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3.Gegenwart – Atacama Wüste (Chile) – 13. September, 16:33 Uhr Ortszeit

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Richard Hirlinger blickte durch die staubige Frontscheibe des zehnsitzigen Busses, der langsam die Steigung hinauf dröhnte. Die vier silbernen Kuppeln strahlten im Sonnenlicht. Er war seit dreißig Stunden unterwegs. Die letzten Kilometer hatte ihn die Panamericana als staubige Schotterpiste durch die Atacama-Wüste geführt. Er kämpfte gegen die Müdigkeit an und seine Wirbelsäule schmerzte. Doch hier oben sollte sich sein großer Traum erfüllen. In den kommenden Wochen konnte er am modernsten und leistungsfähigsten optischen Observatorium der Erde arbeiten. Wenn alles glatt lief, konnte er seine Doktorarbeit in der Rekordzeit von drei Jahren abschließen.

Der Gipfel des 2.635 Meter hohen Cerro Paranal kam immer näher und das Observatorium rückte hinter den braunen Felsen ins Blickfeld. Eine der aufwendigsten und komplexesten Anlagen, die die Wissenschaft zur Suche nach den Ursprüngen des Lebens hervorgebracht hatte, lag mitten in einer der lebensfeindlichsten Landschaften der Erde.

Normalerweise mussten Doktoranden auf Messungen anderer Wissen­schaftler zurückgreifen oder konnten sich im besten Fall den Messreihen anderer Wissenschaftler anschließen. Die Einladung zur Europäischen Südsternwarte war wie ein Sechser im Lotto. Doch er wusste auch, dass er sie den hervorragenden Beziehungen seines Doktorvaters zu verdanken hatte. Auch wenn die Vergabekommission des Paranal sein Dissertationsthema als überaus wegweisend für die Suche nach den Brut­stätten des Lebens im Universum eingestuft hatte. Zwei Beobachtungs­reihen an einem der vier modernen 8,2-Meter Teleskope hatte man für ihn reserviert. Mit mindestens 350 klaren Nächten im Jahr und der Abgeschiedenheit von menschlichen Einflüssen in Form von Staub und Streulicht bot das Paranal die besten Voraussetzungen für Richards Arbeit. Vielleicht konnte er sie sogar noch vor seinem achtund­zwanzigsten Geburtstag abschließen. Während er geistes­abwesend aus der staubigen Frontscheibe starrte, fiel sein Blick auf eine junge Frau, die mit eng anliegenden Sportsachen die Straße hinauf joggte. Ihr Pferde­schwanz wippte rhythmisch mit jedem Schritt. Für einen Moment trafen sich ihre Blicke und Richard hielt den Atem an. „El dulce“, murmelte der Fahrer und kaute seinen Zigarillostummel von einem Mundwinkel in den anderen. Richard verfolgte ihre Bewegungen bis sie hinter den braunen Felsen der nächsten Kehre verschwunden war.

Wenige Minuten später, kurz vor dem Basiscamp, wurde die holprige Straße durch eine breite Teerstraße abgelöst. Richard spürte, wie sehr ihm der 23-stündige Flug von München nach Antofagasta und die letzten Kilometer mit dem in die Jahre gekommenen Kleinbus zugesetzt hatten. Die dünne Höhenluft der Anden tat ein Übriges. Mit zusammen­gepressten Kiefern unterdrückte er ein Gähnen. Der chilenische Fahrer hatte während der zweieinhalbstündigen Fahrt schweigend auf dem aufgerauchten Stummel eines Zigarillos gekaut. Als die ersten Gebäude des Camps in Sichtweite kamen, ließ er den Motor aufheulen. Das Gelände mit den Werkstatt- und Verwaltungsgebäuden, den Wohn­containern und dem zur Hälfte unterirdisch gelegenen Hotel war menschenleer. Nur einige Pick-ups parkten vor dem Gebäude, auf das der Fahrer zusteuerte. Richard griff seine Fleece-Jacke und fuhr sich mit beiden Händen über den glattrasierten Schädel. Auf der Zufahrtsstraße unterhalb der Teleskope reflektierte die Frontscheibe eines Gelände­wagens für einen kurzen Augenblick das Sonnenlicht. Richard fröstelte vor Müdigkeit am ganzen Körper. Doch beim Blick zu den 300 Meter höher gelegenen silbernen Teleskopkuppeln fühlte er sich, wie zuletzt bei der Beobachtung der totalen Sonnenfinsternis von 1999. Wochenlang hatte er sich mit seinem Bruder darauf vorbereitet, das Teleskop mit einem Sonnenfilter ausgerüstet und den erwarteten Verlauf studiert. Die Scheibe des Mondes verdeckte die gesamte Sonne nur wenige Minuten. Dabei fiel die Temperatur merklich ab, begleitet von einem kurzen böigen Windzug. Das Licht war unnatürlich bleigrau und ging zum Horizont in eine orangerote Färbung über. Ein unvergessliches Naturschauspiel. Es war das letzte gemeinsame Erlebnis mit seinem Bruder. Thomas Hirlinger hatte Richards Begeisterung für die Sterne und das Weltall geteilt. Auch er war fasziniert von der unvorstellbaren Größe des Universums und der Möglichkeit, dass es irgendwo in dieser unend­lichen Weite Leben geben könnte – wahrscheinlich sogar geben musste. „Richard, Du musst mir versprechen, nach diesen Orten zu suchen. Dort werden wir uns wiedersehen“, hatte er zuletzt immer wieder gesagt. Und Richard hatte die Vorstellungen seines jüngeren Bruders in den Wochen des Abschieds zu seinen eigenen werden lassen – obgleich sein natur­wissenschaftlich geschulter Verstand dies natürlich als unendlich naiv abtat.

Als der Fahrer den Wagen wenige Augenblicke später vor dem Verwal­tungsgebäude zum Stehen brachte, blickte Richard wieder hinauf zum Gipfel. Auf dem sacht ansteigenden Hang direkt oberhalb des Basiscamps glänzte ein großes Feld von Solarkollektoren. Bläulich reflektierten sie das Licht der Nachmittagssonne. Die Photovoltaik-Anlage hatte eine Leistung von mehreren Megawatt – ausreichend um einen Großteil der auf dem Paranal benötigten Energie abzudecken. Aber das funktionierte nur mit riesigen Batterien. Nachts, wenn das Observatorium im Hochbetrieb lief, lieferten die Solarzellen schließlich keine Energie. Das Auseinanderfallen von Angebot und Nachfrage in Raum und Zeit war das Hauptproblem der Erneuerbaren Energien. Auch wenn eine Kollektorfläche von wenigen hundert Quadratkilometern ausreichen würde, den Energiebedarf der gesamten Menschheit zu decken, so bestand die eigentliche Herausforderung darin, die Energie zum richtigen Zeitpunkt am richtigen Ort verfügbar zu haben.

„Hey Junge, wir sind da“, brummte der Chilene durch seinen Zigarillo, als er sich langsam aus der Fahrertür heraus lehnte. Eilig griff Richard seinen Laptop und öffnete die Wagentür. Im Schatten des Wagens schlug ihm die kühle Höhenluft entgegen. Die Haarwurzeln auf seinem Schädel stellten sich sofort auf. Wenige Schritte entfernt spendete die Nach­mittagssonne wieder ihre lebenserhaltende Wärme. Sonnenstrahlen, wie sie schon seit Milliarden von Jahren Energie für alle Kreislaufprozesse auf der Erde lieferten. Und das voraussichtlich auch noch viele Milliarden Jahre in der Zukunft tun würden. Unter nur geringfügig anderen Bedingungen im Sonnensystem und auf der Erde hätten sie aber ebenso gut auf tote Materie treffen können. Die Erde wäre dann einer von unzählbar vielen Planeten im Universum, der die Energie ohne nachhaltige Wirkung absorbiert. Genauso wie dieser rotbraune Felsboden der Atacama-Wüste, den Richard jetzt zum ersten Mal knirschend unter seinen Füßen spürte.

Schlürfend erreichte der Fahrer das Heck des Transporters und kaute weiter auf dem durchweichten Zigarillostummel herum. Mit einem Schlag gegen das Schloss öffnete er die Klappe. Seine Pranken griffen den großen Rucksack und eine Reisetasche, die während der Fahrt neben Gemüsekisten und Lebensmitteln gelegen hatten. Mit einem hölzernen Lächeln stellte er sie wortlos auf dem ausgetrockneten Boden ab. Dann stieg er ohne einen Blick zurück auf den Fahrersitz. Richard schluckte und wartete bis der Motor gestartet war. Dann versuchte er, sich in dem auf 2.300 Metern gelegenen Campus zu orientieren. Einstöckige Verwal­tungsgebäude und größere Hallen waren um einen zentralen Platz ange­ordnet. Das 200-Zimmer Luxushotel, in dem der chilenische Fahrer die Gemüsekisten ablieferte, lag direkt an der Zufahrtstraße. Die atacama­braune Fassade fügte sich kantig in die karge Landschaft. Ein beein­druckendes Domizil, dachte Richard. Aber es hätte eine unerträgliche Lücke in sein Budget gerissen. An der dem Gipfel zugewandten Flanke des Areals entdeckte er die Wohncontainer. Es waren die ersten Bauten auf dem Paranal, heute dienten sie noch als preiswerte Unterkunft. Nicht die erste Adresse und kaum mehr Komfort als seine zwanzig Quadrat­meter-Studentenbude in Heidelberg, aber mit direktem Kontakt zu den ständig auf dem Paranal lebenden Wissen­schaftlern.

Richard sah auf seine Uhr. Zwölf vor fünf. Jetzt den Container beziehen, etwas Essen und endlich ein Bett waren seine Prioritäten. Eilig schulterte er den Rucksack und griff nach der Reisetasche und dem Laptop. Wo waren die Wissenschaftler. Um die Hundert Menschen arbeiteten hier. Doch alles war ruhig, menschenleer. Nur ein roter Pick-up fuhr auf der breiten Straße vom Gipfel ins Camp. Richard ließ seine Reisetasche sinken und hielt seine Hand zum Schutz vor der gleißenden Sonne über die Augen. Der Pick-up bog ins Basiscamp und steuerte auf eine der freien Parkbuchten zu, wenige Meter von Richard entfernt. Am Steuer saß ein mittelgroßer Mann in kariertem Hemd und enganliegender Fleece-Jacke. „Willkommen auf dem Gipfel“, rief der Mann mit iberischem Akzent, nachdem er aus dem Wagen gestiegen war und die Fahrertür mit einem dumpfen Stoß zugeschlagen hatte. Beim Näher­kommen blickte Richard in das sonnengebräunte Gesicht eines südlän­dischen Mannes, dessen Alter er auf Mitte vierzig schätzte. Er wirkte müde, doch seine Augen waren klar und frisch. Mit federndem Gang kam er direkt auf Richard zu und streckte ihm seine kräftige Hand entge­gen. „Richard Hirlinger, wir haben Dich schon erwartet! Hattest Du eine gute Anreise?“

Richard griff zögernd nach der behaarten Hand. Kräftig und intensiv war der Händedruck.

„Ich bin Paul Rodriguez! Ich möchte Dir so bald wie möglich eine sehr bedeutende Entdeckung zeigen“, erklärte der Mann mit einem ein­nehmenden Lachen. Richard schluckte und brachte für einen Moment kein Wort heraus.

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