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19.Bucht von Puno, Titicacasee (Peru) – 7. Oktober, 21:23 Uhr Ortszeit
ОглавлениеDie Wellen des Sees wiegten das kleine Boot periodisch gegen die schilfbewachsene Uferböschung. Der Wind wurde kühler. Karen schmiegte sich an Richard, der auf der Picknickdecke saß und sich an die Bootsplanken lehnte. Sie schob die Strähnen ihres schulterlangen Haares aus dem Gesicht und schaute in den tiefschwarzen Nachthimmel. „Das war ein wundervoller Tag, Richard“, flüsterte sie. „Ich liebe Dich – bis zum Himmel und zurück.“ Richard erfüllte ein wohliger Schauer. Er erinnerte sich an die vergangenen vierzehn Tage. Sie waren von Antofagasta aus der Panamericana durch die Anden nach Norden gefolgt, vorbei an den Fünf- und Sechstausendern und den großen Vulkanen. Der Höhepunkt war die alte Inka-Stadt Machu Picchu in Peru. Dorthin hatten sie den über 50 Kilometer langen Inka-Trail gewandert. Am letzten Morgen bei Sonnenaufgang, noch bevor sie die Ruinen von Machu Picchu auf dem Felsplateau erreicht hatten, machten sie Rast über einem traumhaften Hochnebelwald. Überall blühten Orchideen. Die Luft war von Vogelgezwitscher erfüllt. Richard hatte bis zu diesem Augenblick gewartet. In einem unerwarteten Moment machte er Karen einen Heiratsantrag. Sie war zuerst völlig überrumpelt, dann küsste sie Richard lang und innig.
Danach war die unbeschwerte Zeit viel zu schnell vergangen. Hier am Titicacasee verbrachten sie ihren letzten Abend vor der Rückkehr zum Cerro Paranal. In sechs Tagen sollte Richards zweite Messzeit beginnen und Karen musste wenig später ihre neue Stelle in Deutschland antreten.
„Ich Dich auch“, antwortete Richard nach einiger Zeit mit bewegter Stimme. „Bis zum Himmel und zurück“, und küsste dann Karen zärtlich auf die Lippen. „Und für immer!“
Vom See stieg unangenehme Kühle auf. Aber Richard wollte den knisternden Augenblick so lange wie möglich bewahren. Wer wusste, wann sie wieder eine so intensive und unbeschwerte Zeit miteinander verbringen konnten. Karen hatte im Sommer ihre Facharztprüfung bestanden und eine Stelle in einer Klinik am Starnberger See bekommen. Er selbst würde in den kommenden Monaten mehr als genug mit dem Abschluss seiner Doktorarbeit zu tun haben. Richard setze sich auf, schloss Karen noch fester in die Arme und atmete die kühle Abendluft durch Karens weiches Haar.
„Richard, hast Du die Sternschnuppe gerade eben gesehen?“ Karen riss ihn aus den Gedanken. „Ich habe mir etwas gewünscht.“
„Meinst Du, ich kann mir denken, was es ist?“
„Ja, ich glaube schon.“ Karen lachte und rutschte noch einmal näher an Richard heran. Dabei streichelte sie sanft über seinen Kopf.
Ihr größter Traum war es, dass sie sich häufiger sehen würden und ein gemeinsames Leben mit einem kleinen Haus und, irgendwann später einmal, mit mehreren Kindern. Die Verfolgung ihrer beruflichen Ziele hatte sie bislang eine Wochenendbeziehung führen lassen. Doch Karen lebte im Hier und Jetzt und wollte nichts aufschieben. Jetzt ist unsere schönste Zeit und die will ich so oft es geht mit Dir verbringen, hatte sie immer wieder gesagt. Ihr schulterlanges braunes Haar hatte sie zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden und ihr Körper war durch konsequentes Training in guter Form. Karen war eine attraktive junge Frau und viele von Richards Freunden beneideten ihn um sie. Er liebte vor allem ihre lebensfrohe Art. Er konnte sich nicht erinnern, wann er sie einmal betrübt oder verzweifelt gesehen hatte. Sie konnte jeder Situation noch etwas Positives abgewinnen und damit meist auch Richard mitreißen.
Doch Richard hatte noch eine andere Geliebte, die er nicht loslassen konnte. Die Astronomie. Schon seit Kindertagen faszinierten ihn die Sterne. Beim Blick in die Unendlichkeit des Universums fühlte er sich dem Ursprung der Welt und dem Sinn der menschlichen Existenz unendlich nahe. Er war hin- und hergerissen, aber im tiefsten Inneren spürte er, dass er nur mit beiden gemeinsam glücklich sein konnte.
Noch lag das ganze Leben vor ihnen. Später konnten sie noch so viel Zeit miteinander verbringen. Doch in Augenblicken des vollkommenen Glücks mit Karen, beschlich ihn eine Angst. Angst, dass ein unabänderliches Schicksal alles ganz plötzlich in Frage stellen könnte. Bei seinem Bruder hatte er es hautnah erlebt. Seitdem lebte er im Bewusstsein der Zerbrechlichkeit seiner Existenz. Sein kahlgeschorener Schädel, den er sich anfangs aus Solidarität hatte scheren lassen, erinnerte ihn jeden Tag daran. Doch warum musste er jetzt an den Kometen denken, von dem Paul Rodriguez berichtet hatte? Karens Sternschnuppe war doch eigentlich ein Glücksbringer. Mit dem Frösteln kam die Erinnerung an die Besichtigung der Teleskope am ersten Nachmittag auf dem Paranal zurück. Paul hatte merkwürdige Andeutungen gemacht. Der Komet könne für einiges Aufsehen sorgen. Und am Abend zuvor hatte er noch etwas anderes gesagt. Die Entdeckung könne den Lauf der Welt verändern. Was hatte er bloß damit gemeint, schossen ihm die Gedanken durch den Kopf. Es wird doch hoffentlich nicht zu einem Impact kommen. Paul war bei der Unterhaltung über den Kometen überhaupt nicht entspannt gewesen.
Richard erinnerte sich an sein erstes Seminar zur Astronomie des Sonnensystems. „Kometen sind Botschafter aus der frühesten Jugend des Sonnensystems“, hatte der Professor erklärt. „Sie entstanden durch die Kondensation von Eis an kleineren Staubpartikeln, die sich zu größeren Gebilden zusammenballten. Heute befinden sich diese Reste in der Oort’schen Wolke an den äußersten Grenzen unseres Sonnensystems. In Intervallen von mehreren Millionen Jahren werden einzelne Kerne daraus durch vorbeizeihende Sterne als langperiodische Kometen in Richtung des inneren Sonnensystems geschleudert und beginnen bei Annäherung an die Sonne zu verdampfen, um so den charakteristischen Schweif auszubilden.“
„Und die Dinosaurier sind ausgestorben, weil sie kein Weltraum-Programm hatten?“, hatte die einzige Studentin in den kleinen Seminarraum gerufen.
„Nicht so schnell meine Liebe. Dazu kommen wir gleich.“ Der Professor durchbohrte sie mit seinem Blick und unter den übrigen Studenten war lautes Gelächter ausgebrochen.
„Meine Herren“, versuchte er sich nach Minuten, die er vor der Tafel auf und ab gegangen war, Gehör zu verschaffen. „Ihre Kommilitonin hat gar nicht so unrecht. Wir verfügen heute über Instrumente, eine solche Bedrohung aus dem Weltraum frühzeitig zu erkennen. Und in absehbarer Zeit stehen uns auch Mittel und Wege zur Verfügung, diese Bedrohung unter bestimmten Bedingungen von der Erde abzuwenden.“
„Indem wir ihn in die Luft sprengen“, prustete ein Zuhörer laut lachend in den Raum.
Noch lange ging der Professor durch die Sitzreihen und referierte dabei über die Energie beim Einschlag, die Auswirkungen auf das globale Klima und mögliche Abwehrmechanismen. „Doch, meine Damen und Herren, ich kann Sie beruhigen. Zu einem solchen Impact kommt es nur alle 30-50 Millionen Jahre.“
Richards Blick zu den Sternen wurde von einer weiteren Sternschnuppe abgelenkt. Das schließt aber natürlich nicht aus, dass schon morgen wieder ein solches Objekt entdeckt wird.
„Richard, worüber grübelst Du schon wieder nach?“ Karen hatte bemerkt, dass Richard schon eine ganze Weile in den grandios schimmernden Sternenhimmel starrte und dabei ziemlich abwesend war.
„Ach, ich habe nur über uns beide nachgedacht.“ Er wollte den Moment nicht durch seine Grübeleien zerstören. Sie würden sich sicherlich schon bald als völlig unbegründet herausstellen. „Ich wünsche mir auch so sehr, dass wir für immer zusammenbleiben. Bis ans Ende unserer Tage. Und was immer danach kommt. Meine Seele möchte mit Deiner auf immer verbunden sein. Bis der letzte Stern im Universum erloschen ist, die Atome bereits zerfallen sind und das gesamte Weltall nur noch von Leere erfüllt sein wird.“
„Richard, Du bist ein Spinner“, fauchte Karen und küsste ihn. „Aber ich liebe Dich! Ich habe jedenfalls keinen anderen. Ich weiß ja, dass ich Dich mit denen da oben teilen muss.“ Sie deutete auf das Quadrat im Sternbild des Pegasus am Himmel mitten über dem See.