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Der Weihnachtsstern
ОглавлениеDabei kamen mir die Umstände sehr entgegen. Es war Ende November, die Vorweihnachtszeit begann, mit den ganzen Terminen, die diese Zeit im Jahr mit sich bringt: Weihnachtsfeiern, Adventsfeiern, Adventskaffee, Wohnung dekorieren, Weihnachtsmärkte, ja, und auch Geschenke besorgen. Irgendwie mag ich diese Zeit, trotz aller Hektik. Trotz der vielen Termine. Vielleicht liegt es daran, dass ich so viele Kindheitserinnerungen an diese Zeit habe: wie mein Bruder und ich Wunschzettel schreiben (wobei nicht jeder Wunsch erfüllt wurde), wie wir mit unserer Mutter Weihnachtsplätzchen backen und den Moment abwarten, in dem sie kurz aus der Küche geht, um heimlich den Teig aus der Schüssel zu naschen. Den Heiligen Abend verbrachten wir meist bei unseren Großeltern im Harz, zusammen mit dem Rest der Familie. Dort lag zu Weihnachten immer Schnee, zumindest in meiner Erinnerung. Und wir fuhren vor der Bescherung immer Schlitten.
In diesem Jahr musste ich an den Feiertagen arbeiten, deswegen schlug meine Mutter vor, uns zu besuchen.
Es war mir wichtig, nach den letzten Monaten, ein ganz besonderes Weihnachten zu feiern. Ich kaufte die Zutaten für das Essen ein, es gab Fondue. Ich suchte ein ganz besonderes Dessert aus, dekorierte die Wohnung so festlich wie möglich und stellte eine Playlist mit traditionellen Weihnachtsliedern zusammen. Ich wollte ein unvergessliches Fest erleben, auch weil mir in einigen wenigen Momenten der Gedanke kam, dass dieses Weihnachten das letzte gemeinsame sein könnte. Doch diesen Gedanken schob ich schnell weg: Es war ja schließlich alles gut – im Moment.
Doch ich spürte auch, dass wir manchmal viel mehr wissen, wenn wir in uns hinein hören. – Wenn wir das wirklich zulassen und uns auch darauf einlassen. Diese Erfahrung sollte ich in den kommenden Monaten häufiger machen – und das hat nichts mit Hellseherei zu tun.
Am frühen Abend gingen wir in den Gottesdienst. Nur wenige Häuser von meiner Wohnung entfernt gibt es eine Kirchengemeinde, deren Gottesdienste sich deutlich von den traditionellen unterscheiden. In der Kirche der Stille gibt es keine Bibellesungen, es gibt keine Liturgie und es gibt auch keine Abkündigungen. Der Schwerpunkt liegt auf der Meditation. Ich finde das Konzept sehr interessant, zumal ich die Weihnachtsgeschichte oft genug gehört habe; ein Krippenspiel von Konfirmandinnen und Konfirmanden vermisste ich nicht wirklich. Statt einer Predigt gab es eine Weihnachtsmeditation. Eine Reise zu sich selbst, in der man seine Freuden und Schmerzen bewusst wahrnehmen sollte. Und auch seinen Atem. Die Pastorin sprach von einem großen Schöpfungsatem, aus dem wir gekommen sind und zu dem wir irgendwann auch wieder zurückkehren. Ich zuckte kurz zusammen und sah zu meiner Mutter rüber. War das jetzt das passende Thema? Sie saß mit geschlossenen Augen neben mir und wirkte sehr konzentriert. Und auch ich fühlte mich auf sonderbare Weise trotz des ersten Schrecks von diesen Worten angesprochen.
Meine Mutter sagte mir nach dem Gottesdienst, dass die Meditation sie sehr berührt hätte, vor allem in ihrer Situation. Ihr hatte diese ganz andere Form, einen Gottesdienst zu feiern, gut gefallen.
Wir gingen zurück und bereiteten gemeinsam das Essen vor. Es wurde ein wunderschöner entspannter Heiliger Abend, mit gutem Essen im Kerzenlicht, Wein und intensiven Gesprächen, die sich an diesem Abend nicht um die Krankheit drehten, sondern um die vielen anderen Themen, die der Alltag und das Leben mit sich bringen. Meine Mutter schenkte mir einen beleuchteten Weihnachtsstern aus Holz, den man ans Fenster hängen kann, sie hatte ihn selbst gebastelt: Sie schenkte mir in diesem Jahr etwas Bleibendes, Individuelles und sehr Persönliches, das sie selbst gefertigt hatte – einen Stern, der mich immer an sie erinnern sollte und der seitdem in der Advents- und Weihnachtszeit auf einer Kommode im Wohnzimmer steht.