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Das Schicksal

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Viele Schicksalsschläge brechen von einer Sekunde auf die andere über uns herein, ohne Vorahnung oder Vorwarnung. Auf einmal ist nichts mehr so, wie es vorher war. Und es gibt Schicksalsschläge, die man anfangs gar nicht erkennt, weil sie sich geschickt tarnen.

Die Verleihung der Sportabzeichen ist in dem kleinen Ort, aus dem ich komme, immer ein großes Event, so auch in jenem Jahr. Mitte Februar wurden die Sportabzeichen mit einer Urkunde übergeben, dann wurden Gyros, Souflaki und Bifteki gereicht und der Ouzo eingeschenkt. – Ein geselliger Abend im Sportverein. Es wurde gelacht, erzählt und es wurden Fotos gemacht. Auf einem ist auch meine Mutter drauf. Sie hat als Übungsleiterin die Wettkämpfe abgenommen. Sie lacht fröhlich in die Kamera. Ich sehe dieses Foto erst einige Jahre später und schaue es mir sehr lange an, denn vielleicht ist dieser Moment, in dem das Foto gemacht wurde, einer der letzten unbeschwerten Momente im Leben meiner Mutter. Heute weiß ich: Das Schicksal – oder wie man es auch immer nennen will – muss vermutlich bereits an diesem Abend zugeschlagen haben; noch so leise, dass es niemand bemerkte.

Wenige Wochen später, Ende März, erwähnte meine Mutter in einem unserer regelmäßigen Telefonate eher beiläufig, dass sie seit Tagen einen starken Husten habe. Obwohl ihr Hausarzt bereits ein Antibiotikum verschrieb, ging er nicht weg.

»Ist bestimmt eine schwere Erkältung, warte noch mal einige Tage ab«, riet ich ihr.

Natürlich hatte ich gerade andere Sachen im Kopf als mich damit groß auseinanderzusetzen. Es war März und noch mehr Winter als Frühling, da war ein starker Husten nun mal alles andere als ungewöhnlich.

Doch der Husten ging nicht weg. Ich war erleichtert, als ich hörte, dass beim Röntgen ihrer Lunge nichts Auffälliges gefunden wurde. Selbst als ihr Hausarzt Blut abnahm, um es untersuchen zu lassen, machte ich mir keine großen Gedanken.

Doch das Ergebnis ließ mich zum ersten Mal aufhorchen: Irgendwas stimmte mit den Blutwerten nicht. Schlechte Blutwerte gab ich als Suchbegriff bei Google ein und die meisten Treffer ließen mich zusammenzucken. Ich glaubte aber erst mal, dass die Ursache ganz harmlos sei und man einer Ferndiagnose von Dr. Google nicht trauen dürfe. Ohnehin hatte ich wenig Zeit, mir irgendwelche Gedanken über den Gesundheitszustand meiner Mutter zu machen, denn sie hatte sich am Wochenende zum Besuch angekündigt. Das setzte bei mir und meinem Freund Jan ein mittlerweile eingeübtes Handlungsmuster in Gang, das wir im Laufe der Jahre perfektioniert hatten: Einkaufen, Wohnung aufräumen und putzen. Das machten wir natürlich auch sonst regelmäßig, aber wenn sich Besuch ankündigte natürlich umso gründlicher. – Und wenn meine Mutter kam, am gründlichsten. Sie hatte ein besonderes Auge dafür und neigte dazu, vermeintliche Defizite in unserem Haushalt offen anzusprechen: »Das Waschbecken hat aber auch lange keinen Putzlappen mehr gesehen. Soll ich euch mal einen kaufen?« Mit ihrer direkten Kommunikation und ihrer burschikosen Art konnte nicht jeder umgehen, Diplomatie war ganz sicher nicht ihre größte Stärke. Ich hatte das erst in den letzten Jahren immer mehr schätzen gelernt, nämlich als direktes und ehrliches Feedback, ohne die rosarote Mutterbrille. Vor einigen Jahren hatten wir uns einen neuen Wohnzimmertisch angeschafft. Als ich ihn ihr stolz präsentierte, musterte sie ihn kurz und sagte »Gefällt mir überhaupt nicht.« Viele andere Mütter hätten dies bestimmt anders formuliert; mich überkam eine seltsame Mischung aus Enttäuschung und Wut. Allerdings wusste ich so auch immer, woran ich war. Und wenn ich ehrlich bin, ist mir ein ungefiltertes Feedback lieber als ein diplomatisch verpacktes. So wurde meine Mutter in den letzten Jahren zu einem wichtigen Korrektiv für mich. Aber als Jugendlicher war mir diese Direktheit häufig etwas unangenehm.

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