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Schatten über der Elphi

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Ich hatte mir für dieses Wochenende ein schönes Programm in Hamburg überlegt. Wir besichtigten die (damals noch sehr neue) Elbphilharmonie und gingen abends zu unserem Lieblingsgriechen. Es war Ende Mai, das Wetter herrlich und unsere Stimmung meistens auch. – Doch etwas war anders als sonst. Mir fiel relativ schnell auf, wie schwach meine Mutter war, eine sehr sportliche 67-jährige Frau. Auf dem Weg zur Elphi musste sie sich mehrmals auf eine Bank setzen. Beim Essen im Restaurant hatte sie keinen großen Hunger, stocherte lustlos auf dem Teller herum und wollte früh wieder zurück in unsere Wohnung.

Am nächsten Morgen fuhr sie wieder nach Wolfsburg. Meine Mutter winkte mir noch lange aus dem halb offenen Autofenster zu. Das hatte sie noch sie so intensiv getan, sie bevorzugte sonst immer die nüchternen Abschiede: »Tschüss – bis zum nächsten Mal.« Mit einem komischen Gefühl ging ich zurück in die Wohnung.

Was ich zu diesem Zeitpunkt noch nicht wissen konnte: Am frühen Morgen hatte ihr Hausarzt bereits eine Nachricht auf dem Anrufbeantworter hinterlassen: »Bitte rufen Sie mich sofort zurück.«

Die zweite Blutuntersuchung ließ keinen anderen Schluss zu: Meine Mutter war an akuter myeloischer Leukämie erkrankt. Ich erfuhr den Befund erst am Abend, als ich sie anrief, um mich zu vergewissern, ob sie gut zu Hause angekommen war: »Bei mir ist übrigens nicht alles in Ordnung«, sagte sie ungeschönt wie immer. »Ich habe Leukämie.«

Ich nahm mein Handy aus der Tasche und musste nur Leu eintippen, um mehr zu erfahren: Die Leukämie, umgangssprachlich auch als Blutkrebs bezeichnet, ist eine bösartige Erkrankung des blutbildenden Systems. Leukämien zeichnen sich durch die vermehrte Bildung von weißen Blutkörperchen und vor allem ihrer funktionsuntüchtigen Vorstufen aus. Diese Leukämiezellen breiten sich im Knochenmark aus und verdrängen dort die übliche Blutbildung. Je nach Verlauf unterscheidet man akute und chronische Leukämien. Akute Leukämien sind lebensbedrohliche Krankheiten, die unbehandelt innerhalb weniger Wochen zum Tode führen.

Ich musste raus aus der Wohnung. Ich ging an einem Kanal in der Nähe spazieren und setzte mich auf einen Holzsteg, der direkt am Wasser liegt. Von dort hat man eine schöne Aussicht auf den Kuhmühlenteich, ein kleines Gewässer in der Nähe der Hamburger Außenalster; Naturidylle inmitten einer Großstadt.

Immer wieder ging ich in den folgenden Wochen und Monaten diesen Weg, immer dieselbe Strecke, auch wenn sich vieles um mich veränderte. – Nicht nur die Natur, durch den Wechsel der Jahreszeiten, sondern auch meine Stimmungslage. Damals konnte ich nicht mal ansatzweise ahnen, welche großen Schwankungen ich erleben sollte. Doch diese Strecke war eine feste Konstante in meinem Alltag. Ich begegnete auf dieser Runde nur wenige Menschen, was mir sehr entgegenkam, denn so konnte ich auch mal laut nachdenken, ohne schief angeschaut zu werden.

Dieser Spaziergang wurde zu einem festen Ritual: Ich dachte stets darüber nach, wie es mir das letzte Mal auf diesem Weg gegangen war und wie ich mich jetzt fühlte. Diese Reflexion gab mir Kraft.

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