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Mondscheinwellen und eine Platzwunde
ОглавлениеAm Wochenende packte ich meine Sachen und fuhr rund 220 Kilometer nach Wolfsburg, zu ihr in die Klinik.
Solang ich mich erinnern kann, habe ich eine chronische Abneigung gegen Krankenhäuser, obwohl ich mehr als zwölf Jahre direkt neben einer großen Klinik in Hamburg gewohnt habe. Wenn ich dort vorbeigegangen bin und mir Patientinnen und Patienten mit ihren rollenden Infusionsständern entgegenkamen, habe ich oft unauffällig die Straßenseite gewechselt, bin der Konfrontation mit schweren Krankheiten lieber ausgewichen.
Ich erinnere mich, wie ich als Kind einmal meinen Onkel in einem Krankenhaus besucht habe. Seine Achillessehne war gerissen; nichts Schlimmes. Die langen Gänge, die sich plötzlich selbst öffnenden Türen, dieser spezielle Geruch … das fand ich damals schon irgendwie unheimlich. Als ich in einem Treppenhaus nach unten schaute, sah ich im Keller einen Zinksarg stehen. Das gab mir den Rest. Ich rannte zu meiner Mutter und umfasste ihre Hand – und ließ sie erst mal für lange Zeit nicht los. Krankenhäuser waren spätestens seit diesem Moment für mich gruselige Orte. Einige Jahre später war ich auf einem Kindergeburtstag eingeladen. Irgendwann in den 80ern war es total angesagt, dass nicht mehr zu Hause gefeiert wurde. Ausflüge in einen Freizeitpark, ins Kino, zu einer Kegelbahn oder sogar zu einem amerikanischen Fast-Food-Restaurant waren der letzte Schrei, Spiele wie Blinde Kuh oderSchokokuss-Wettessen langweilig geworden. Mein Highlight war das Badeland – ein großes Freizeitbad mit einem Wellenbecken. Jeden Abend gab es dort die Mondscheinwellen – das war für mich und meine Freunde das Größte: Während des Wellengangs wurden die Lichter gedimmt und der Bademeister machte einen roten Scheinwerfer an, der – mit sehr viel Vorstellungskraft – eine untergehende Sonne darstellen sollte. Ich staune heute, wie einfach wir damals zu begeistern waren. Ich tobte mit vielen anderen Kindern in dem halbdunklen Bad durch die Mondscheinwellen. Ausgerechnet ich stieß dabei frontal mit einem anderen Kind zusammen. Mein Gegenüber hatte nicht mal eine Beule, ich aber blutete heftig an der Stirn, was vermutlich im roten Scheinwerferlicht schlimmer aussah, als es wirklich war. Der Bademeister kam, sah sich meine Wunde an und stellte fest: »Das muss genäht werden, im Krankenhaus.« – »Nein, ich will nicht ins Krankenhaus!«, schrie ich – ohne Erfolg. Der Kindergeburtstag fand ein plötzliches Ende, die Eltern des Geburtstagskindes brachten mich nach Hause und mein Vater musste mich in die Klinik fahren. Er war wenig stressresistent und schimpfte im Auto ständig mit mir, warum ich nicht besser aufgepasst hatte. Dabei fand ich die Vorstellung, dass ein Arzt mit Nadel und Faden in meine Stirn sticht, schon schlimm genug. Meine Mutter – was für ein Zufall – war zu dieser Zeit selbst in der Klinik, weil sie eine Mandel-OP hatte. In solchen Situationen vermisste ich sie umso mehr, weil ich wusste, dass sie einen kühlen Kopf bewahrt und mich getröstet hätte. In der Nähe der Notaufnahme mussten mein Vater und ich warten, auf einem langen Flur, der – daran erinnere ich mich noch genau – in einem hässlichen braunen Farbton geklinkert war. Auf einmal sah ich meine Mutter im Bademantel um die Ecke kommen. Irgendwie hatte sie von meinem Missgeschick erfahren. Ich rannte auf sie zu – direkt in ihre Arme – und fühlte mich wieder sicher. »Das Nähen tut nicht weh, mach dir keine Gedanken«, sagte sie und strich über meinen Kopf.
Mehr als 30 Jahre später betrat ich nun wieder dieses Krankenhaus, kam an der Notaufnahme vorbei und sah diesen Flur. – Und erinnerte mich an den Kindergeburtstag, die Mondscheinwellen und die Platzwunde. Ich finde es erstaunlich, dass einige Orte Jahrzehnte später bestimmte Erinnerungen zurück in unser Bewusstsein holen – und sei es nur ein braun geklinkerter Flur in einem Krankenhaus. Kaum etwas hatte sich in all den Jahren geändert, aber mir wurde in diesem Moment bewusst, dass sich die Rollen jetzt vertauscht hatten: Ich würde nun für meine kranke Mutter da sein, sie brauchte jetzt meine Unterstützung.