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26.Cerro Paranal, Plattform des VLT (Chile) – 11. Oktober, 15:58 Uhr Ortszeit
ОглавлениеDer rote Pick-up raste mit zunehmender Geschwindigkeit die breite Straße hinunter. Paul Rodriguez hatte nur wenige Handlungsoptionen. Er konnte versuchen, den Wagen vor dem Durchbrechen der Leitplanke und dem Sturz in den dahinterliegenden Abgrund durch einen Sprung zu verlassen. Bei fast einhundert Stundenkilometern schien diese Option aber wenig erfolgversprechend. Es gab keine Böschung oder sonstige Vegetation am Straßenrand, die einen Sturz auch nur annähernd dämpfen würde. Rodriguez war in den wenigen Sekunden, seit er keinen Widerstand mehr beim Treten des Bremspedals gespürt hatte, schweißgebadet. Sein Gehirn arbeitete verzweifelt die verbleibenden Alternativen in Sekundenbruchteilen ab. Nach der Bewertung aller Möglichkeiten entschied er sich für ein hochriskantes Abbremsmanöver an der Felswand. Er griff das Lenkrad fester und steuerte behutsam nach rechts. Der Wagen folgte der Anweisung und das rechte Vorderrad spürte den Rand der steinigen Bankette. Es rüttelte heftig. Der Schotter trommelte gegen den Radkasten. Der Tacho zeigte 105 km/h. Rodriguez zog das Lenkrad weiter nach rechts. Der vordere Kotflügel berührte als erstes den felsigen Hang. Gestein und Lavasand spritzten nach oben. Die Lenkung gab die Schläge weiter an seine Hände, die das Lenkrad noch fester umklammerten. Er hielt dagegen. Die Geschwindigkeit war auf 98 km/h gesunken. Es scheint zu funktionieren, dachte er und blickte gebannt auf das zu allen Seiten spritzende Geröll.
Die Kehre war auf etwa 60 Meter näher gekommen. Verdammt, es wird eng. Für einen Alternativplan war es zu spät. Es blieb nur diese eine Möglichkeit. Rodriguez zog das Steuer weiter nach rechts und beobachtete den Tacho. 95 km/h … 90 km/h … 85 km/h. Der Erfolg machte ihm Mut. Er atmete hektisch.
Plötzlich kam ein heftiger Schlag an seinen Unterarmen an. Er musste irgendetwas überfahren haben. Das Blut schoss ihm bis in die Haarspitzen. Es rüttelte heftig am Lenkrad. Dann hielt er den Atem an und sah hoch. Der rechte Vorderreifen hatte an einem spitzen Felsvorsprung versagt. Der Wagen war nicht mehr in seiner Gewalt und die Kehre war bis auf 30 Meter näher gekommen.
Rodriguez wurde von Verzweiflung gelähmt. Die Gedanken schweiften ab zu seiner jungen Geliebten. So darf es nicht zu Ende gehen. Sein Gehirn begann erneut, nach einem Ausweg zu suchen. Die Kehre hat einen großen Radius, damit die mit den Spiegeln beladenen Tieflader sie passieren können. Auf der nächsten Gerade lenken und dann am Felsen auf der anderen Straßenseite abbremsen. Die Tachonadel zeigte 75 km/h. Noch einmal holte er tief Luft. Die Leitplanken vor dem Abgrund waren bis auf zehn Meter herangerückt. Er riss das Lenkrad nach links gegen den Widerstand der Randbankette. Der Wagen entfernte sich von der Felswand. Der zerfetzte Reifen hämmerte von Innen gegen den Radkasten. Fünf Meter bis zur Leitplanke. Rodriguez stemmte sich noch stärker gegen die Lenkung. Der Wagen hatte fast die Mittellinie erreicht, als sich die letzten Überreste des linken Vorderreifens von der Felge lösten. Sein Blick erfasste für einen Wimpernschlag die Leitplanke und den Abgrund dahinter. Dann spürte er schmerzende Stöße und Schläge in seinen Seiten und an seinem Kopf. Das Bild seiner jungen Geliebten drängte sich als Letztes in sein Bewusstsein. Wenige Augenblicke später wurden seine Gedanken in ein schwarzes Nichts gezogen.
Nachdem der Wagen an ihnen vorbeigerast war, rannten Karen und Richard hinter dem trudelnden Pick-up her. Richards Verstand sagte ihm, dass er nichts mehr unternehmen konnte, aber sein Unterbewusstsein befahl ihm, zu rennen. Der Wagen rutschte von der Mitte der breiten Straße unaufhaltsam auf die Leitplanke zu. Zuerst berührte der vordere Kotflügel die Leitplanke. Die Wucht des Aufpralls wurde von der Stahlplanke abgefangen und der Wagen drehte sich auf den verbleibenden drei Rädern quietschend um seine eigene Achse bis schließlich auch das Heck ohrenbetäubend gegen die Leitplanke krachte. Die sich entladende Bewegungsenergie katapultierte den Wagen wie ein Spielzeugauto über die Leitplanken und versetzte ihm dabei eine zusätzliche Rotation um die Längsachse. Nach einem zweieinhalbfachen Überschlag landete der rote Wagen 20 Meter unterhalb der Straße auf dem Dach. Die stahlverstärkte Karosserie krächzte unter dem Aufprall. Die Scheiben zerbarsten und der Absturz setzte sich unaufhaltsam den steinigen Abhang hinunter fort.
Als Richard und Karen die durchbrochene Leitplanke erreicht hatten, zuckten sie zusammen. Der von den schroffen Felsen aufgerissene Treibstofftank hatte sich in einer Stichflamme entzündet. Sekundenbruchteile später zerfetzte eine laute Explosion die Unterseite des Fahrzeugs. Die Überreste standen sofort in Flammen. Nach mehreren Überschlägen kam das brennende Wrack auf einem flachen Geländestück zum Stehen.
Paul Rodriguez war tot.
Karen und Richard standen wie betäubt am Rand der breiten Straße und starrten regungslos auf die brennenden Trümmer.
Nach einer Ewigkeit, in der sich keiner von beiden gerührt hatte, begann Karen zu weinen und fiel Richard um den Hals. Richard stand unter Schock. Er konnte nicht fassen, was er wenige Augenblicke zuvor gesehen hatte. „Was ist da passiert, Richard?“, schluchzte Karen. „Wir hätten auch da drin sein können.“
„Ich… ich… ich weiß es nicht.“ Richard bemühte sich, wieder einen klaren Gedanken zu fassen.
„Richard, das war schrecklich. Wir müssen etwas tun.“
Richards Gliedmaßen zitterten. Er rang nach Fassung, brachte aber kein Wort heraus. Dann griff er in seinen Rucksack, um das kleine Handfunkgerät herauszuholen, das er – wie auf dem Paranal für den Fußweg zwischen Plattform und Basiscamp üblich – eingesteckt hatte. Am Ende der nach unten führenden Straße sah er dabei einen Wagen über die Kuppe kommen.
„Sieh doch, da kommt jemand.“ Auch Karen deutete nach unten.
„Die haben die Explosion wahrscheinlich unten im Basiscamp gehört.“ Richard schaltete das Funkgerät ein.
„Richard“, schluchzte Karen, „das sah nicht wie ein Unfall aus.“
„Was meinst Du damit?“
„Ich habe irgendwie ein komisches Gefühl.“ Karen zögerte. “Wie lange gibt es das Paranal schon?“
„Wieso interessiert Dich das jetzt?“ Richard sah sie verwundert an.
„Nun, überleg‘ doch mal. Die Wagen fahren hier seit Jahren rauf und runter und…“
„Und jetzt auf einmal ein solcher Unfall?“, ergänzte Richard ihre Gedanken.
„Genau. Pauls Wagen war doch ziemlich neu. Ich habe beim Hochfahren auf den Kilometerstand gesehen.“
„Das ist eine gewagte These. Aber ich befürchte, der Wagen…“ Richard deutete auf das Wrack, aus dem noch immer die Flammen heraus loderten. Doch er formulierte seinen Gedanken nicht zu Ende, denn der weiße Toyota mit drei Insassen an Bord hielt mit quietschenden Reifen direkt vor ihnen. Guido Hubner saß am Steuer, daneben Felipe Esteban, auf dem Rücksitz Carlotta Cassini.
Hubner riss die Tür auf, noch bevor er den Motor abgestellt hatte. „Was ist passiert, Richard? Wir haben eine Explosion gehört.“
Esteban und Carlotta Cassini waren bis auf wenige Schritte an die durchbrochene Leitplanke gelaufen. Unten am Hang brannte das zerstörte Wrack noch immer.
Carlotta verbarg ihr Gesicht in den Händen. Tränen rannen über ihre Wangen.
„Es schien, als ob seine Bremsen versagt haben.“ Richard deutete auf die nach oben führende Straße. „Er hat noch versucht, den Wagen an dem Felsen da vorne abzubremsen.“
Aus Rücksicht auf Carlotta, die inzwischen laut schluchzte und immer wieder schrie „Nein, Nein, das ist nicht wahr“, unterbrach Richard seine Schilderung. Wenige Augenblicke später sackte Carlotta mit weichen Knien in sich zusammen. Ihr Oberkörper kippte, von den anderen unbemerkt, auf die durchtrennte Leitplanke zu.
Sie und Paul Rodriguez waren ein Paar gewesen. Nicht im klassischen Sinn. Paul Rodriguez hatte sein Leben nach mehreren Enttäuschungen allein der Wissenschaft verschrieben. Daneben gab es wenig Raum für eine Beziehung. Doch der Bewunderung durch die junge und attraktive Carlotta Cassini hatte er sich nicht entziehen können. Seit einer gemeinsamen Auslandsreise vor einem halben Jahr, bei der sie sich näher gekommen waren, pflegten sie eine leidenschaftliche sexuelle Beziehung. Paul hatte von Anfang an versucht, sie nicht im Zweifel darüber zu lassen, dass es zwischen ihnen nicht mehr als die gelegentlichen Treffen geben konnte, bei denen sie sich voller Verlangen den ganzen Tag hindurch liebten. Doch für Carlotta gehörten die Stunden, die sie mit Paul verbringen konnte, zu ihren geheimen Höhepunkten. Und insgeheim erträumte sie sich mehr von dieser Beziehung.
Guido Hubner stand abseits der drei und bemerkte als einziger, wie Carlottas Oberkörper in Richtung des Abgrunds sackte. Als sie die Leitplanken gerade berührte, griff er ihren Arm. Erschrocken fuhren Richard und Karen herum und blickten Carlotta bleich an.
„Das war knapp.“ Karen erholte sich schnell von ihrem Schock und begann sofort, sich um Carlotta zu kümmern.
„Richard, hast Du schon den Rettungsdienst gerufen“, wollte Hubner wissen.
„Nein“, er stockte. „Also ich meine, Sie hätten die Explosion sehen müssen, das kann er nicht…“
„Ja, ich verstehe“, unterbrach Hubner. „Wir müssen trotzdem… Ich werde gleich den Hubschrauber rufen.“ Er verschwand zum Wagen und lehnte sich mit dem Oberköper über den Fahrersitz, um das Funkgerät zu erreichen.
Nach einer Weile, in der Karen, Richard, Carlotta und Esteban schweigend hinunter zum Wrack gestarrt hatten, kam Hubner zurück.
„Kommt jetzt, ich habe einen Arzt und die Polizei verständigt. Sie werden in einer Stunde hier sein. Das ist ein schrecklicher, ein unermesslicher Verlust für uns alle, aber wir können jetzt nichts weiter tun.“