Читать книгу Loslassen - Marc Frangipane - Страница 11
Aufatmen
ОглавлениеKurz vor dem Ende der Chemotherapie stand eine sehr wichtige Untersuchung an: Anhand einer sogenannten Biopsie wurde überprüft, ob noch Leukämiezellen im Knochenmark meiner Mutter vorhanden waren. Um das feststellen zu können, entnahmen die Ärzte aus ihrem Beckenknochen Mark, das dann im Labor untersucht wurde. Mein Stiefvater, mein Bruder und ich hatten vereinbart, das Ergebnis in einer WhatsApp-Gruppe mitzuteilen, sobald der Erste es erfahren hatte.
An diesem Tag war ich angespannt wie schon lange nicht mehr und starrte minütlich auf mein Handy. Dann endlich eine Nachricht in dem Chat: Es wurden keine Krebszellen mehr gefunden. Ich atmete tief durch und spürte, wie aus Anspannung Entspannung wurde. Ein wunderbarer Prozess. Dieses Gefühl hätte ich am liebsten festgehalten. Ich fühlte mich so leicht wie schon seit Wochen nicht mehr. Ich bekam noch eine Nachricht von meiner Mutter: Ich freue mich so. Und ich mich mit ihr.
Vermutlich hat jeder von uns in diesem Moment geglaubt, dass dieses Ergebnis ein ganz großer Schritt im Kampf gegen die Krankheit war. Ganz sicher war dieser Befund auch ein Erfolg, aber nüchtern betrachtet bedeutete er nur, dass die Chemotherapie angeschlagen hatte. Mehr nicht.
Als die Euphorie darüber sich etwas gelegt hatte, dachte ich wieder an die Fragen, die ich mir in den vergangenen Wochen immer wieder gestellt hatte: Ist es Schicksal, dass manche Menschen in ihrem Leben schwer erkranken? Ist das vorherbestimmt? Und: Kann man sich diesem Schicksal in irgendeiner Weise entziehen? Wie für viele Krebserkrankungen gibt es auch für Leukämie Risikofaktoren: Radioaktive Strahlung gehört dazu oder übermäßiger Alkoholkonsum und Nikotin. Alle Risikofaktoren, die bislang bekannt waren, schieden aber in diesem Fall aus – und das machte diese Schicksalsfragen noch dringlicher. Warum fiel mir kurz vor der Erkrankung meiner Mutter das Buch von Guido Westerwelle in die Hände, in dem er seinen Kampf gegen die Leukämie sehr eindrücklich schilderte? Und war es Zufall, dass ich eben dieses Buch meiner Mutter gab und sie es wenige Monate vor ihrer eigenen Diagnose las? Ich hatte ein schlechtes Gewissen, dass ich ihr dieses Buch überhaupt gegeben hatte, denn Westerwelle war wenige Monate zuvor an den Folgen seiner Leukämie gestorben.
Fakt war, dass es in einer unreifen Blutzelle zu Mutationen gekommen war und dadurch die Blutproduktion gestört wurde. Aber wodurch wurde diese Mutation ausgelöst? Niemand konnte diese Frage beantworten, nicht einmal die Ärztinnen und Ärzte. Ich hasse Fragen, die niemand beantworten kann. Vielleicht weil es mir deutlich macht, dass wir viele Dinge nicht beeinflussen können. Sie passieren einfach. Auch wenn wir glauben, vieles kontrollieren und beherrschen zu können. Und ich bin jemand, dem Kontrolle sehr wichtig ist. Ich zähle sogar die Geldscheine am Automaten nach dem Abheben nach.
Die Hoffnung der Ärzte beruhte nun auf zwei wesentlichen Punkten: Erstens, dass im Knochenmark meiner Mutter wieder gesunde Blutzellen produziert würden, und zweitens, dass durch die Chemotherapie möglichst jede Leukämiezelle in ihrem Blut, das ja bekanntlich durch den gesamten Körper strömt, vernichtet wurde. Allerdings hatte ich auch gelesen, dass dies häufig nicht gelingt. Leukämie habe ich deswegen in dieser ganzen Zeit als eine besonders beängstigende Krebserkrankung empfunden, eben weil der Krebs nicht lokal begrenzt ist, sondern die kranken Zellen im Blut durch den gesamten Körper fließen.
Eine weitere Therapie im Kampf gegen Leukämie ist die Stammzelltransplantation, das häufig letzte Mittel und auch das schärfste Schwert. Dabei wird der Patient mit einer hoch dosierten Chemotherapie so intensiv behandelt, dass sein gesamtes Knochenmark zerstört wird. Dort, im Knochenmark, befinden sich die Blutstammzellen, die Mutterzellen aller Blutzellen, die für die Blutproduktion zuständig sind. Nachdem die Blutproduktion vollständig zum Erliegen gekommen ist, werden dem Patienten neue Blutstammzellen eines Spenders übertragen, die dann beginnen sollen, neue und gesunde Blutzellen zu produzieren. Vorteil, aber auch Risiko dieser Therapie ist also, dass die gesamte Blutproduktion erst komplett zerstört und dann neu aufgebaut wird. Diese Therapie ist einer der schwierigsten Eingriffe in der Medizin, dementsprechend hoch sind die Risiken.
Würde diese Behandlungsoption, so gefährlich und brutal sie ist, die Heilungschancen meiner Mutter deutlich verbessern? Diese Frage ging mir nicht mehr aus dem Kopf. Ich schwankte fast jeden Tag zwischen Die Ärzte werden das schon am besten wissen und Ich kann ja trotzdem mal nachfragen.
An einem Sommermorgen schickte ich dem Oberarzt der onkologischen Station des Krankenhauses eine Mail und bat um einen Rückruf. Ich war überrascht, als mein Handy nur wenige Stunden später klingelte. Der Arzt teilte mir mit, dass er und seine Kolleginnen und Kollegen zwei Punkte gegeneinander abgewogen hätten. Das Risiko eines Rückfalls sahen sie als geringer an als das Risiko, eine Stammzelltransplantation nicht zu überstehen. Dann sagte er noch etwas, worüber ich in den kommenden Wochen noch sehr lange nachdenken sollte: »Niemand kann Ihnen eine Garantie für eine bestimmte Lebensdauer geben. Übrigens kann ich das nicht mal Ihnen geben, auch wenn Sie gesund sind, denn Leben ist immer Risiko.« Der Arzt formulierte das einfach und verständlich – und ich konnte seine Argumentation gut nachvollziehen. Und trotzdem war es eine komplette Fehleinschätzung.
Noch heute quält mich der Gedanke, dass ich damals keine Zweitmeinung eingeholt hatte. Vielleicht hätte genau hier eine Weiche anders gestellt werden können, um den Zug des Lebens auf ein anderes Gleis rollen zu lassen.
Das Ergebnis der Biopsie beflügelte alle in der Familie: meine Oma, meinen Bruder, mich, Mutters Geschwister, ihren Mann und natürlich auch sie selbst. Bei einem meiner letzten Besuche in der Klinik während dieser Therapie machten wir einen Ausflug in den Krankenhauspark. Ich bugsierte sie in einen Rollstuhl und sie setzte sich einen Mundschutz auf – wegen ihres geschwächten Immunsystems durfte sie sich keiner Gefahr aussetzen. Ich bemerkte, wie andere Besucher einen großen Bogen um uns machten, als sie uns sahen. Ich hätte vermutlich ebenso reagiert, vielleicht hätte ich sogar die Straßenseite gewechselt. Meine Mutter zeigte per Handzeichen an, wohin sie gefahren werden wollte. Sie hat nichts verlernt, dachte ich und musste etwas lachen.
Wenn Ausnahmesituationen eine gewisse Zeit dauern, werden sie zum Normalzustand. So ging es mir jedenfalls. Irgendwann hatte ich mich daran gewöhnt, dass ich ins Krankenhaus fahren musste, um meine Mutter zu besuchen. Ich hatte mich an die Umgebung dort gewöhnt, auch an den Mundschutz, den ich ständig tragen musste. Dem letzten Zyklus der Chemotherapie sah ich gelassen entgegen. Er sollte das Risiko eines Rückfalls minimieren und wirklich die allerletzte Leukämiezelle vernichten.
Es war mittlerweile Herbst geworden. Fast den gesamten Frühling und Sommer hatte meine Mutter – mit kurzen Unterbrechungen – im Krankenhaus gelegen. Es war Ende Oktober, als sie aus der stationären Behandlung in die ambulante entlassen wurde. Alle vier Wochen wurde nun ihr Blut in einer onkologischen Praxis auf mögliche Leukämiezellen untersucht; gefunden wurden keine. Und dann, in diesen Wochen, passierte etwas Unglaubliches: Meine Mutter legte ihr Sportabzeichen ab. Auf mich wirkte das, als ob sie damit auch eins unausgesprochen zum Ausdruck bringen wollte: Ich lasse mich von dieser Krankheit nicht unterkriegen.
Stark war sie, willensstark, oder, wie manche auch sagten: etwas dickköpfig. Schon als Kind hatte sie ihren eigenen Kopf, das hat mir meine Oma häufig erzählt. Sie spielte mit den Nachbarjungs Fußball und wurde irgendwann von ihnen sogar respektiert. Sie heiratete meinen Vater, einen italienischen Gastarbeiter, was in den 60er-Jahren in der damals noch sehr jungen Bundesrepublik Deutschland wirklich nicht alltäglich war. Sie jobbte ein Jahr nach ihrer Schulzeit in einer Fabrik, um sich das Geld für ihr Studium an einer privaten Sportschule zu verdienen, denn sie wollte Sportlehrerin werden. Damit hat sie mir unbewusst vermittelt, dass man für seine Ziele im Leben etwas tun muss, dass man sich anstrengen muss, um etwas zu erreichen. »Neid sieht nur das Blumenbeet, aber nicht den Spaten.« – Ein Spruch, den ich mir gemerkt habe. Erst viel später verstand ich, dass sich das nicht nur auf unseren gut gepflegten Steingarten vor der Terrasse bezog.