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Weiße Kittel und lange Flure

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Mit schnellen Schritten ging ich über die Krankenhausflure – mein Bruder vorneweg, ich hinterher. Ich kam mir vor wie in einem Labyrinth. Schon bald hatte ich das Gefühl, dass ich alleine wohl nicht mehr so einfach zurück zum Ausgang finden würde, was dazu führte, dass ich mich an diesem Ort noch unwohler fühlte.

Nach vielen sich selbst öffnenden Doppeltüren, die dabei immer ein ganz bestimmtes Geräusch machten, erreichten wir die onkologische Station. Das Zimmer meiner Mutter war in einem Isoliertrakt dieser Station, der durch eine Schleuse von der übrigen Station getrennt war. Dort musste man sich die Hände desinfizieren und einen Mundschutz anlegen. Da das Immunsystem meiner Mutter durch die Leukämie angegriffen war, durfte sie keine Infektion bekommen.

Mit dem Mundschutz habe ich mich anfangs sehr schwergetan; das war ein unangenehmes Gefühl – besonders wenn man ihn mehrere Stunden tragen musste. Vor Corona waren die meisten von uns überhaupt nicht daran gewöhnt, so einen Mund-Nase-Schutz überhaupt zu tragen.

Wir klopften an der Tür. »Ja-haaa«, hörten wir. Mein Bruder öffnete und sie winkte uns herein. Sie wirkte noch schwächer als vor einigen Tagen in Hamburg, versuchte aber, sich das nicht anmerken zu lassen.

Meine Mutter hatte ein Einzelzimmer im Erdgeschoss, direkt neben dem Hubschrauberlandeplatz. Das sorgte an manchen Tagen für etwas Ablenkung. Da sich aber im Krankenhaus Wolfsburg die Zahl der Notfälle, die per Hubschrauber eingeliefert wurden, in Grenzen hielt, war der Ablenkungseffekt überschaubar.

Mein Bruder hatte an einer Zimmerwand ein großes Poster angebracht. Darauf hatte er ein Gebirge gezeichnet und diese Strecke in mehrere Etappen eingeteilt, die die verschiedenen Chemozyklen darstellen sollten. Am Ende der letzten Etappe hatte er eine Zielfahne gemalt, wie in der Formel 1. Außerdem hatte er Fotos von sich und seiner Familie auf das Poster geklebt. Meine Mutter war erst vor Kurzem Oma geworden. Sie freute sich seit Jahren auf das erste Enkelkind und ging in der Rolle voll auf. Das Poster war ein schöner bunter Blickfang in dem sonst sterilen Zimmer und die Aussage war klar: Die nächsten Wochen und Monate werden hart, aber es gibt ein Ziel.

Neben dem Bett meiner Mutter stand ein Infusionsständer. Die Infusionen liefen durch einen dünnen Schlauch über einen zentralen Venenkatheter, der im Krankenhaus nur ZVK genannt wurde, in ihren Körper unterhalb ihres Halses. Ich vermied es, mir diese Stelle genauer anzusehen, weil schon der Anblick Schmerzen in mir auslöste.

Die Flüssigkeit, die in dem Infusionsbehälter war, sah unscheinbar aus, beinahe wie Wasser und passte gar nicht zu der Wirkung, die sich die Ärzte und wir davon versprachen, nämlich eine tödliche Krankheit zu heilen. Wenn eine Flasche leer war, piepte es und ein neuer Behälter wurde eingesetzt – auch nachts. Das taten die Krankenschwestern und Pfleger stets mit Handschuhen, um zu vermeiden, dass sie direkt mit den Substanzen, die in dem Behälter waren, in Kontakt kamen. Das machte mir bewusst, wie gefährlich diese Flüssigkeit war.

Die Chemotherapie bestand aus insgesamt vier Zyklen, die jeweils rund sieben Tage dauerten. Der Oberarzt der onkologischen Station stellte meiner Mutter zur Wahl, ob sie eher eine mildere oder aggressivere Therapie haben wollte, dementsprechend wurde die Konzentration der chemischen Substanzen angepasst. Meine Mutter entschied sich für die aggressivere Variante. Damit stieg natürlich auch das Risiko für Nebenwirkungen.

Die in der Chemotherapie eingesetzten Medikamente, die in der Ärztesprache Zytostatika genannt werden, sollten die Leukämiezellen vernichten. Um die Behandlung zu kontrollieren, wurde meiner Mutter mehrfach am Tag Blut abgenommen. Ihre Arme waren irgendwann übersät von den Einstichstellen der Spritzen.

Bei den Besuchen auf der Station fühlte ich mich meistens wie ein Fremdkörper: Ich konnte mich nie gut auf die Atmosphäre dort einlassen, irgendwie war ich immer unentspannt. Ich starrte wie gebannt auf den Infusionsständer. Bei jedem Piepen zuckte ich zusammen. Ich schaute auf die so unscheinbar wirkende Flüssigkeit und fand es schon fast absurd, dass auf einer so unspektakulär aussehenden Substanz so viele Hoffnungen ruhten. Ich hörte ständig, ob sich Schritte auf dem Flur dem Zimmer näherten, schaute gedankenverloren aus dem Fenster, ging von der einen Ecke des Zimmers in die andere. Außerdem hatte ich das Gefühl, dass alles, was ich aus meinem Alltag erzählte, nichtig war gegen die Situation hier. Deswegen entstanden bei meinen Besuchen immer wieder lange Gesprächspausen.

»Hmm und sonst so?«, sagte meine Mutter dann. »Erzähl doch was, was ich hier erlebe, ist sehr überschaubar.« Sie ging nicht auf den Flur, sondern blieb den ganzen Tag über in ihrem Zimmer. Sie mied den Kontakt zu anderen Patientinnen und Patienten. »Zieht mich vielleicht zu sehr runter«, meinte sie.

Irgendwann, in so einer Phase der langen Gesprächspausen, sagte sie: »Ach, diese Chemo sitze ich auf einer Pobacke ab«, und lächelte mich an. Das hätte ich sicherlich anders ausgedrückt, aber genauso so kannte ich sie: kämpferisch und hart – auch zu sich selbst.

Ganz so einfach war es aber nicht. Schon nach wenigen Tagen bekam meine Mutter eine schwere Lungenentzündung und Fieber. Ich hörte davon, als ich wieder zu Hause in Hamburg war. Ich kam gerade aus der Sauna und hörte die Sprachnachricht meines Stiefvaters auf der Mailbox ab. Er wirkte sehr aufgeregt.

Vielleicht lag es an der typischen Entspannung nach mehreren Saunagängen, aber ich machte mir an diesem Abend und in den darauffolgenden Tagen keine allzu großen Sorgen, denn ich ahnte, dass noch schwierigere Situationen kommen würden.

Aber in diesen Wochen wurde mir bewusst: Jeder Kranke – egal wie häufig er im Krankenhaus Besuch bekommt, wie intensiv er unterstützt wird, wie oft er Anrufe oder Briefe bekommt – ist letztendlich mit der Krankheit allein. Ich habe das immer dann gemerkt, wenn ich die Station nach einigen Stunden verlassen habe. Als ich wieder vor dem Haupteingang stand, habe ich mich noch mal umgedreht und mit meinen Augen das erleuchtete Zimmer in dem großen Gebäude gesucht, in dem meine Mutter lag. Ich wusste, dass sie nicht gern allein war – und spätestens in diesem Moment tat sie mir unendlich leid.

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