Читать книгу Die Kraft der Gefühle - Marc Brackett - Страница 5

Vorwort

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Okay, bringen wir zuerst die einfachen Fragen hinter uns: Was soll dieser Titel? Seit wann braucht irgendjemand eine Erlaubnis zu fühlen?* Es ist wahr, dass wir alle mehr oder weniger ununterbrochen, in jedem wachen Moment – sogar in unseren Träumen – Gefühle haben, ohne zu fragen oder um die Zustimmung einer anderen Person zu bitten. Mit dem Fühlen aufzuhören wäre wie mit dem Denken aufzuhören. Oder mit dem Atmen aufzuhören. Das ist unmöglich. Unsere Emotionen sind ein großer Teil – vielleicht der größte Teil – dessen, was uns menschlich macht.

Und doch gehen wir durchs Leben und versuchen hartnäckig so zu tun, als ob das Gegenteil zutrifft. Unsere wahren Gefühle können chaotisch, unbequem, verwirrend sein und sogar süchtig machen. Sie lassen uns verwundbar und ungeschützt zurück, nackt vor der Welt. Sie bringen uns dazu, Dinge zu tun, von denen wir uns wünschen, wir hätten sie nicht getan. Es ist kein Wunder, dass unsere Emotionen uns manchmal Angst machen. Sie scheinen außerhalb unserer Kontrolle zu liegen. Zu oft tun wir unser Bestes, sie zu verleugnen oder zu verstecken – sogar vor uns selbst. Unsere Einstellung ihnen gegenüber wird an unsere Kinder weitergegeben, die uns beobachten und von uns, ihren Vorbildern, Eltern und Lehrern, lernen. Unsere Kinder nehmen die Botschaft laut und deutlich wahr, sodass auch sie bald gelernt haben, selbst die dringendsten Botschaften aus ihrem tiefsten Inneren zu unterdrücken. Genau wie wir gelernt haben, es zu tun.

Sie haben noch nicht einmal angefangen, dieses Buch zu lesen, aber ich wette, Sie wissen bereits, wovon ich spreche.

Wir verweigern uns – und einander – also die Erlaubnis zu fühlen. Wir verdrängen unsere Gefühle, unterdrücken sie, überspielen sie. Wir weichen dem schwierigen Gespräch mit unserer Kollegin aus, wir rasten gegenüber einem geliebten Menschen aus und wir essen hilflos eine ganze Tüte Kekse und haben keine Ahnung, warum. Wenn wir uns selbst die Erlaubnis verweigern, fühlen zu dürfen, entsteht eine lange Liste unerwünschter Folgen. Wir verlieren die Fähigkeit, auch nur zu erkennen, was wir fühlen – wir werden, ohne es zu merken, innerlich ein wenig gefühllos. Wenn das passiert, sind wir nicht mehr in der Lage zu verstehen, warum wir eine Emotion erleben oder was in unserem Leben geschieht, das diese verursacht.

Deshalb sind wir nicht in der Lage, diese zu benennen und können sie auch nicht in Worte fassen, die die Menschen um uns herum verstehen würden. Und wenn wir nicht erkennen, verstehen oder in Worte fassen können, was wir fühlen, ist es für uns unmöglich, etwas dagegen zu tun und unsere Gefühle zu beherrschen – sie nicht zu leugnen, sondern sie alle zu akzeptieren, ja sogar willkommen zu heißen – und zu lernen, unsere Gefühle für uns arbeiten zu lassen, nicht gegen uns.

Ich verbringe jede Minute meines beruflichen Lebens damit, mich mit diesen Fragen zu beschäftigen. Durch meine akademische Forschung und viele Erfahrungen aus dem wirklichen Leben, insbesondere im Bildungsbereich, habe ich gesehen, welch schreckliche Kosten unsere Unfähigkeit, gesund mit unseren Emotionen umzugehen, verursacht.

Hier sind einige Zahlen aus den USA und Deutschland:

• Im Jahr 2017 haben in den USA etwa 8 Prozent der Jugendlichen im Alter von 12 bis 17 Jahren und 25 Prozent der jungen Erwachsenen im Alter von 18 bis 25 Jahren zum Zeitpunkt der Umfrage illegale Drogen konsumiert. In Deutschland war dies laut einer Studie der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA) bei über 10 Prozent der 12- bis 17-Jährigen und bei fast der Hälfte (47,2 Prozent) der 18- bis 25-Jährigen im Jahr 2019 der Fall.

• Die Zahl der Vorfälle von Mobbing und Belästigung im primären und sekundären Bildungsbereich in den USA, die der Anti-Defamation League gemeldet wurden, hat sich zwischen 2015 und 2017 jedes Jahr verdoppelt.

• Laut einer Gallup-Umfrage aus dem Jahr 2014 berichteten 46 Prozent der Lehrkräfte über großen täglichen Stress während des Schuljahrs. Damit erreichen sie gleichauf mit Pflegepersonal den höchsten Wert aller Berufsgruppen.

• Eine Gallup-Umfrage aus dem Jahr 2018 ergab, dass über 50 Prozent der Beschäftigten keine Bindung zu ihrer Arbeit empfinden, 13 Prozent von ihnen sind „unglücklich“. Laut der Studie „Arbeiten in Deutschland“ aus dem Jahr 2019 sind 11 Prozent der Angestellten „eher unzufrieden bis vollkommen unzufrieden“.

• Von 2016 bis 2017 berichtete mehr als jeder dritte Studierende an 196 US-Universitäten, eine diagnostizierte psychische Erkrankung zu haben. Einige Universitäten berichteten von einem 30-prozentigen Anstieg der psychischen Gesundheitsprobleme pro Jahr.

• Laut dem Weltglücksreport 2019 haben negative Gefühle, darunter Sorge, Traurigkeit und Wut, weltweit zugenommen: um 27 Prozent im Zeitraum von 2010 bis 2018.

• Angsterkrankungen sind die häufigste psychische Erkrankung in den USA und betreffen dort 25 Prozent der Kinder zwischen 13 und 18 Jahren.

• Depressionen sind weltweit die Hauptursache für Berufsunfähigkeit.

• Weltweite psychische Gesundheitsprobleme könnten die Weltwirtschaft bis zum Jahr 2030 bis über 13 Billionen Euro kosten. Dazu gehören direkte Kosten für Gesundheitsversorgung und Medikamente oder andere Therapien sowie indirekte Kosten wie Produktivitätsverluste.

Wir scheinen es vorzuziehen, mehr Geld und Mühe für den Umgang mit den Folgen unserer emotionalen Probleme auszugeben als zu versuchen, diese zu verhindern.

Ich habe ein persönliches Interesse an den schlimmen Dingen, die passieren, wenn wir uns selbst nicht erlauben zu fühlen. Das bedeutet, dass es auch mir so ging, aber dank einer Person, die sich um mich gesorgt hat, habe ich den Zustand lebend überwunden. Auch davon werde ich berichten.

Nur einige wenige unter uns, die von Natur aus einfühlsam sind, können behaupten, die in diesem Buch besprochenen Kompetenzen zu besitzen, ohne sie sich bewusst angeeignet zu haben. Ich musste sie lernen. Und es sind Kompetenzen. Alle Persönlichkeitstypen – laut oder leise, fantasievoll oder praktisch veranlagt, neurotisch oder fröhlich – werden feststellen, dass diese Kompetenzen uns zugänglich sind und sogar lebensverändernd. Es sind klare, einfache und erprobte Kompetenzen, die jede Person in fast jedem Alter erwerben kann.

Kürzlich habe ich in einem der schwierigsten Schulbezirke der USA einen Kurs für Verwaltungsangestellte gegeben. Ich wurde gewarnt: „Sie werden dich bei lebendigem Leib auffressen.“ Beim Mittagessen am ersten Tag stand ich in der Kantine in der Schlange neben einem Schulleiter. Um Smalltalk zu machen, fragte ich ihn: „Was halten Sie von dem Kurs bisher?“ Er sah mir in die Augen, schaute dann auf das Essen und sagte: „Der Nachtisch sieht ziemlich gut aus.“ In diesem Moment wurde mir klar, womit ich es zu tun hatte. Ich bin Widerstand gewohnt, aber seine Haltung traf mich hart. In diesem Moment beschloss ich, dass er mein Projekt sein würde. Sein Vorgesetzter stand voll und ganz hinter der Sache, aber es war klar, dass wir in diesem Distrikt nur dann Erfolg haben würden, wenn auch Schulleiter wie dieser hier an die Sache glaubten.

Nach zwei Tagen des intensiven Workshops traf ich ihn wieder. „Als wir uns neulich trafen, waren Sie nicht so sicher, ob dieser Kurs Ihnen etwas bringen würde“, sagte ich. „Ich bin neugierig. Jetzt, wo Sie zwei Tage damit verbracht haben, etwas über Emotionen zu lernen und darüber, wie Sie emotionale Kompetenzen an Ihrer Schule integrieren können, was denken Sie?“

„Nun, ich werde es Ihnen sagen“, sagte er und hielt inne, um seine Gedanken zu sammeln. „Mir wird jetzt klar, dass ich nicht wusste, was ich nicht wusste. Die Sprache der Gefühle war mir fremd.“

Das war ermutigend, dachte ich. Dann fuhr er fort. „Also, danke, dass Sie mir die Erlaubnis gegeben haben zu fühlen.“ Fangen wir damit an.

* Diese beiden Fragen beziehen sich auf den englischen Titel „Permission to feel“, der wortwörtlich übersetzt „Erlaubnis zu fühlen“ bedeutet; Anm. d. Verlags.

Die Kraft der Gefühle

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