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1.Prolog: Gegenwart – Flatbush Avenue, Prospect Park (Brooklyn) – 27. Oktober 16:33 Uhr Ortszeit
ОглавлениеWar das der Anfang vom Ende oder die Chance für einen Neuanfang? Richard Hirlinger grübelte seit seiner Abfahrt in Manhattan unentwegt über diese Frage. Die schmale Treppe von der U-Bahn-Station hinauf ans Tageslicht war menschenleer. Auf der Straße waren nur wenige Fahrzeuge unterwegs. Einige Taxis. Die Stadt wirkte verlassen. Dafür war die Luft ungewöhnlich klar und der Himmel stahlblau, ohne die für New York typischen grauen Schleier.
Richard folgte der Flatbush Avenue nach Norden. Bis zum vereinbarten Treffpunkt waren es nur wenige hundert Meter. Viel zu früh erreichte er die Treppen vor dem Seehundfelsen. Richard blickte auf seine Uhr. Um fünf würden die Besucher den Prospect Park Zoo verlassen. Auf einer Bank unter den Bäumen beobachtete er Familien, die den Park verließen und musste dabei unweigerlich an Karens Geheimnis denken. Es gab gar keinen anderen Weg, als den Plan der letzten Nacht umzusetzen. Waren das unterwegs nicht schon die ersten Anzeichen gewesen. Die leeren Straßen, die verstörten Menschen. Das Geschäftsleben war nahezu zum Erliegen gekommen. Richard zog sein Smartphone aus der Jackentasche und las die letzten Meldungen. Interkontinentaler Flugverkehr zusammengebrochen – Rationierung von Rohstoffen hat begonnen – Bevölkerung verhält sich unerwartet besonnen – Unterstützer versammeln sich vor dem UN-Hauptquartier – Letzter Tanker verlässt die am stärksten betroffene Region – Die Menschheit hat nur wenig Zeit bekommen, ihre wichtigste Entscheidung zu treffen... Die Meldungen überschlugen sich seit den frühen Morgenstunden. Weltweit gab es nur noch das eine Thema. Was für ein Einschnitt. Welche Entwicklung brachten die nächsten Tage und Wochen. Richard steckte das Smartphone zurück und blinzelte in die Nachmittagssonne. Er genoss die ungewöhnliche Ruhe. Kein Verkehr, kein Hupen. Nur das Zwitschern der Vögel erfüllte die Luft. Die Zoo-Besucher hatten den Platz inzwischen verlassen. Richard beobachtete einen älteren Mann in zerrissenen Sachen, der ein Fahrrad mit Plastiktaschen am Lenker durch den Park schob, als die unwirtliche Ruhe durch das sanfte Surren eines Zwölf-Zylinders durchbrochen wurde.
Unten auf der Straße rollte eine schwere schwarze Limousine langsam zum Parkeingang. Durch die dichten Baumreihen drang kurz darauf das dumpfe Brummen mehrerer großer Fahrzeuge. Richard beobachtete durch die rotbraun-verfärbten Blätter, wie fünf schwarze Wagen mit abgedunkelten Scheiben die haltende Limousine von vorne und hinten blockierten. Noch bevor die Geländewagen zum Stehen gekommen waren, öffneten sich die Türen und acht Männer umringten die gepanzerte Limousine. Zwei der Männer in dunklen Anzügen zogen eine Waffe und zerrten an der Hintertür. Für einige Augenblicke herrschte Verwirrung unter den Männern. Ein Mann fasste sich an den Hörer in seinem Ohr. Dann öffnete sich langsam die Hintertür der Limousine.
Richard hielt den Atem an. Instinktiv hatte er sich in das Buschwerk hinter einer weißgetünchten Parkbank geworfen und beobachtete die Szene durch einen schmalen Spalt in der Rückenlehne. Dann stieg ein Mann aus der Limousine und Richard blieb das Herz stehen. Hatten sie ihn doch bekommen. Keine zehn Stunden waren vergangen. Die beiden bewaffneten Männer hielten ihre Pistolen im Anschlag. Zwei andere Männer führten den Mitte Fünfzigjährigen Mann zu einem der Geländewagen und drückten ihn auf den Rücksitz. Dann stiegen sie ein. Wenige Augenblicke später rauschten die fünf Geländewagen mit aufheulenden Motoren davon. Der Spuk war so schnell vorbei wie er begonnen hatte.
Richard kauerte bewegungslos auf dem Boden. Er wagte kaum zu atmen. Was war geschehen. Alles war so schnell gegangen. Wie sollte der große Plan jetzt weitergehen. Was würde jetzt aus ihm, was aus Karen. Nach einer viertel Stunde kletterte er aus seinem feuchten Versteck und streifte Blätter und Erde von seinen Hosenbeinen. Er musste weg von hier. Noch kannte er nicht den gesamten Plan, aber er erinnerte sich an die Erlebnisse, von denen Robert Feldheimer berichtet hatte. Ohne den Gedanken zu vollenden, begannen seine Beine zu laufen. Einfach weg. Und zwar so schnell wie möglich. Instinktiv rannte er der Sonne entgegen. Die schwachen Strahlen verschwanden langsam hinter den Bäumen. Er lief immer tiefer in den Park hinein in Richtung Westen, dem wärmenden Licht entgegen. Bald begannen seine Oberschenkel zu brennen und jeder Atemzug stach in der Flanke. Nach einigen Hundert Metern gelangte er durch eine kurze runde Unterführung an einen See. Die Blätter der Bäume leuchteten in der Abendsonne in allen Gelb-, Braun- und Rottönen über den glatten Spiegel des Sees. Richard zog keuchend nach Luft. Dann plötzlich klingelte sein Telefon. Mit einem Klingelton, den er nicht erwartet hatte. Schnaufend schwang er sich über einen kniehohen Zaun und suchte Deckung hinter dem Stamm einer mächtigen Eiche.
„Ja bitte?“, krächzte Richard mit trockener Kehle in das Mobilteil.
„Hallo Richard, ich hoffe, Du bist nicht allzu erschrocken“, meldete sich eine bekannte Stimme am anderen Ende in die Leitung.
„Bill? Gerade eben sind Sie doch… Ich meine die Männer haben Sie doch“, stammelte Richard zwischen den schweren Atemzügen.
„Das war wirklich realistisch, nicht wahr“, lachte ihm die Stimme entgegen.
Richard nahm den Hörer vom Ohr und überprüfte die eingeblendete Nummer. „Das kann aber doch nicht wahr sein.“
„Keine Sorge Richard. Mir geht es gut. Das eben war nur ein kleines Ablenkungsmanöver. Ich hoffe, es hält sie mir ein paar Tage vom Leib.“
„Dann waren Sie das eben gar nicht?“
„Aber nein. Mir war klar, dass sie mich nach meinem Auftritt gestern zu sich einladen würden“, lachte der Mann in die Leitung. „Jetzt aber schnell, Richard. Geh runter zu den Sportplätzen im Süden. Dort wird Dich mein Helikopter am Park abholen. Ich erwarte Dich in einer Stunde. Und bring auch Karen mit.“ Dann wurde das Gespräch beendet.