanken in diesem Moment nicht umlenken.

Starke negative Emotionen (Furcht, Wut, Angst, Hoffnungslosigkeit) verengen unseren Fokus – es ist, als ob unsere periphere Sicht abgeschnitten wäre, weil wir uns so sehr auf die Gefahr konzentrieren, die im Vordergrund steht. Dieses Phänomen hat auch eine physiologische Seite. Wenn diese negativen Gefühle vorhanden sind, reagiert unser Gehirn mit der Ausschüttung von Cortisol, dem Stresshormon. Dadurch wird der präfrontale Kortex daran gehindert, Informationen effektiv zu verarbeiten, sodass selbst auf neurokognitiver Ebene unsere Fähigkeit zum Fokussieren und Lernen beeinträchtigt ist. Sicherlich kann ein moderates Maß an Stress – das Gefühl, herausgefordert zu werden – unsere Konzentrationsfähigkeit verbessern. Es ist chronischer Stress, der toxisch ist und das Lernen biologisch herausfordernd macht. Deshalb war ich in der Mittelstufe ein schlechter Schüler. Ich war zu sehr von familiären Problemen und Mobbing überwältigt, um im Unterricht geistig präsent zu sein. Als ich 40 Jahre alt war, fuhr ich in meine Heimatstadt, um meine alte Schule zu besuchen. Zwei unvergessliche Dinge geschahen. Erstens hatte ich in dem Moment, als ich die Schule betrat, eine viszerale Reaktion: Ich fühlte erneut die Angst und die Scham. Ich verwandelte mich umgehend wieder in den verletzlichen 13-jährigen Jungen. Zweitens konnte ich mich nur an Dinge erinnern, die mit meinen Mobbing-Erfahrungen zusammenhingen. Ich konnte mich weder an die Namen der meisten Lehrkräfte noch an irgendeinen Unterrichtsstoff erinnern, den ich gelernt hatte.

Es sind nicht nur negative Gefühle, die unsere geistige Leistungsfähigkeit beeinträchtigen können. Nehmen wir an, ein High-School-Schüler befindet sich in der Gewalt des typischen hormonellen Hurrikans, der die meisten Teenager heimsucht. Geschichtsunterricht kann einfach nicht mit romantischen Fantasien mithalten, die viel mehr Spaß bringen. Es ist ein Wunder, dass es Jugendlichen gelingt, etwas zu lernen, wenn man sich all die berauschenden Tagträume vor Augen führt, mit denen unser Kopf in diesem Alter voll war. Jüngere Kinder sind nicht weniger besessen, aber sie stellen sich vor, was sie Tolles tun werden, wenn der Schultag vorbei ist oder sie in den Ferien nach Disney World fahren. Freude und Ausgelassenheit sind so stark wie jede andere Emotion, wenn es um unsere Fähigkeit geht, unsere Gedanken dorthin zu lenken, wo wir sie haben wollen. Anstatt die Produktion von Cortisol zu stimulieren, werden positive Emotionen im Allgemeinen mit der Freisetzung von Serotonin, Dopamin und anderen „Wohlfühl“-Neurochemikalien in Verbindung gebracht, die ihren Einfluss auf unser Denken und Verhalten ausüben.

Die Forschung zeigt heute, dass unterschiedliche Emotionen unterschiedlichen Zwecken des Lernens dienen. Wenn wir unsere kritischen Fähigkeiten einsetzen müssen – wenn wir zum Beispiel einen Brief, den wir geschrieben haben, redigieren müssen und nach Fehlern suchen und diese korrigieren wollen – kann uns eine negative Geisteshaltung besser dienen als ihr Gegenteil. Pessimismus kann es uns leichter machen, Dinge vorauszusehen, die schiefgehen könnten, und dann die richtigen Maßnahmen zu ergreifen, um diese zu verhindern. Schuldgefühle wirken wie ein moralischer Kompass. Angst treibt uns dazu an, Dinge zu verbessern, die wir in einer großzügigeren Stimmung zu akzeptieren bereit wären. Sogar Wut ist eine große Motivation – im Gegensatz zur Resignation bringt sie uns dazu, zu handeln und vielleicht sogar das zu korrigieren, was uns überhaupt wütend gemacht hat. Wenn wir wütend sind, weil wir sehen, wie jemand misshandelt wird, stehen wir wahrscheinlich auf und schreiten ein.

Stellen Sie sich vor, Sie fühlen sich fröhlich und aufgedreht, schwindlig vor Aufregung, während Sie ein Bewerbungsschreiben fertigstellen. Das ist möglich, aber es ist gesunde Angst, nicht Freude, die uns dazu bringen kann, unsere Interpunktion und Satzstruktur dreifach zu überprüfen. Negative Emotionen haben eine konstruktive Funktion: Sie helfen uns, unsere Aufmerksamkeit einzuengen und zu fokussieren. Es ist Traurigkeit, nicht Freude, die uns helfen kann, ein schwieriges Problem zu bewältigen. Es ist Begeisterung, die viele Ideen hervorbringt. Aber zu viel Enthusiasmus bringt einer Gruppe nicht den nötigen Konsens – er zerstreut die Energie, die für den Entscheidungsfindungsprozess bei dem vorliegenden Problem notwendig ist, sei es mathematisch oder zwischenmenschlich.

Wir erleben derzeit eine scheinbare Krise im Bildungswesen. Unsere Kinder sind müde, gelangweilt und gestresst. Die Lehrkräfte sind frustriert, stehen unter Druck und sind überfordert. Viele sind innerlich ausgestiegen und die Fehlzeiten sind auf Rekordhöhe. Wie haben wir darauf reagiert? Indem wir versucht haben, das Verhalten der Schülerinnen und Schüler noch stärker zu kontrollieren, als wir es bereits tun. Oder indem wir neue Mathematik- und Alphabetisierungsprogramme einführen oder strengere Lernstandards festlegen. Keine dieser Lösungen befasst sich mit der Tatsache, dass das Gefühl der Schulkinder dem, was sie lernen, Bedeutung verleiht. Die Forschungsergebnisse sind klar: Emotionen bestimmen, ob Bildungsinhalte wirklich verarbeitet werden und in Erinnerung bleiben. Die Verknüpfung von Emotionen mit dem Lernen stellt sicher, dass die Kinder den Unterricht im Klassenzimmer als relevant empfinden. Das ist es, was sie dabei unterstützt, ihre Absicht und Leidenschaft zu entdecken, das ist es, was sie beharrlich bleiben lässt. Wann immer wir merken, dass wir plötzlich Schwierigkeiten mit unserer Aufmerksamkeit, Konzentration oder dem Erinnern haben, sollten wir uns fragen: Welche emotionalen Informationen befinden sich direkt unter der Oberfläche unserer Gedanken? Und was können wir tun, um unsere Gedanken wieder in den Griff zu bekommen?

Die Kraft der Gefühle

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